GURRE (4): Die dritte Probe. Konzerthausorchester Berlin, Lothar Zagrosek. Arnold Schönberg, Gurrelieder. Donnerstag, der 20. Mai 2010.

Es gehört in die geschichte des christenthums zu entwickeln,
wie die vorstellung von Lucifer, einem abgefallenen lichtgeist,
der sich wider gott vermaßs und mit seinen anhängern
(engel werden schon Matth. 25,41 beigelegt) in die finsternis
verwiesen wurde, hinzutrat. (…) wie der blitzstrahl in die erde
fährt, während der fallende stern sonst ein liebliches bild gibt (…).
von der andern seite wirkt die bekehrung der Heiden selbst mit,
die herschende vorstellung von dem einflußs des teufels zu
erweitern und zu verfielfältigen. Es ist schon öfter bemerkt, daßs die
verlassenen heidnischen götter zwar für besiegt und ohnmächtig, nicht
aber geradezu für machtlos erklärt wurden: ihre ehmals gütige,
wohlthätige gewalt hatte sich in böse teuflische verkehrt. Was also
die Christen von dem teufel glaubten bekam durch die Heiden einen
doppelten zuwachs: heidnische gottheiten und geister, die an sich schon
übelthätig und finster waren (z.b. Loki und Hel), giengen leicht in den
christlichen begrif teuflicher wesen über; schwieriger und mit
größserem widerstand der volksmeinung, erfolgte die verwandlung
der guten götter des alterthums in gespenster und teufel. Meistenteils
wurden dabei die namen unterdrückt oder entstellt; mythen und erzäh-
lungen waren nicht sobald zu vertilgen.
Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, XXXIII.

9.33 Uhr:
[Konzerthaus Berlin, Großer Saal.]
So. Nun sind sie a l l e da, und alle zusammen.: Die erste Vorprobe tutti.Das ganze riesige Orchester dieser monmentalsten Partitur. Hektisch tragen die Orchesterwarte immer noch mal einen Stuhl herbei, Notenständer müssen ausgetauscht werden, Sitze wackeln. Zagrosek klatscht in die Hände. Und das ganze Orchester spielt den Begrüßungstusch. “Sò! Allseits einen schönen guten Morgen!” Schon als ich ins Konzerthaus hineintrat, waren die Gänge von flirrender Musik geflutet, und jetzt beginnt das Orchester dieses himmlische Vorspiel quer durch die Instrumente, mit mächtigem Horn unter dem allgemeinen Lichtglanzflirren.

Im Westen wirft die Sonne
von sich die Purpurtracht
und träumt im Flutenbette
des nächsten Tages Pracht.
Nun regt sich nicht
das kleinste Laub
in des Waldes prangendem Haus;
nun tönt auch nicht
der leiseste Klang:
Ruh’ aus, mein Sinn, ruh’ aus!
Und jede Macht ist versunken
in der eignen Träume Schoß,
und es treibt mich zu mir
selbst zurück,
stillfriedlich, sorgenlos.

Ich will heute vormittag nicht, wie die Tage zuvor und sicher wieder das ein und/oder andere Mal nachher alleine die Interpretationsanweisungen des Dirigenten, die Einwürfe der Musiker usw. protokollierend aufzeichnen, sondern mich treiben lassen einmal durch die Geschichte, die Musikanklänge und dann nur immer mal wieder dazwischen die action des Einstudierend hineinwerfen. Ach, und die absteigende Linie der tiefen Streicher. Das trappelnde Rufen des Fagotts, die aufsteigenden Blasen der Harfe. Und welch ein Cello dann! “Moment, wir müssen hier was klären… Ich verstehe gerade gar nicht wer hier wo was spielt… Bitte mal nur die Geigen. Bitte?” Zwei Pulte fehlen. “Welche Stimmen haben Sie da? Müssen wir die Stimmen austauschen? Das müssen wir in anderthalb Wochen geregelt haben. Gehen wir auf Ziffer 24 in Drei.” Hebt die Arme. Bricht wieder ab. “Das machen wir jetzt alles einmal in Vierteln, nur zum Üben, damit wir verstehen, was hier passiert.”

