Zweites Weihnachtsjournal 2009. Sonnabend, der 26. Dezember. Mit Mahler VIII unter Solti.

7.01 Uhr:
[Am Terrarium. Brahms, Zweites Klavierkonzert.]Bin nun d o c h nicht mehr in die Arbeitswohnung hinüber, gestern, hab nun d o c h nichts mehr getan, außer hierzusein, mit den Kindern zu sein, Vater zu sein, auch etwas zu lesen (Eigner brachte >>>> Leopold Federmairs, der >>>> in der neuen VOLLTEXT einen ziemlich guten Aufsatz über Roberto Bolaño publiziert hat, >>>> neuen Erzählband mit. Schöne ruhige Prosa mit einer leichten Neigung zu fantastischen Sujets, auch wenn mir seine Borges-Erzählung dann doch immer ein bißchen zu deskriptiv bleibt, d.h. ohne Geheimnis). –

… und eben kommt mein Windpocken-Zwillingsbüblein, als erstes der Kinder erwacht, lächelnd über die Schwelle der Wohnzimmertür. Hab erstmal seine Pocken mit der Salbe versorgt, der Bub ist gut drauf dabei, jetzt nuckelt er seinen Kakao, bei dessen Zubereitung er gleich nach der Schmier-Aktion durch Zuschauen assistierte. Mein Immunsystem hat mit den Windpocken bislang, übrigens, ziemlich gut Tennis gespielt: die Virenbälle gehen immer prima an den Aufschlag zurück.
Und Brahms läuft. Die Nacht hab ich mit allen Kindern verbracht, auch Du, mein Sohn, mochtest gerne bei uns schlafen; so schliefen wir zu viert in dem großen Bett; nur लक schlief allein. Mir ist ein Zusammenhang aufgegangen zwischen der Klage, daß der je andere schnarche, weshalb man selber nicht schlafen könne, und dem Versiegen des Begehrens. Ich glaube, dieser Zusammenhang ist radikal und prinzipiell. Irgendwann später formliere ich ihn in ein >>>> Paralipomenon, eben, w e i l er radikal und prinzipiell, vor allem aber irreversibel ist: er geht alle Paare an, er geht die-Liebe-als-Konzept an. Dabei spielt Absichtlichkeit in keinerlei Weise (mehr) eine Rolle, sondern auch hier wirkt, wenn auch in einer seiner mitprofansten Formen, Schicksal: Schicksal als Gewöhnungs-Zeitlauft. Wenn man das begreift, kann man’s akzeptieren, wird der Schmerz darüber mild. Und abermals >>>> Manfred Hausmanns wunderbares >>>> Gedicht um Barmherzigkeit, das mir, je älter ich nun werde, um so wichtiger und näher wird: wie eine Grundierung, die ich gerne unter mein Leben zöge. Wenn man jedenfalls auf den sexuellen Rausch nicht verzichten, wenn man sich weiterhin ausleben will, wird man damit umgehen lernen müssen (und am besten: es wollen), daß wir alle, ich sag mal: Mehrfach-Binder und mehrfach Gebundene sind; „mit leichter Hand”, wie >>>> die Marschallin sagt (eine der größten Frauen, nach wie vor, für mich); s i e sagt: „wer nicht so ist, den straft der liebe Gott”, ich sage: der wird bitter.
Früher, so um die Dreißig, dachte ich mal: mein literarisch durchlaufendes Thema sei Identität; unterdessen weiß ich, daß Ambivalenz es ist; und nun kommt immer stärker hinzu: wie (er)schaffe ich gute Balancen. Daß das „lebensphilosophisch” ist, weiß ich selbst: Die Ferne ist es nicht und nicht die Nähe./Ach, immer lebt das Innigste allein. Meine Begegnung mit Hausmann in seiner Villa an der Oberweser Blumenthal, damals, als ich achtzehn war, bekommt jetzt ebenfalls etwas „Schicksal”haftes, Schicksal allerdings in seiner milden, ich möchte fast sagen: „vergebenden” Gestalt. Und ich ahne, daß der damals schon alte, auf hochvornehme, seltsam weise-distanzierte Art gläubige Mann das gewußt hat, als er mich einlud. Ich habe nie wieder einen so hellen Mann getroffen, er leuchtete fast… na gut: glomm, aber hell eben, nicht rötlich, nicht rot.

Am Cello bin ich gestern wieder gewesen. Werde ich auch heute wieder sein. Was sehr guttut. Und mittags dann will ich in die Arbeitswohnung hinüber, um den Steuerkram – in beiderlei, auch dem bissigen Sinn: – fertigzumachen.

8.37 Uhr:
[Brahms, Erstes Klavierkonzert.]
Nun liegen alle drei Kinder hier auf der Couch und schauen in den leuchtenden Baum. Auf dem Balkon, vor dem Balkon, über Berlins stürmt es. Die ganze Nacht über pfiff und heulte der Wind. Jetzt fährt die Stadtreinigung herum, jetzt fegen die Reinigungsleute den Rollsplit von den Straßen und Gehwegen; es ist warm geworden, fönig. Wollt ich noch hinzugeben. Und daß >>>> der Knotscher jetzt >>>> bei June zu finden ist.

15.54 Uhr:
[Arbeitswohnung. Mahler, Achte Sinfonie.]
So, die letzte Hand an die Steuererklärung legen. Dazu Mahler VIII. in meiner ersten Einspielung, Vinyl, Solti, mit Kollo, Popp, Auger, Minton, Watts, Shirley-Quirk und dem CSO. Bis heute, mit Recht, legendär, auch im Klang dieser Decca-Pressung von 1972; siebzehn Jahre alt bin ich damals gewesen, und die Schallplatten haben nichts an Klang und Aura verloren. Allerdings gebe ich zu, daß man, um es z hören, meine Anlage haben muß, Boxen vor allem, die den Klang nach hinten legen: wenn man die Lautsprecher anschaut, während sie klingen, darf man nicht merken, daß der Klang aus ihnen kommt; er muß aus der ganzen Wandbreite hinter ihnen kommen, als wäre dort Raum. Meine mittlerweile über 25 Jahre alten ProAcs sind so gut, daß nicht einmal die Stax-Kopfhörer mitkommen; keine Ahnung, ob heute, im mp3-Zeitalter, so etwas überhaupt noch gebaut wird.
So, die letzten Zahlen eingeben, die Formulare ausdrucken und ausfüllen, dann das Anschreiben formulieren, das die Erklärung ans Finanzamt eröffnen soll. Infirma nostri corporis…

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