Vladimir Soukup trifft Sherlock Holmes. Arbeitsjournal. Dienstag, der 20. April 2010. Abschied von der Heimat.

6.46 Uhr:
[Soukup, Bläserquintett.]
Auf diese Musik kann ich nicht verlinken, denn jpc kennt Vladimir Soukop nur als Autor eines Reiseführers durch Prag, nicht als Komponisten… ah nein! d e r heißt Soukop, nicht Soukup. Ich kannte ihn freilich selbst nicht mehr, sowas kommt vor. In meinen Zwanzigern kaufte ich LPs oft vom Grabbeltisch weg, so auch, seit ich vierzehn oder fünfzehn war, meine Literatur; was zu 99 Pfenigen auf den Grabbeltischen lag, hat meine Ästhetik sehr geprägt: Louis Aragon, Miodrag Bulatovič, Uwe Dick, alles bei Heyne, mein erster Borges. Geld hatte ich ja nie, von diesen fünf Brokerjahren abgesehen, aber die kamen erst viel später. Auch Schallplatten also auf den Grabbeltischen, in aller Regel um fünf Mark. Meine erste Begegnung mit Gustav Mahler: Bruno Walter/CBS; deshalb las ich dann Jean Paul, Sie wissen schon: der Titan. Eigentlich bin ich über Musik zur Literatur gekommen. Na, ganz stimmt das nicht. Doch ist etwas daran. Ich griff nach Namen, die ich nicht kannte. Und dann stellt man Jahrzehnte später den Stenhammar zurück in die Plattenreihen, die Scheiben sind eng aneinandergepreßt, ein bißchen Geziehe, schon zieht es andre Platten mit raus. Nun den Soukup. Die Trompetensonate, jetzt, ist schön: eine luftige, im Nocturne jazzmeditative Musik, auch das Allegro ist unaufgeregt klazzistisch. Entindividiert aber, weshalb man das vergißt dreißig/vierzig Jahre lang. Und dann erstaunt wieder anhört. Für manche Musik braucht man Lebenserfahrung. Erst da weiß man.
Nein, kein guter Tag war das gestern. „Du wirst doch wirklich keine Meisterschaft auf dem Cello mehr erlangen”, sagte nachts die traumsackschwere Löwin, als ich sie, >>>> von der Bar zurückkommend, noch einmal weckte, weil das so verabredet war und ich wußte, daß ihr Unbewußtes darauf auch wartet. „Danke, daß du mich aus diesem Traum geholt hast”, sagte sie, war aber kaum zu verstehen, so schlafschwer auch die Lähmung ihrer Lippen, „es war nicht schön, das. Hast du den Profi gegrüßt?” „Brauchst du Geld?, hat er mich gefragt, ich habe abgewunken, er hat die Frage wiederholt, ich habe gebitterlacht, er hatte schon zwei Fünfziger in der Hand, steckt sie mir im Schatten des Tresens zu, es komme gleich noch ein Freund, der müsse das nicht sehen.” „Freunde”, sagte die Löwin, und ich: „Jetzt sind wir beide traurig.” Ich trank zwar, aber ich kippte mich nicht voll, anders als ich mir das vorgenommen hatte, nachdem der Tag so gelaufen, wie er war, gelaufen war. Die Trennung von >>>> Dielmann tat mir weher, als ich nach allem Vorhergegangenen noch angenommen hätte: als wär’s ein Stück von mir, das nun den Weg der Makulaturen geht. „Quatsch, Makulatur!” rief UF aus. „Ich will den >>>> WOLPERTINGER nicht zerschreddert sehen! Dielmann soll sagen, wieviele Bücher er noch hat, dann ein Übernahmeangebot machen. Ich hab hier Lagerraum genug.” „Freunde”, sagte die Löwin, „ich bin wohl auch noch da: vergiß das nicht.” Aber man spürt, daß Soukops Musik nicht eigentlich groß ist, sie ist nur gut – als wäre das nichts! Herbst, bitte, sei gerecht. Wikipedia >>>> führt ihn nur als Name auf. Ein Vergessener, ganz offenbar. Schaut man etwas länger durchs Netz, findet sich, daß er offenbar auch Filmmusiken geschrieben hat; einige Movie Data Bases kennen seinen Namen. Vergessen sein. So daß, daß mich der >>>> Herr Ch. Schlesinger einen „verklemmten Typen” nennt, der seine Gefühle nicht zeigen könne, wirklich Witz hat, das muß man sagen, das muß man vor allem verlinken. Sowas muß wirklich erhalten bleiben, zumal nachdem ich, wie schon öfter, >>>> Syberberg zitiert und auch zu ihm einen Link gelegt habe.