“Okay, gut… jetzt machen wir es einmal so, wie es dasteht. Alle 3/2 in 3, alle 6/4 in 6. Bitte: eins vor 28.” Ansatz. Bricht ab. “Bitte! Genau zusammen. Spielen wir einmal von vor 10, dann haben Sie einmal das Thema.” Ansatz. Abbruch. “Da synkopisch begleiten… Halt! Richtig forte!” Preßt die Faust vor. “Richtig mit Glut!” Was das Stichwort ist: Sinnesglut. Daß der Neu-Protestant Schönberg ausgerechnet dieses Sujet wählte, und w a n n er es wählte, lockt die Deutungen geradezu mit Honig. Es war ja schon bei Nietzsche ein hartes Ungenügen am Christentum durchgekommen: seine Körperfeindlichkeit, seine – letztliche – Lebensfeindlichkeit. Das spiegeln auch die Legenden und Mythen wieder, negativ verschoben, kann man sagen, so, wie Jacob Grimm das hier oben schreibt, den ich ja nicht grundlos zitiere. Die Wilde Jagd, die Jagd der nordischen Gottheiten, Wuotan bzw. Odin voran, ist doch täglich noch zu hören, noch haben die großen Städte nicht jeglichen Naturlauf unterminiert, noch sind sie durchaus nicht durchelektrifiziert, noch werden Gaslampen mit Feuer entzündet. (Und noch hat, entwicklungslogischerweise, die Wilde Jagd nicht in die neuen Medien Einzug gehalten: es gibt noch keinen Computer und kaum schon den Spielfilm: d a jedenfalls preschte sie achtzig Jahre später und bis heute wieder hindurch.) “Bitte, drei nach 30, 3/4. Das üben wir jetzt schon, wir brauchen das den ganzen Abend.” Aber die Wilde Jagd, Zagrosek springt hoch an der einen Stelle, singt, dann: “Da m u ß einfach mehr Klang rein!”, – die Wilde Jagd, vornehmlich in den unheimlichen Rauhnächten zwischen Weihnacht und 6. Januar, den “überhängenden Tagen”, die immer eine Bedeutung behalten haben, ob “zwischen den Jahren” genannt, also nicht eigentlich selber zum Jahre gehörig, ob “Sansculottiden” im französischen Revolutionskalender – die unterlaufende, christlich übertünchte Naturgewalt war nie ganz wegzulügen. “Jetzt haben wir’s! Nochmal nun. Drei vor 28.” Bricht ab. “Das hier ganz zart jetzt wirklich. Und dann schlägt das plötzlich um in ein riesiges Orchester, bricht um, brüllt auf… Drei nach 29. Ja, das war sehr schön.” Neuer Ansatz. Es waren die e i s i g e n Sturmnächte, in denen man sich verkroch; die Wilde Jagd ist ein mythischer Ausdruck der Sturmfurcht, später, nach der Christianisierung, wurde sie dann der Ausdruck für Verdammte, die keine Ruhe finden, der Weg des auf dem Helm gehörnten Wotans ist schon rein bildlich wenig weit zum Teufel wie des gehörnten, ziegenfüßigen (geilen) Pans. Es liegt überdies auf der Hand, daß die Raben, die sowohl Wotan als auch Apoll beigegeben sind, ihre Entsprechung in der christlichen Taube haben; es sind reine Gegenbilder Desselben, das immer nur anders bewertet wird, je nachdem, wer die Macht hat, aufgewertet, abgewertet, die immerselben Dynamiken wirken. Die Verbindung stellt Jacobsen, der Textdichter der Gurrelieder, allein schon über den Namen der Geliebten, Tove (auch “Tovelille”, was kleine Taube bedeutet) her; so daß der eigentliche Grund für Waldemars Verdammung gar nicht die Lästerung ist, sondern der Text und der Name selbst: die Taube ist hier nicht Heiliger Geist, sondern Heiliger Körper. Ein Heiliger Geist hätte Herwig, Waldemars Gemahlin, nicht ein Spürchen aufgeregt. Der Geist ist es ja auch nicht, was die Erb- und hier Thronfolge sichert, der Heilige Geist versagt, wenn die Geschlechter rufen: da seine Macht so begrenzt ist, m u ß er verdammen. “Drei nach 33!” Liebesjubelndes Orchester, aber Zagrosek bricht ab: “Das ist die erste wirklich schwere Stelle heute morgen. Sechsndzwanzig in 3. Auch die Trompeten: Ganz zart…” – “‘tschldigung, bitte ganz leise, 26, 27… alle spielen piano. Nochmal, 26.” Aufbrausen, dann ruhiger, die Geigen singen. “Beginnen wir 35, bißchen ruhiger. Im Ganzen.”
– “Sie nehmen diese Sechzehntel viel zu ernst, das muß locker sein, es ist viel wichtiger, daß Sie hier mitkommen, nicht so an den Noten kleben.” Der Walzer. Zag ruft: “Pianissimo!” – “Gut, okay. Tutti. Während das erste, was wir eben spielten, König Waldemar beschrieb, ist das hier jetzt die zarte Tove. Ganz lieblich spielen. – Pianssimo!” Ich höre sie im blühenden Garten ihres Märchenschlößchens Ball mit den Freundinnen spielen – klar ist das Kitsch. Aber es ist, auch a l s solcher, ein Märchen-Archetypos. Welche Macht er auf unsere Unbewußten hat, wird allein daran deutlich, wie schnell sich dieses Bild nicht nur reaktivieren läßt, sondern mit welch einer Gefühlsqualität das verbunden ist. “‘tschldigung! Bitte einmal ohne Streicher, 36, da ist mir das zu laut.” Daß die Wilde Jagd schließlich ganz allgemein für nächtliche Stürme steht, dann auch Sommerstürme, liegt nach der Säkularisierung (derjenigen vom “Heidentum”) zum christlichen Monotheismus auf der Hand: die ritischen Altformen verlieren sich, aber es bleibt ein unbewußter Rest wirksam. Oh-und dieses jubelnde Aufseuzen, Abseufzen der Geigen, fast eine Spur zu metallisch, fast schon eine Warnung. – “Ganz innig jetzt!” Fetter, satter Streichsatz, darüber erhebt sich, ein Vogelruf, die Klarinette.

