Arbeitsjournal. Montag, der 12. November 2007.

5.55 Uhr:
[Arbeitswohnung. Gluck, Alceste.]
Ich muß ganz schön betrunken gewesen sein >>>> gestern nacht. Erst um fünf hoch, erst um kurz nach halb sechs von drüben hierher weggekommen, wo ich dann den Ofen ausgebrannt finde; d.h. die von mir klappennah gestapelten Kohlen sind gestern gar nicht mehr angebrannt. Das ist die kleine Tücke von Kachelöfen, nach wie vor, daß man eigentlich immer in einer Wohnung sein muß, wenn man sie richtig versorgen will. Sei’s drum, es ist nicht kalt, ich hab eben wieder angefeuert.
>>>> Der Film geht mir nach und nach. Das liegt vor allem auch an dem verwundeten Ausdruck, tief verwundeten Ausdruck, mit dem Isabella Rosselini ihre Rolle spielt, aber auch an dem Ausdruck des zur Zeit der letzten Filmhandlung längst schon dement-gelähmten, sprachunfähigen Vaters (Paul Freeman), dem man, wie er da nahezu bewegungslos im Rollstuhl sitzt, ständig anmerkt nicht nur, daß er später gefoltert wurde, sondern, vor allem, daß er davor seiner eigenen Feigheit ins Gesicht gesehen hat, daß ihm sein gesamtes Selbstbild völlig zusammengebrochen ist: Seine Folter begann nicht in den Kerkern der dann wiederneuen Junta, sonden in dem Moment, als er seine Tochter verriet. Seltsamerweise, ich habe von dem Film geträumt, wachte ich mit einem Orchestermotiv aus >>>> Paride ed Elena auf. Das ist so hartnäckig, daß ich eben >>>> den anderen Gluck eingelegt habe und höre. Was mich wiederum daran beschäftigt, ist, daß neben Paride d e r in mir weiterwirkt, nicht etwa >>>> der Orfeo, den ich zu Anfang von >>>> Zagroseks Reihe so begeistert rezensiert habe.

Ich werd mich gleich an das Zagrosek-Portrait für die Sonntagszeitung machen; erst wenn da die Skizzen gut stehen, werd ich die Kritik zu dem >>>> Kindermusiktheaterstück von gestern schreiben. Mittags kommt hier die Vollstreckungsbeamtin des Finanzamtes vorbei, um zu gucken, ob’s was zu pfänden gibt. Bis dahin sollte ich ein wenig aufgeräumt haben. Ich hab es ja auch für mich selbst sehr gerne, wenn die literarischen Projekte geordnet auf den Tischen liegen.
Guten Morgen. Ich rauche und trinke meinen latte macchiato.

13.40 Uhr:
[Nach dem Mitagsschlaf, aus dem mich die Vollstreckungsbeamtin des Finanzamtes hinausklingelte…]
… so daß ich, kann man sagen, in Unterhosen vor ihr stand. „Moment, ich muß mir was anziehen!“ rief ich allerdings durch die geschlossene Arbeitswohnungstür und konnte dafür ein sympathisches Lachen auf der anderen Seite vernehmen. Also rein wieder in die Sachen, geöffnet, „ich arbeite ab morgens halb fünf, da m u ß ich mittags schlafen“, sie lächelte und war dann insgesamt so sympathisch, wie es das Lachen durch die geschlossene Tür schon angekündigt hatte. „Mögen Sie einen Espresso?“ Wir nahmen jeder einen, ich deckte schnell das zerknäulte Bett ab, setzte mich ihr gegenüber. Und wir plauderten. Sie sah sich selbstverständlich um, „Sie arbeiten viel“, sagte sie. Dann sprachen wir über die alte DDR und mich protypischen Wessi mitten darin, über erhaltene Bausubstanz, aus Geldmangel erhaltener, über Fassaden und Kachelöfen, über meine Hausverwaltung, die stillhält, wenn ich mal wieder keine Miete gezahlt habe, „ich glaube“, erklärte ich, „die m ö c h t e n nicht, daß ich weggeh, sie wissen auch, daß dieser Raum längst ein Literaturort geworden ist, daß er in mindestens drei Romanen eine bedeutende Rolle hat, daß ich zahle, sowie ich zahlen kann“; „Und wenn sie mal zusammenrechnen, auf was Sie in diesem Jahr bislang an Honorar gekommen sind, auf was kämen Sie dann ungefähr?“ – die Zahl war beschämend. „Haben Sie ein Auto?“ „Seit zehn Jahren nicht mehr, obwohl ich g e r n e Auto fahre… aber wozu – in Städten?“ Dann lernte ich ein Wort, das ich ganz unbedingt in einem erzählerischen Text verwenden werde, also sein Gemeintes:

Postmietbehälter.