Die Plattenseiten, beide, sind abgespielt. „Moderne tschechische Kammermusik”, Top Classics, Stereo 331/3, es backt das Preisetikettchen noch drauf: 2,– in Rot, das waren noch DMark. Soviel zur Erinnerung.

>>>> Cellinis Nachterzählung klingt wie der Bericht, den die gouvernante Mandantin aus >>>> The Turn of the Screw in Holmes’ Arbeitsraum erstattet, während der Detektiv im Schlafrock und mit, weil er gerade aus dem Bett kommt, Wuschelhaar in seinem Sessel sitzt, dabei aus dem Persischen Pantoffel Tabak in die Pfeife stopfend, die ich gerade rauche, ja sie klingt, als hätte die eingeschüchterte Dame, die, anders als Cellini völlig waffen- und kampffremd, den Weg in Holmes’ Höhle gewagt, worin sie sich jetzt mit den Blicken an den bürgerlichen Wänden festhält, die die Gestalt des Dr. Watson angenommen haben, Holmes selber gesehen – in seiner Stallburschen-Verkleidung vor Adler, Irene – ah! I r e n e..! – : „Sirene”, sagte leise Jost und „Wie? Das hast du nicht gewußt?” Selbst bei Conan Doyle fällt mir das erst jetzt auf. Dabei lag es so nahe, zumal im victorianischen Roman. „Aber in der Literatur hast du alles erreicht, allen Stil, alle Formen, und kannst sie jetzt nutzen”, sagte die Löwin weiter, fast schliefen wir beide da schon: ich endlich, sie wieder. „Das mußt du ausbauen, fortsetzen, da ist dein Platz.” „Aber es ist”, sagte ich, „als hätte ich meine eben erst wiedergefundene Heimat wieder verloren. So war es, als ich das Cello bekam und damit begann: Ich hatte das Gefühl, ich sei nach Jahren des Irrens Zuhause angekommen. Literatur ist mir so n i e Heimat gewesen.”

Doch ist der Fall, was der Fall ist. Vielleicht haben viele Menschen deshalb mit meiner Arbeit solche Schwierigkeiten, weil sie von der fortdauernden Unbehaustheit erzählt und nicht die Ruhe kennt, in der einer sich in den vier Wänden, in die er gehört, einfach nur zurücklehnt und atmet. Auch die Erinnerung, gerade die Erinnerung, ist diese vier Wände nicht. Es gibt in meinen Texten keine Madeleines, und es gibt >>>> keine Hütten friedlicher Menschen. Nur eine Suche, in der, was sie zwar kurzfristig findet, doch immer gleich wieder zerfällt.