…aber als liebeweckenden Kuß
legst du meinen Händedruck mir
auf die Lippen
und du kannst noch seufzen
um des Todes Willen,
wenn ein Blick auflodern kann
wie ein flammender Kuß?

“Die Achtel in diesem Takt sind die Viertel im nächsten Takt. Machen wir es bitte einmal ohne Tempo, einmal langsam, drei nach 86, muß nicht laut sein, nur zusammen.” – “Und bitte aufpassen: beim Pizzicato nicht eilen. Selbe Stelle noch einmal.” Hände auseinandergerissen. “Jedes Mal ein Fortepiano, dann erst das Crescendo. Bitteschön.” – “Ah! Drei vor 92: ein total satter E-Dur Akkord!” – “Bitte noch mal, damit wir das hinbekommen, damit wir alle diese W e l l e n haben…” Ja! Das Nordseeland, dessen Inseln der alten dänischen Könige liebste Erbauungsräume waren… und auch der See. “So! Gut! Pause!”

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11.03 Uhr:
Vor der Tür geraucht, mit Benker vom >>>> Horenstein-Ensemble geplaudert, dann noch schnell ein Ciabatta-Brötchen auf die Faust, und schon geht es weiter. Zag steht schon da auf seinem Pult, die Arme verschränkt, der Taktstock stakt wie ein Degen aus der Seite. “Sagen Sie mal”, sagt ein Geiger, als wir die Treppe hochgehn, “Sie haben doch einen politischen Vorfahren.” “Ribbentrop”, sag ich, “Außenminister Hitlers.” “Das ist ja toll”, sagt er, ganz naiv, ohne politische Absicht. Ich habe mir angewöhnt, bei sowas ganz ruhig zu bleiben. “Es gibt tollere Vorfahren”, sag ich. “Wir fangen an fünf vor 85”, sagt Zagrosek vorne. Mir ist meine Bemerkung des Kontextes wegen wichtig, in dem meine Mythos-Überlegungen leider a u ch immer gelesen wurden. Doch Vorfahre hin, Vorfahre kopfab, ich lasse mir die Freiheit meines Denkens nicht nehmen. “Einmal noch, es sind nicht alle mitgekommen. 86, Streicher, drei – vier…… – Jetzt alles, was n i c h t Streicher ist… also..!” Welch eine, fällt mir wieder einmal auf, erzählerische Musik das ist. “Machen wir einmal nur die Flöten. Drei – vier……” – Auf diesen, erzählte ich, mythischen Rest bezieht sich Jacobsen in seinem Gedicht. Den Mythos wiederzuentdecken lag zudem in der Zeit, die auch die Zeit der Entdeckung des Unbewußten wurde. Mit unbewußt/höchste Lust endet der Tristan, ohne den auch die Gurrelieder gar nicht denkbar wären. Unbewußt/höchste Lust war wenige Jahrzehnte später das Credo des französischen Surrealismus – in diesem gesamtem Spannngsfeld stehen sowohl Jacobsens Gedicht als auch Schönbergs frühe Monmental-Komposition. Die Wilde Jagd findet nun sommers statt, nach einer Milde, nach Liebesnächten… und es sind nicht mehr Wotans Mannen, denen sich Waldemar anschließt, er selber ist jetzt dieser Wotan, aber als ein Verdammter. Das ist nicht unähnlich einer anderen Oper, in der jemand auf ewig herumirren, hermfahren, wandern muß, auf See wandern. Wotan war auch Der Wanderer genannt. Die Mythen überdecken einander, gehen ineinander über, sie sind imgrunde d a s Modell des polyperspektivischen Erzählens. Zu einem solchen hab ich selbst sie >>>> im Wolpertinger gemacht, mit >>>> dessen einem Auszug ich deshalb diese meine Gurre-Erzählung auch begann. “Ein Schnitt! Jetzt ganz langsam… und die Klarinette… “Wir müssen noch mal einsteigen, zwei vor 100.”

