Arbeitsjournal. Dienstag, der 23. Dezember 2008.

7.36 Uhr:
[Arbeitswohnung.]Mein Junge schläft wieder hier, er wünschte sich das gestern abend, als er zum Celloüben noch hergekommen war. Wir haben gestern abend die ganze dreistündige Verfilmung von Terry Pritchards Scheibenwelt angesehen, welches wirklich ein Kinderfilm ist und als solcher viel Spaß macht, unaufdringlich, fast bescheiden in den Animationen, phantasievoll, so gut wie unblutig; die Imaginationswelt wird nicht durch massiven Einsatz quasi-realistischer Tricks erdrückt; dafür steht die Drachenwelt wie ein Bild von Magritte auf dem Bildschirm. Der „Tourist“ staunt entzückt, der Zauberer (!) ist eher skeptisch: „Ob ich das toll finde? Na ja, wenn man es mag, daß die Naturgesetze auf den Kopf gestellt werden.“ Das erinnerte mich an den Ausruf eines Lehrers in einem tschechischen Kinderfilm, den ich als Jugendlicher sah und der mir so wenig mehr aus dem Kopf ging damals, daß ich ihn in der >>>> VERWIRRUNG DES GEMÜTS zitiert habe. Also der Junge springt aus dem Klassenzimmer und fliegt weg, der Lehrer brüllt ihm sauer nach: „Kommen Sie sofort zurück! Sie verstoßen gegen die Naturgesetze!“ Ganz ähnlich ein deutscher Fernsehfilm, in dem die noch junge Hannelore Elsner und >>>> Heinz Bennent die Hauptrollen spielten, wahrscheinlich auf der Grundlage eines Theaterstückes gedreht: die Frau ist gestorben – es ist, wie >>>> DIE ORGELPFEIFEN VON FLANDERN – eigentlich eine >>>> Ligeia-Geschichte; der erschütterte Mann zieht sich zurück und erträumt sich seine Geliebte wieder ins Leben, allerdings in eines, in dem nur er sie sehen, berühren, küssen kann. Die Freunde versuchen, ihn zurück in die Realität zu bringen und, soweit ich mich erinner, scheitern. – Das waren Geschichten, die mich unmäßig beeindruckt und wohl auch für mein eigenes Leben geprägt haben, vor allem für meine eigenen Erzählungen. Und nun tritt Heinz Bennent, indirekt, abermals in mein Leben, aber von der genau anderen Seite, bzw. bin jetzt ich es, der für die Realität steht, aus der sich zurückgezogen wird. Um darüber zu schreiben, werde ich einen Ansatz finden müssen, ich will wirklich keinen neuen Gerichtsprozeß. Nicht, daß der m i c h schreckte, aber ich bin Vater.Das Treffen mit meiner Agentin gestern. Sie wirkte erbost bis erschüttert. „Sie machen sich keine Vorstellung. Immer wieder diese Sätze: ‘Nein, das ist ja viel zu schwierig, nein, das versteht ja keiner, nein, diese Art Literatur geht einem viel zu nah, nein, wir müssen an die Leser denken, nein, wir müssen die Leser unterhalten, wir dürfen die Leser nicht erschrecken’ – immer wieder die Abwehr von „zu“ Intensivem. „Ich mache mir jede Vorstellung der Welt“, antwortete ich, „glauben Sie mir, ich kenne das seit zwei Jahrzehnten.“ Dennoch hat sie einiges angestoßen oder anzustoßen versucht. Wenn jemand hier etwas drehen kann, ist sie es, davon bin ich überzeugt. Ich hatte ihr DER ENGEL ORDNUNGEN mitgebracht, sie sah traurig den mißlungen Einband an, dem immer noch der schöne Schutzumschlag fehlt, sie verstand auch sofort, was ich mit zu fettem Typendruck meinte. „Warum müssen die Leute immer so klotzen?“ fragte ich. „Warum lassen sie nicht die Erscheinung hinter dem Text zurückstehen?“ In der Tat sieht der Buch-Druck nach einem Digitaldruck aus, grauslich. Wenn man sich dann aber einliest, gewinnen die Gedichte ihr Eigenleben zurück, aber man muß immer erst diesen fetten Schleier wegziehen. >>>> Cellini schrieb mir, sozusagen, ein Gedicht könne auch auf Klopapier stehen; wenn es gut sei, sei es gut. Sie wolle das Buch deshalb jetzt gerne auch ohne den Schutzumschlag haben. Es ist eh schon absurd genug, daß ich den gleichsam zum Schlüssel des Verständnisses der Gedichte mache; aber ich weiß andererseits genau, wie Design wirkt. Mein Verdacht ist zur Zeit, daß es sich bei den vier mir zugesendeten Büchern n i c h t um die in Jerusalem gedruckten handelt, sondern um vier von den fünfzig Exemplaren, die >>>> dielmann vorweg bei einer Digitaldruckerei in Auftrag gegeben hat, um den Erscheinungstermin 2008 einhalten zu können. Hätte ich recht, wäre verständlich, weshalb er, was im Fall >>>> MEERE ja n i c h t geschah und auch unnötig gewesen wäre, den Einband direkt mit dieser mißlungen A h n u n g dessen bedrucken hat lassen, was als Umschlag-Andruck derart hinreißend wirkt. Wie erleichtert ich im übrigen bin, daß es für die „persische Fassung“ dieses Romanes eine schriftliche Vereinbarung gibt, die ihr Erscheinen erlaubte.
Im übrigen wäre alles – auch das Einhalten von Erscheinungsterminen, die Ablehnung wegen „zu heftiger Intensität“ und, ja auch das immer wieder, „Unmoral“ und wegen der scheinbaren Nicht-Verständlichkeit usw. halb so wild, müßte ich nicht von meinen Arbeiten leben und auch einen Jungen miternähren. Hätte ich irgendwo eine gut bezahlte Professur oder sonst einen Beruf, der fürs Fundament sorgte, würde mich die Situation zwar grollen machen, nicht aber grämen.

