5.06 Uhr:
[Arbeitswohnung. Wilder, Quartett for brass.]
Gestern abend, ich konnte mich nicht lösen, fast vier Stunden Cello geübt, statt >>>> den Littell weiterzulesen, den ich dann d o c h weiterlas, aber zu spät, so daß ich gerade zwanzig Seiten schaffte bis kurz vor 24 Uhr. Aber es treibt mich ja auch niemand. Was das Cello allerdings angeht, muß ich aufpassen, daß ich mir der Fingerspreizungen wegen nicht einen Tennisarm hole; die Sehnen des linken Unterarms schmerzten spürbar. Es ist wie eine Sucht, dennoch immer weiterzumachen. Ich habe das vor Jahren einmal einem Freund gesagt: „Wenn ich ein Instrument spielte, wäre ich wahrscheinlich so autistisch, wie es Glenn Gould war.“ Davon schlägt jetzt ein wenig was durch.
Zu Littell gibt es momentan nicht sehr viel Weiteres zu bemerken, das im Wortsinn unselige Geschehen läuft einfach weiter. Allerdings will ich zu dem Umstand, daß der Autor jüdischer Herkunft ist, noch etwas schreiben, weil ja einzwei Kritiken auch genau darauf angespielt haben. Auch hier ist eine (unbewußt) abgefeimte Weise zu konstatieren, mit eigenen Verdrängungen, bzw. Tabus umzugehen (das Unbewußte i s t raffiniert). Doch das später, es eilt nicht. Ich muß unbedingt diese >>>> ANNO-1900-Texte zuendelesen und eine eigene Idee entwickeln.
Telefonat noch mit W., dem jetzigen auch künstlerischen Orchesterchef des Konzerthausorchesters; er schickt mir, was er an Materialien zur London Resicendy hat, her; nächste Woche wollen wir einen Kaffee trinken gehen. Das will ich mit dem Intendanten dann a u c h gleich tun. >>>> „Thema verfehlt“ (12.24 Uhr, Klammerbemerkung) ist, gemessen an meinen Vorgaben, so absurd, daß ich darüber nicht einmal frotzeln mag.
>>>> Dies allerdings geht mir nach. Wenn man den Kommentar mehrfach liest, bekommt man s c h o n den Eindruck, hier wolle jemand gerne, daß man sich selber versehentlich oder in der argumentierenden Abwehr aufs braune Gleis stellt. Das würde auch gut zu den Vorhaltungen der letzten Woche passen. Solchen Ansinnen kann man einfach nur auf die Finger hauen und m u ß das auch tun; leider geht es nicht persönlich, weil die „Versucher“ selbstverständlich anonym bleiben.
Gut. Bzw. schlecht. Wie auch immer. Die Arbeit ruft. Bis acht Uhr werd ich lesen, dann Cello üben, dann noch eine dreiviertel Stunde lesen und um 10 Uhr zum Frühstücken nachhause radeln. Um 17 Uhr gibt es in der Deutschen Oper >>>> Simon Boccanegra, zu dem der Profi eingeladen hat.
6.27 Uhr:
Dieser eine Text, von >>>> Daniela Danz, lohnt die gesamte Anthologie. Derart großartig ist er. Zwischen ihm und dem Rest liegen Abgründe.
Ich fragte R., was er denn im Einzelnen über Io gedacht habe, und er sah mich an, als hätte er meine Gedanken gelesen: Es verbietet sich für uns, so gern wir es wollen, uns mit den Sterblichen zu vergleichen. Wir sind auf Seiten der Olympier, wir sind die, die austeilen. Wir zerstören die Familien, zerrütten die Ordnungen, setzen Flüchtlingsströme in Bewegung und bringen mit einer Schuld die Ursache der nächsten in die Welt. So sehr wir uns in der wohligen Vorstellung wiegen wollen, wie Io von einem Land ins nächste getrieben zu werden, ruhelos zu sein, weil uns ein fremder Wahnsinn anstachelt, wir sind es nicht, wir sind allenfalls die Bremse, denn das hier ist ein Eroberungskrieg, und wer denken kann, konnte nie etwas anderes darin sehen. Am Tisch war es plötzlich still geworden. Alle Augen waren auf R. gerichtet. Mann, Mann, Mann, welcher Stachel einer Bremse hatte ihn da getrieben, daß er sich derartig exponierte. Inzwischen waren alle Augen auf mich als Ranghöchsten gerichtet. Ich hatte es in gewisser Weise in der Hand und sah nur eine Chance, die Situation zu entschärfen, bevor R. sich mit weiteren Äußerungen in justitiable Gefilde manövrieren würde. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob er die von mir angebotene Möglichkeit zum Rückzug nutzen würde. Vielleicht wußte er es zu diesem Zeitpunkt selbst nicht. Ich mußte also vor allem Zeit gewinnen und ihn davon überzeugen, daß dieses Spiel sein Bauernopfer nicht lohnte. Er wäre weg vom Fenster und alles ginge seinen gewohnten Gang, ohne ihn sogar ein bißchen weniger menschlich. Es war aber nicht auszuschließen, daß er es darauf anlegte – immerhin kurz bevor die ganze Sache kollabierte, denn wir alle wußten, daß es nur auf einen Rückzug hinauslaufen konnte. Mir blieb nur, das Ganze auf eine gegenwartsferne mythologische Ebene zu ziehen, ohne damit R.s Widerspruch zu provozieren. Ja, sagte ich, da haben Sie natürlich durchaus recht, Oberleutnant R., aber ich möchte doch mit Plato antworten, daß wir uns fragen müssen, was denn von dem berichteten Fabelhaften in der eigenen Seele Wirklichkeit sei.