Der König öffnet Toves Sarg,
starrt und lauscht
mit bebenden Lippen,
Tove ist stumm!
Weit flog ich, Klage sucht’ ich,
fand gar viel!

“Hier bleibt jetzt nur die Oboe übrig…” Schwebend, aber wie an den Boden gebunden, so kommen die Bratschen dazu, die seit jeher Freund Heines Freund gewesen. “Die Bratschen führen…” – “Ja, aber dieser Auftakt, das ist gefährlich. Nochmal.” Trommel dahinter. “Crescendo!” Pizzicato in den Bratschen. Zagrosek wird gestisch locker jetzt, er tanzt fast, faßt mit den Bewegungen seiner Arme ganze Orchersterklänge zusammen. “So, wir gehen ein bißchen zurück. Alle, die da Triolen haben, bitte auf die zweiten Geigen hören. Bitte die Bläser. – Gut, okay. Danke schön. Am Schluß das Diminuendo. Also, alle.” Mit schwerem Stapfen geht es voran. Lächelnder Zagrosek, jetzt ist er (beinahe) zufrieden. “Bitte? Ja, Sie haben da die Vierteltriolen, aber in den Bratschen Achtel. Also ich schlage 6.” Zu allen: “Jetzt düster, ganz düster…. – Holz!” Absturz der Musik. Dann die Flöten, die, nicht unähnlich Mahler Klagendem Lied, die Klage erzählen. Auch das, übrigens, war und ist ein heidnisches Oratorium.
Meine Güte! 11.42 Uhr. Was diese Musiker seit dem Dienstag gearbeitet haben! Hier wird jetzt schon immer wieder die ganze Klagegewalt dieses Stückes laut… “Pianissimo!” streckt die Hand flach aus “noch zu laut…” dämpft mit der Hand…”tutti leise… die Harfe schleppt… Achtung… Crescendo…” Es wallt auf, die Pauke taktet und immer… Aufruf! Die Hörner! Weit! Weit! Weinende Geigen wie mitschwingende Obertöne unter diesem Lichtteppich aus Tönen. Und insistierend die wiederholenden Gesten, dann Auflösung wieder in flirrendenden Naturklang, und Posaunen, Hörner, die Tuba: Fatum. Die Harfe schließt.
Kurzes Klopfen mit den Bögen auf den Notenpulten.
“Eine Kleinigkeit will ich noch wiederholen. Jetzt aber, drei Takte vor 108, dieses Crescendo, das müssen wir noch besser herausspielen. Also bitte.” “Zwischenfrage nter den Geigen.” “Vor 108 die Vier… die erste Stelle hat das nicht… wir steigen ein fünf vor 108.”