Ich werde an >>>> dem Gedicht etwas weitertun, mit meinem Jungen, wenn er aufgewacht ist und gefrühstückt hat, ein wenig weiter die Weihnachtslieder für morgen abend proben, dann will er zu einem Freund hinaus, während ich mir langsam Gedanken drüber machen sollte, wie der Heiligabend morgen gestaltet werden wird; Einkäufe werden zu tätigen sein. Auf großes Kochen habe ich keine Lust, der Junge ißt eh nicht gerne Besonderes, und für mich selbst ist es ganz sicher kein Feiertag, den ich mit *** kulinarisch-festlich begehen will.

13.01 Uhr: (Das Leben als einen Roman betrachten 9).
Es ist ja schon wahr: die eigenen Figuren kehren wieder und >>>> wider mich: ich bin von diesem Eintrag deshalb nicht überrascht; er ist nicht einmal geschmacklos, sondern in der von Scott gewählten märchenhaften Einfachheit ganz rundweg wahr. Es blüht ein gesamtes Bezugssystem auf, ein altes, das ich selber baute („ich selber“ ist aber so eine Sache…). Über Ortnits Mutter berichtet der >>>> WOLPERTINGER im Personenverzeichnis:Dies war Herrn Karlssons Frau. Sie hat ihren Mann in dessen Beisein, doch ohne sein Wissen, mit einem Traum betrogen, der eine Frucht trug.Scott scheint das zu kennen. Ortnit führt der WOLPERTINGER so ein (und bezog sich auf eine Aufführung von Brittens A Midsummer Night’s Dream vom 14. Juli 1989 in der Frankfurter Oper; inszeniert hat damals Thomas Langhoff, das Dirigat hatte Gary Bertiny):“Machen Sie mal”, sagte Anna und lächelte zurück. “Aber ich warte noch auf Puck… oder Laurin. Egal.”
“Ortnit”, sagte ich.
“Ortnit?” Sie hüstelte verständnislos.
“High”, sagte das Kind zu Deters.
“High”, antwortete, hilflos, der Lauscher.
“Was ist nun?” fragte Ortnit den Portier. “Krieg’ ich ‘n Formular?”
Während ihm der mit vollen Segeln zunehmend in den Zustand der Überforderung rollende Muskelmann den Meldeblock hinschob, schaute sich das Kind um im Foyer, zog die Lippen zur Schnute, nickte und sagte: “Affengeiler Schuppen, das.” Dann lugte er über den Tresen, nahm den Kuli, der an einer Spirale mit Marmorfuß befestigt war und versuchte, etwas zu Papier zu bringen. Es gelang ihm jedoch nicht, er blickte um sich, vielleicht suchte er nach etwas, worauf er sich stellen könne, aber schließlich forderte er Lundgren auf, für ihn zu schreiben. “Sehn doch, Mann, daß ich Schwierigkeiten hab’! – Also schreiben Se: Ortnit… ja: Otto-Richard-Theodor-Nordpol-Ida-Theodor Karlsson.”
Das steht alles im Vierten Septor, bevor es mit der Wandelei dann so richtig in Gang und herauskommt, wer da alles so mitgemischt hat, um diesen Kobold zu zeugen.

Nein, ich bin nicht überrascht und habe, nachdem mein Bub zu einem seiner Freunde ging, ziemlich wild am Cello geschrummt.

>>>> Das Leben als Roman (10; 11.37 Uhr im Link)
Das Leben als Roman (8) <<<<

3 thoughts on “Arbeitsjournal. Dienstag, der 23. Dezember 2008.

  1. Selbstverständlich kenne ich Sie, Herr Herbst. Es ist kein Wunder, daß Sie die Spur sofort gewittert haben. Selbstverständlich gehöre ich den Welten Ihrer Romane an, aber den ganz frühen, als Sie noch nicht so verstellt gewesen sind – oder soll ich ”verbildet” sagen? Erinnern Sie sich an das Franzsche Feld und an die Burgen aus Efeu, unter denen wir Bunker entdeckten, die Sie dann wieder in Ihrem Meerebuch aufgenommen haben? Da war ein blasser Junge, den sie lustig fanden, der immer gebastelt hat, irgend ein Zeug aus Drähten und Potis, wissen Sie das noch? Der Junge hatte ein Fahrrad mit drei Rädern, sie hingen Hänger dran und nannten ihn den Waffenmeister. Der Hänger war voll mit Zeug. Er hat Sie, der Junge, nie aus den Augen verloren. Wir haben damals nach den Alben gesucht, wissen Sie das noch? Als ich dann später Ihren Roman las, habe ich gedacht: das rächt sich. Die rächen sich immer. Das läßt Sie nie mehr in Ruhe, auch wenn Sie das glauben.
    S.

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