(Daniela Danz, Neunter Gang.)
0.07 Uhr:
Aus der Oper zurück. Eine wahnsinns Musik; ich will morgen darüber schreiben. Jetzt noch ein wenig Cello spielen… was ich so spielen nenne. Aber ich bin überzeugt, daß sich eines der Hauptthemen des >>>> Boccanegras enorm schön auf Cello solo transkribieren läßt. Wie, und ob ich das schon kann… keine Ahnung. Doch, Zweifel. Aber prinzipiell würde es gehen.
Versinken.
„Wenn man den Kommentar mehrfach liest, bekommt man s c h o n den Eindruck, hier wolle jemand gerne, daß man sich selber versehentlich oder in der argumentierenden Abwehr aufs braune Gleis stellt.“
Sehr geehrter Herr Herbst, es ist ärgerlich und verletzend, mit welcher Beharrlichkeit Sie meine Äußerungen dekontextualisieren. Ich dachte eigentlich, Sie seien jemand, der sich aus eigener schmerzlicher Erfahrung mit spekulativen Verdächtigungen zurückhält. Ich kann gut verstehen, daß Sie die Anwürfe der letzten Zeit verbittert haben, habe aber kein Verständnis dafür, daß Sie mit mir nun dasselbe tun. Für mich ist ihre neue Nazijäger-Pose besonders enttäuschend, weil ich eigentlich dachte, mit meinen Äußerungen auf dem Boden Ihrer Poetologie zu stehen, sonst hätte ich sie nicht hier eingestellt. Ich verüble es Ihnen nicht, wenn Sie diesen Kommentar in den „Anti-Herbst“ stellen, möchte Ihnen aber versichern, daß ich mich dort sehr unwohl fühlte und dies meiner Einstellung Ihrer Dichtung gegenüber nicht entspräche. Ich konnte nicht ahnen, daß Sie sich so an dem Wort „kleingeistig“ stören, nachdem ich den Heroismus des Bösen und vergleichbare Deutungsmöglichkeiten meines Kommentars ausdrücklich ausgeschlossen habe. Ich bitte Sie um Entschuldigung für diese Gedankenlosigkeit in der Wortwahl.
Wenn Sie nach den weiteren erläuternden und korrigierenden Ausführungen, die ich inzwischen gab, immer noch Zweifel an meiner Gesinnung hegen, lassen Sie mich dies bitte mit genauer Angabe der Gründe dafür wissen; ich werde gerne versuchen, meinen Standpunkt noch genauer darzulegen. Zur Anonymität: Sie haben doch sicherlich Einsicht in meine e-mail-Adresse, die Auskunft gibt über meinen vollen Nachnamen, die Initiale meines Vornamens und die Institution, an der ich mich beschäftige; sollte das nicht genügen, bin ich gerne bereit Ihnen persönlich meinen vollen Namen, meinen derzeitigen Status, meinen Lebenslauf, Zeugnisse meiner Nachbarn über meinen rechtschaffenen Lebenswandel, oder was Sie sonst noch verlangen, mitzuteilen. Herzliche Grüße A.H.
@Alderich Haschemuth. Nun müssen wir zeitliche Mißverständnisse ausräumen. Was Sie hier monieren, wurde – wie aus der Uhrzeit unschwer zu ersehen – einige Stunden vor >>>> Ihrer Replik, sowie wiederum >>>> vor meiner Antwort darauf geschrieben. Geht man dem in meinem Arbeitsjournal-Eintrag gelegten Link nach, wird die Abfolge auch durchaus deutlich.
Was Ihre Email-Adresse usw. angeht, irren Sie; ich habe da keinen Einblick, könnte ihn aber über den Provider im Zweifelsfall, der ein rechtlicher wäre, bekommen. Darum nachzufragen, hat es für mich bislang keinen Anlaß gegeben, und es gibt ihn noch immer nicht.
Jetzt waren unsere Verletzungen wechelseitig, so sollen es auch die Entschuldigungen sein. Es geht hier um ein höchst prekäres Gebiet, da kann man hintreten, wohin immer man will: man wird zumindest schmutzige Füße bekommen. Im übrigen sitze ich bereits an einem weiteren Littell-Notat, das Ihre Grundfrage noch einmal in einem eigenen Text aufnimmt.
Verzeihen Sie bitte, das war jetzt wirklich dumm von mir. Ich werde mir solch einen blöden Schnellschuß nicht noch einmal erlauben. Die Chronologie der Lektüre mit der Chronologie der Erzählung dort zu verwechseln, wo alles auf die Minute genau dokumentiert ist! Was für ein Anfängerfehler! Ich hoffe, Sie ärgern sich nicht allzu sehr darüber. Bitte glauben Sie mir meine Zerknirschung.