“Gut. Und jetzt. Zweiter Teil. Gebt mit bitte ein tragisches Fortepiano..” – “Ja! Aber hart, ziemlich hart!” – “Ah! Krach! U n d: pianissimo….” Die Musik klingt hier durchaus nach Tschaikowski in den nachpressenden Streicherbögen. “Schnell verlöschen, ganz schnell verlöschen!” – “Steicher, machen wir bitte mal drei nach 4.” – “Okay, nehmen wir die Harfen hinzu. Harfen und Streicher. Rauschen, ja, aber im Pianissimo.” “Bei mir steht Forte.” “Niemals. Pianissimo.” “Dort?” “Dort.” Von den Harfen ein Einwand. Zag: “Wie kann ich Ihnen helfen?” “Gar nicht.” “Gar nicht.” Alle lachen. “Gut, dann helfe ich Ihnen auch nicht.”
Die Geigerin übt ihr Solo kurz an. “Gut, sehr schön. Sò, nochmal. Bitte: drei nach 3.” Und abermals dieser Tschaikowski… Zagrosek schlägt ab, Taktstock auf Pult. “Bitte, die Hörner ganz sanft. Nicht schwerfällig, da steht extra drin in den Noten.” Schlag. Aufrauschen, Crescendo. Abermals: Tschaikowski. “Aber das ist alles zu laut. Gut. Kurz davor, Ziffer 6.” Und n o c h einmal. Und dann:

* M i t t a g s p a u s e * .


13.03 Uhr:
Die Zweiten Probetageshälfte. “Schscht!” läuft übers, durchs, unters Orchester, die Hörner spielen darüber. Versacken. Stühle rücken. “Sò. Mahlzeit. Dritter Teil. Wir müssen aber noch besprechen, wie wir mit dem Ersten beginnen, ich weiß nicht wann, aber irgendwann heute, damit wir in zwei Wochen, wenn die eigentlichen Proben beginnen, wirklich auch vorbereitet sind.” Kontrabässe und Celli, jetzt kein Tschaikowski mehr, jetzt deutlicher, allerdeutlichster Wagner. Nur seltsam ver/rückt spielt Ton um Ton die Harfe darüber. Und wieder Wagner: Hörner, das hat jetzt einiges vom Ring. Dann neu das eine Gurrethema. Dann bricht das Orchester los: quasi-slawische Läufe jagen drüber. Zagrosek bricht ab. “So, noch einmal. Vier – fünf – sechs… – Halt, da gehen wir mit dem Tempo etwas mehr zurück. Wir müssen einsteigen zwei vor 2.”

“Bitte alle nochmal fünf nach 1. Vier – fünf – sechs…” Und der Ruf über dem gaaaaaanz leisen Paukenwirbel… “Jetzt zieht’s an….” Crescendo, Schlagwerk, hell…. “Ja, also: bißchen mehr Crescendo hier.” “Vielleicht am Steg”, sagt Friedemann vorn an den Celli. “Das ist sowieso am Steg… vorher auch schon”: so Zagrosek. Einwurf von den Bratschen. Ein Rumoren der Instrumente, alles wirblig. “Tutti bitte, drei Takte vor 15.” Abermals Diskussion, jetzt kommen die Einwürfe von den Bässen. “Bitte schön!” Jetzt hätte ich gerne einen Musikclip für Sie aufgenommen… darf aber ja noch nicht…” – “Also, jetzt kommt ein Chor dazu, meine Damen und Herren. Deshalb bitte nicht zu laut. Machen wir mal alles jetzt ohne Streicher, tutti ohne Streicher… wir dürfen auf keinen Fall die Stimmen überdecken.”
Zurück zur Wilden Jagd. Aber das Orchester verwirbelt sich grad. Zag läßt neu ansetzen. “Alle zusammen, drei vor 6.” Es gibt im Dritten des der Gurrelieder – der zweite erzählt “nur” Waldemars Waldemar über die tote Taube, “von Helwigs Falken gerissen”, wie der Mord symbolistisch genannt wird, also es gibt im dritten Teil einen Narren, der zum einen eine distanzierende Funktion hat, zum anderen hatte sich Waldemar in seiner Klagerede aberm, zynisch, anerboten, Narr Gottes zu werden… was er, stellvertretend für alle Menschen, auch i s t, solange sie nicht wirklich frei sind. Dieses Stellvertretende, aber ins Negative, Unheimliche pervertiert, double-bindet die Figur abermals an christliche Figurationen. “Wie ich das jetzt eben gehört habe, ist das alles zu laut… viel zu laut, wenn ich die Stimmen hinzudenke. – Ich bitte Sie, jetzt diese Stelle, alle zusammen, nur mezzoforte zu spielen, nur mezzoforte… mal hören, was dabei herauskommt. À tempo. Bitte.”