9.10 Uhr:
Überhaupt hat der Herr Schlesinger ja ein Problem mit mir, ich meine: so, wie alle, die mit mir Probleme haben, sie imgrunde mit sich selbst haben. Es ist schon klar, daß ich Projektionsfläche bin, was etwas anderes ist als ein Identifikationsmedium, es bleibt ja immer eine Fremdheit, die manchmal sogar abstößt, dennoch aber immer wieder hierherlockt. Für manche bin ich das Maß, in das sie ihre Schlechtigkeiten einfüllen können: endlich ein Ort dafür! Das macht süchtig, auch das weiß ich. Ich bin zugleich der Übertreter-anstelle-von. >>>> Eigner, der nie ins Netz geht, aber sich gestern als word-Datei >>>> mein Journal schicken ließ, das er dann ausgedruckt auf Papier las – es war das erste Arbeitsjournal, das er überhaupt je zur Kenntnis nahm -, war überrascht: „Plötzlich sind da diese Bilder! Ja, das ist Literatur. Nicht meine, mir ist das zu exhibitionistisch, du z e i g s t ja die Wunden offen hin, in die die Leute dann reinstechen können – aber Literatur zweifellos. Das Ineinandergleiten der Ebenen, die Verstellungen, die zu Romanfiguren umgeformten Menschen, auch du selbst… das kann ich verstehen, daß so etwas süchtig machen kann. Jetzt verstehe ich auch, daß es Literatur ist und nicht nur Gerede… das ist vollkommen durchgeformt.” Wobei ich zum Exhibitionismus eine andere Position habe als er, ich halte, was ich hier schreibe, nicht für Exhibitionismus. Ich renn ja nicht in Parks rum und zeige meinen Schwanz, wozu ich den Mantel flügeln lasse, sondern betrachte Privatheit: was ist sie?, wem dient sie? usw. „Vor allem”, sagte die Löwin, „nennst du Namen. Das ist eine ständige Anstößigkeit, daß sich die Leute dazu verpflichten sollen, zu dem, was sie denken und tun, auch öffentlich zu stehen. Sie wollen das unbemerkt tun, ungefährdet, sie wollen keine persönlichen Konsequenzen – wie weit das geht, führst du ständig vor, indem du s i e dazu bringst, es vorzuführen.” „Es gibt einen Satz André Hellers, der mich beschäftigt und geprägt hat, ich war damals zwanzig: ‚Ich will mich zugeben.’ Ich will – auch und gerade vor mir selbst – nicht verschleiern, was ich bin… was w i r sind”, antwortete ich. „Wenn man das abstrakt unter ‚der Mensch’ befaßt, ist damit gar nichts gewonnen, sondern Erkenntnis kommt erst zustande, wenn man, wie Syberberg tat, nach dem Hitler in u n s fragt, anstatt, wie politisch auch immer, zu rationalisieren.” „Deshalb ist die Dschungel ein Kunstprojekt.” „Eben. Abgesehen davon, daß, wäre es Exhibitionismus, der Lustgewinn größer wäre, als mir die Kommentatoren vorausseh- und nachlesbar gestatten. Wodurch wiederum klarwird, wie lustfeindlich die meisten sind. Da sind wir dann wieder beim >>>> Thema von gestern. Es gibt eine sehr deutsche Lustfeindlichkeit, die ein Hitlersieg ist. Man hat geradezu den Eindruck”, sagte ich dem Profi nachts in der Bar, „man habe den alttestamentarischen Fluch über d i e bis in das siebte Glied verinnerlicht, um zu büßen – ein furchtbarer, racheblinder Fluch, der die Tat von den Tätern ablöst und als Schuld auf die Unschuld überträgt, g a n z mies im Schulterschluß mit der sowieso inhumanen Idee der Erbschuld. Die ist nicht ohne Faschismus; Hitlers Endsieg-Idee stammt ja direkt aus der JohannesOffenbarung. Anstelle sich dagegen zu wehren aber, entschieden und klarer Stirnen, weicht man aus, schlechtgewissig von der Sozialisation mittels Schuld, und sucht die Erlösung in der vom Markt dafür bereitgestellten Massen-Unterhaltung. Goebbels’ Durchhaltefilme haben nicht anders funktioniert. Es ist ein riesiger, gesellschaftlicher Verdrängungsprozeß, dessen Kraft, die aus der unbewußten, weil eben verdängten Not stammt, die industrielle Maschinerie antreiben läßt und zugleich von politischen Interessen höchst mächtig kanalisiert wird. Das Ergebnis ist komplette Lenkbarkeit. Wenn Leute wie Syberberg, Botho Strauss, auch Peter Handke sich da querstellen, ist der Skandal sofort da – bei mir nur deshalb nicht, weil ich deren Bekanntheit nicht habe. Dennoch gelingt es selbst dort, sie wegzusondern. Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob sie recht oder unrecht oder halbrecht haben, die Thesen selbst werden inhaltlich gar nicht erst diskutiert, sondern ideologisch als schwerer Tabubruch verurteilt. Es gibt Fragen, von denen nicht gewollt ist, daß man sie stellt.” Und leckte das Salz vom Rand meines luxuriösen Honorars, das gestern Margarita war und ein Prince of Wales.

Ich werde heute den nächsten Erzählband so zusammenstellen, daß die >>>> Kulturmaschinen ihn, zusammen mit >>>> Selzers Singen, als Typoskript an Rezensenten schicken können. Das muß schnell geschehen, sonst ist es auch fürs Herbstprogramm wieder zu spät. Und um die BAMBERGER ELEGIEN will ich mich kümmern: Telefonate, dann ein Radweg: persönliches VonAngesicht.

11.47 Uhr:
Hier standen Irrtümer. Also wieder rausgenommen.

14.28 Uhr:
Dafür wird sehr Richtiges, wie als Zusammenfassung,>>>> dort gesagt. Dank für den Link an >>>> Tainted Talents.

14.50 Uhr:
>>>> Das habe ich schon neulich gefunden, kam aber nicht dazu, es für Die Dschungel zu konvertieren. Das hab ich nun eben gemacht.
Geschlafen.
Espresso.
Gerauchen.
Weiter mit der Zusammenstellung von „Azreds Buch”.
Telefonat mit dem Verlag über die BAMBERGER ELEGIEN: der erste, der von ihnen wirklich, wörtlich, „begeistert” ist. „Das will ich machen, aber für diesen Herbst schaff ich das nicht mehr. Können wir in zwei Wochen telefonieren? Man muß sich auch Gedanken über die Erscheinungsform machen. Das Buch liegt, sagten Sie, auch noch bei SOUNDSO?” „Wer zuerst sagt: das publiziere ich, der bekommt’s.”

