Der Geiger. 27.05.2008. Paul Reichenbach im Zauberberg.

Ich will dem Tod keine Herrschaft einräumen
über meine Gedanken.
Die Liebe ist stärker als er.
(Thomas Mann „Der Zauberberg“)

>>>>Die Künste sind keine Krücken zur Lebenshilfe, sie beanspruchen Autonomie. Den unsichtbaren Faden, der sie mit der Realität oder dem eigenen Leben verbindet, muss man schon selbst spinnen. Das schrieb ich vor ungefähr einem Jahr im TB. Und doch gibt es Kunstwerke, Bücher, die einen in manchen Momenten, hat sie man sie denn parat, gleich ob als Soft oder Hardware, ob im Gedächtnis als Erinnerung oder im Regal in Buchform gespeichert, Hilfe sein können. Lebenshilfe, Überlebenshilfe. Es war im Mai 1980, als Paul vom Luftholen kam und seine Zelle betrat, wo ihn ein neuer Haftkamerad, grauer Bart, gekräuseltes Haar und mit nur einem Hoden, wie sich später herausstellen wird, begrüßte. Ein Geiger des ansässigen Sinfonieorchesters, wäre er und hätte mit seiner Geliebten, einer dunkelhaarigen Sängerin vom Chor, nach dem Westen abhauen wollen. Und dies alles sei doch ein großes Missverständnis, denn eigentlich habe er doch nur vor seiner Frau fliehen wollen. Mir blieb mir doch nur der Westen, setzte er hinzu und ergänzte, dass die Frauen schon immer sein Unglück gewesen sind. Das werden DIE garantiert verstehen und morgen sitze ich wieder am Pult. DIE verstanden natürlich nicht, obwohl das Strafmass, betrachtet man andere, ähnliche Fälle, mit 16 Monaten relativ mild ausfiel. 8 Wochen lebten Paul und der Geiger in dem engen Raum zusammen, dessen Grundausstattung an Freiheit zwei Holzpritschen, Matratzen, ein an die Wand geschraubter Tisch war, und über dem ein kleines, einfaches Bord hing. Der Mann war verzweifelt, dass er durch die Lage in die ihn seine Frauen gebracht hätten seinen SKODA FELICIA nicht würde bekommen können, den er ja 12 Jahre zuvor bestellt hatte. Mehrmals am Tag brach er in Tränen aus, die Paul mit Geschichten und Geschichtchen einzudämmen versuchte. Eine Geschichte handelte vom Narren und Tropf Castorp, der auf dem Zauberberg sich selbstverliebt hatte einlullen lassen. Die etwas einseitige Liebesgeschichte zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat bauschte Paul ins Sexuelle auf, was dem Mann Skoda und Frauen sofort vergessen ließ. Landschaftsbeschreibungen wollte er keine hören, einzig der Verlauf vollzogener Akte, die es im Zauberberg gar nicht gibt, machte ihm die Augen glänzend.

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