“Wir machen noch einmal den Übergang bitte, wir steigen ein bei 32. – Da ein bißchen mehr Kraft geben… – 33.” Hebt die linke Hand. “34 haben wie subito Piano. Das müssen wir noch erarbeiten. Die Posaunen: Bitte mehr verklingen vor 34. – Wir machen vier Takte vor 34, etwas drängen: -” – “Scht! Das ist viel zu laut, wirklich…” beugt sich zu den Celli, ich versteh hier hinten nicht, was er sagt… kommt wieder hoch, dreht sich zum Orchester…”So!” Bricht wieder ab. “Wir müssen hier noch viel sauberer spielen an dieser hochromantischen Stelle, viel viel sauberer.” Er hebt die Hörner ganz von untern hervor heraus, wodurch der Orchesterklang überhaußt erst Tiefe bekommt. Die Carducci-Flöte schwebt. “Scharf jetzt!” Das schwere Blech, absacken, raunen, fast schon ein Grummeln. “Bißchen mehr Akzente hier.” – – – “Ah! Und hier bitte nicht schön spielen wollen. Sondern giftig… sein Sie Giftspritzen hier!” Möglicherweise, >>>> wikipedia zufolge, ist aber – wie auch so vieles im Erinnerungsverhältnis von Barbarossa und Friedrich II Stauffer – die Geschichte Toves und Waldemars (IV) ursprünglich eine Geschichte einer Frau und Waldemars (I) gewesen – dort entspricht Historie dem gleitenden Gesetz der Mythen (Oberon ist, einmythisch gesehen, Alberich: zum Beispiel), und sie wird Dichtung. “Dann: Könnt ihr bitte, diese ganze Stelle nach 45, staccato spielen? Machen wir mal drei vor 45 tutti. Bitteschön.” Und! Mitten hinein: “Scharf! – Ah, und da abbremsen, r i c h t i g abbremsen. Wie? Nein, nicht nach dem schönen Klang suchen hier, derb sein, fast ordinär sein hier! – So. Bitte Stück für Stück.”

Kleine Musikerinnenklage während der Pause draußen vorm Bühneneingang, wo einige von uns Rauchern stehen, bzw. auf den Simsen des kleinen Abgangs sitzen: “Es ist alles so laut, und man muß selbst immer so laut spielen, um sich überhaupt zu hören.” Das auch ist ein Problem spätromantisch-massiver Orchesterapparate und ihrer Klänge, einfach objektiv, da geht es gar nicht so sehr (nur) um die Lautstärke: daß man im Orchester eigentlich nie einen Gesamteindruck von einer Musik bekommen kann. Sie gestaltet sich vor allem im Kopf des Dirigenten. Deshalb (auch) hat er solch eine Schlüsselrolle.


14.31 Uhr:

Einstimmen. – “So, wir gehen zurück auf 56. Einen Takt vor 56 steigen wir ein.” Einsatz. “Stop! Genauer hier. Bitte jetzt schon üben, sonst kriegen Sie das nicht mehr hin.” Unterbricht abermals: “Wir spielen einfach noch zu viele unterschiedliche Tempi. Das klingt alles noch zu sehr nach Arbeit – was es jetzt ja auch noch ist. Bitte viel leichter spielen, alles ganz leicht, abgehoben, federnd…”….. Jetzt, hält ein…. singt. – “Jetzt noch eine kurze schwere Stelle, fünf vor 64, dann gehen wir weiter. Bitteschön. In Vierteln.” Bricht abermals ab. “Bitte. Nochmal dieselbe Stelle. – …ah, das ist zu laut…. dämpfen… d a n n..! – okay, okay… und jetzt an der Stelle, wo wir jetzt sind, sollten die Schlagzeuger auf irgendwas herumrasseln, egal wo, aber alle Hexen müssen aufstehen. So, fünf vor 64, jetzt à tempo, da steht beschleunigen…. Tremolo! Rasseln, Krach machen! Und: w e i t der Ton!” Ruhe wie hinuntergerutschte, unten stöhnen die Celli, aufsteigende Bläserlinie: “Das muß so leise wie möglich sein. Bitte? Ja. Der Takt vorher Crescendo. Gut? – Gut. Bitte jetzt als nächstes Ziffer 74.”
Ganz rufend, ganz singend, als käme etwas, käme dieser Ruf, der eine Verkündigung ist – “die 4!” -, aus der Ferne; hell versprechen die Trompeten, so klingen Erlösungsmotive… aber die Frösche quaken im Fagott, schleifend darüber windighoch die Geigen, seltsam schiefe Glissando…. “Okay gut, also das ist der Sommerwind… wir müssen aufpassen, daß wir hier nicht laut werden. Steigen wir ein, wo die Geigen dazukommen, 76, Trompete, bitte -:” – ” – : zärtlich bleiben!”