9 thoughts on “Vladimir Soukup trifft Sherlock Holmes. Arbeitsjournal. Dienstag, der 20. April 2010. Abschied von der Heimat.

    1. Heimat (ist eins der schönsten deutschen Worte) …ist Kitsch: sattes Grün, gelbwogende Weizenfelder, wellige Hügel, der Abendsonne auf dem Rücken liegend durch die Blätterkrone zublinzeln, einen Schlüsselblumenstrauß vom Bach mitbringen, der Geruch von Sägespäne, der Kopf an Vaters Brust, die Locken der Mutter, ein Schwertkampf mit dem Bruder, mein einziger Freund, die geliebte Freundin, der Eine, dem ich mich angetraut habe, sieben Bücher und 12 Gedichte, die Lieder, meine Kinder rufend: “Mama, halt den Wind auf.” Heimat bin ich. Ich ist NICHT-ICH. Heimat war nie. Da. Hier. Lass es zu. Geh fort. Sie ist immer DORT.

    2. @MelusineB Wenn man Heimat einrichtet, wenn man glaubt sie könne von Dauer sein, wenn man glaubt, sie gefunden zu haben, länger als für Momente, dann ist es Kitsch – Selbstbetrug.

      Seien wir ehrlich: Jeder von uns sucht etwas wie Heimat. Und uns allen zerrinnt das Gefundene alsbald wieder unter den Fingern.

      Und dann beginnen wir erneut zu suchen.

    3. Ja. Ich hoffte, was Sie beschreiben, ausgedrückt zu haben. Auch nach was man sich sehnt, kann Kitsch sein: eine verklärte Erinnerung an das, was nie wa(h)r. Am schwersten aber ist es, empfinde ich, wenn man fühlt, dass ein Anderer sich sehnt, dass man ihm Heimat sei – und man daran versagt.

    4. @MelusineB Sie haben recht. Ich hatte die Sehnsucht nur auf zu-werdendes bezogen.

      Versagt, obwohl man es will, ist gemeint, nehme ich an. Sonst wäre die Tragik eher einseitig.

  1. “Are you related with Bruno Walter?” war die erste Frage von Leonard Bernstein an meinen Vater.
    Hätte ich gestern Nacht besser aus einem Satz zwei gemacht: Als verklemmt empfinde ich Sie ganz und gar nicht, im Gegenteil. Auch ich halte Ihr Arbeitsjournal für Kunst, erfüllt mit starken Bildern. Und ich hätte Ihnen gerne zukommen lassen, was Wohlstandsbürger gemeinhin im Monat für Zeitungen ausgeben. Den geldwerten Vorteil des Dschungel haben Sie anderswo ja bereits erwähnt. Mir ist es mittlerweile unangenehm, hier für lau mitzulesen.
    Ein Problem mit Ihnen habe ich sicher nicht. Mir ist gleich, ob Sie mich für einen Dummkopf halten. Ich beurteile Sie nach Ihrer Kunst. Sympathie ist keine Währung für die Generation von Morgen. Als Künstler wird niemand unsterblich, weil er zu Lebzeiten ein feiner Kerl gewesen ist.

    1. @chSchlesinger: “Sympathie ist keine Währung für die Generation von Morgen.” Ihr Satz gebe mir Hoffnung – das zu schreiben, wäre übertrieben, aber er tut mir eigentümlich gut. Was die Dummköpfe anbelangt, so nehmen wir uns hier – jedenfalls die meisten von uns – nichts darin, daß wir auch mal, oder oft, lospoltern. Zu einem KunstSpiel, das ständig zwischen auserlebten Erzählungen (“auserlebt” ist eine Art zu formulieren, ihre Voraussetzung) und spontanen Reaktionen flirrt, zu denen auch Freude, Wut, Enttäuschung gehören, und zwar bewußt ungefiltert, gehört zuweilen auch die ja eigentlich immer gegenseitige Beschimpfung. Wenn man sich dann aber zurücklehnt, die Dinge enthitzt anschaut und solch einen Satz schreibt wie Bernsteins erste Frage an Ihren Vater, wenn man ihn ausgerechnet h i e r hinschreibt, dann kann auch ein Gegner nicht anders, als momentlang zu schweigen und sehr wohl auch ein bißchen demütig zu werden, egal, ob er sich für einen großen Künstler hält oder nicht. Plötzlich spielt das keine Rolle.
      Danke.

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