„Darin schickten wir, wenn wir im Urlaub waren, die schmutzige Wäsche schon mal nach Hause vor, manchmal auch einen dieser schönen runden gebrannten Backsteine mit… die Post hat wirklich tragen müssen…“
Ich sollte meinen Freudeskreis jedenfalls unbedingt um Menschen >>>> dieses Berufsstandes, ob >>>> Gerichtsvollzieher, ob Vollstreckungbeamte, erweitern; ich habe den Eindruck großer Menschlichkeit. Vielleicht hat der Profi recht, der mir vorab schon gesagt hatte, diese Menschen sähen so viel Leid… wobei ich in meinem Fall von Leid gar nicht sprechen mag, da ich in den letzten Wochen von solch anderem, solch wirklichem Leid erfuhr, über das ich hier allein diskretionshalber nichts schreibe… nur von meinem türkischen Gemüsehändler will ich noch schreiben, den ich immer fälschlich ‚türkisch‘ genannt habe, weil er nämlich Kurde ist, und zwar einer von denen, auf die die Auswirkungen der Verfolgung mit brutalster Faust niedergeprallt sind, die ihn bis heute auswringt; er ist sehr schmal geworden und sieht nur noch krank aus. „Ich bin seit sieben Jahren in Deutschland, alles ist mir genommen worden, u n s genommen worden, der Laden, die Sprache, alles… ich bin seit sieben Jahren in Deutschland, aber weißt du, es ist jeden Morgen, als wäre ich erst seit gestern hier, als wäre ich gestern erst geflohen, als wäre ich immer noch d a.“

Ich komme nicht in den Zagrosek-Text hinein, finde keinen Ansatz. Ständig geht auch Mail wegen der Heidelberger Vorlesungen hin und her, der Büchertisch muß organisiert werden, es gibt seltsame Probleme mit den Pressemeldungen, es gibt auch noch Probleme mit meinem Vorhaben, die Vorlesung per Webcam ins Netz zu übertragen. Und und und. Dazu Korrespondenz mit der Uni Innsbruck wegen der poetologischen Einschätzung Der Dschungel wie meines Werkes überhaupt, wobei mich ein mehr als ehrenvoller Vergleich mit >>>> Pietro Aretino, der wiederum >>>> von meinem einstigen Freund Thomas Hettche nachgedichtet wurde, erwischt hat, so schließen sich die Kreise; vielleicht werde ich in einem noch zu schreibenden Beitrag aus dem Innsbrucker Text noch zitieren. Daß Die Dschungel jetzt gleich zweifach archiviert und untersucht werden, hat zur Folge, daß ich einen eigenen Disclaimer formulieren muß, der meine Mitbeiträger und Kommentatoren darauf aufmerksam macht, daß, wenn sie hier in Der Dschungel etwas schreiben, dieses in die Archivierung und anderweitige Publizierung automatisch mit eingeht. Welche Folgen das für Die Dschungel haben wird, ist noch nicht abzusehen. Aber es interessiert mich. Sehr.

2 thoughts on “Arbeitsjournal. Montag, der 12. November 2007.

  1. Postmietbehälter Ja, Herbst, jetzt, da Sie es sagen! Jeden Urlaub wurde (mit ewigem Anstehen bei der DDR-Post – aber diese Tradition wird ja unbeirrt fortgeführt) das, was man nicht unbedingt am ersten Tag brauchte, mit einem solchen Postmietbehälter (viereckiger Karton, sehr stark, über die Größe bin ich mir nicht sicher, weil ich damals deutlich kleiner war als heute) vorangeschickt – und am Urlaubsende ging das so mit der Dreckwäsche. War eine preiswerte (aber selten pünktliche) Sache. Man hatte einfach weniger zu schleppen. – Geschickt wurden da auch gern Sachen, die in der DDR öfter mal Mangelware waren, z.B. Toilettenpapier. Das fehlte hin und wieder in den Läden der Großstädte, mit Sicherheit aber in Urlaubskäffern. Insofern waren die Postmietbehälter auch ein Tribut an DDR-Vorratswirtschaftt.

    Wie konnt ich ihn nur je vergessen?

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