“Jetzt fahrn wir das alles mal langsam, damit wie wissen, wo Gott w o h n t.” Tolles Idiom: damit wir wissen, wo Gott wohnt. Einrede aus dem Orchester. Zag: “Ja, das könnten wir hier machen, aber hier ist der Sprecher schon da, das ist kein Musiker. Wenn ich dem sage 6/8, dann ist der total verwirrt, wenn ich dann für Sie wiederum etwas anderes schlage. Der kommt mir dann einfach raus. Deshalb können wir das nicht machen, obwohl Sie natürlich recht haben eigentlich.” Setzt ein, bricht ab. “Nochmal langsam, zwei vor 82.”

Die Mücken fliegen ängstlich
aus dem schilfdurchwachs’nen Hain,
In den See grub der Wind seine Silberspuren ein.

Es fällt alles noch etwas auseinander, ein Quirlkonzert, dessen vertrackte Schiefe mich schwindlig werden läßt. Zag lacht: “Was macht ihr da?” “Eins nach 4. – Nee, zwei.” “Zwei?” “Aber… – nein, nein, um Gotteswillen: v o r 84. Moment. Alles. Sieben vor 84. Alle.” Spielen. “Blühen lassen!” Hier löst sich jetzt der Mythos in die Natur auf, aus der er ward: Sonnenaufgang; hier wird das schaurige Dunkel, das Schauerdunkel, Licht. Zag bricht ab. “Wir steigen jetzt ein, wo das Cello hinzukommt, sechs vor 90, tutti.” Bricht aber. “‘tschuldigung, nur Streicher. Bitte schön – Danke schön, danke schön. Einmal ohne Celli bitte.” Als Zagrosek mich im Winter bat, auch die Schönbergh-Produktion wieder in Der Dschungel zu begleiten, hatte ich ihm gesagt: dieses Stücke solle man szenisch aufführen, halbszenisch also. Jetzt, an dieser Stellen, drängt sich mir die Idee abermals auf. Aber man brauchte einen Rahmen, der abstrakt und sinnlich zugleich ist… keinen Schauer-Realismus, auf gar keinen Fall, aber auch nix aufgedonnert mystisch Symbolistisches… da müßte eine sozusagen abstrakte Naivetät sein, die den Character eines Wiesenduftes hat. Und, sagt Zagrosek zu den Musikern gerade, trotz Akzent ganz weich. Das wäre es: eine weiche Pracht. Am Ende. “Aber das müssen wir kontrollieren. Das klingt noch viel zu tastend. Das muß mutig sein!”

Seht die Sonne farbenfroh am Himmelssaum
östlich grüßt ihr Morgentraum.
Lächelnd kommt sie aufgestiegen
Aus der Fluten der Nacht,
läßt von lichter Stirne fliegen
Strahlenlockenpracht.

“So, die Geigen können gehen. Dank Ihnen, Ich brauche von den Streichern jetzt nur noch die Soli, alle Celli und Bässe… ich mache jetzt fünf vor 79, mäßige Viertel… alle, die da nicht dabeisind, können jetzt gehen…” Großes Aufstehen, Stühle rücken, einpacken, aber es geht fix. “Also, fünf vor 79. Bitte.” Und. “Stop! Einmal Bratschen und Celli jetzt, mit Harfe. Nur das. Badim-dim–Badim-dim. Bitte.” Und. “Jetzt alle zusammen, so daß wir dritte 6/8 haben, bitte….” Finger zur Sologeigerin: “Da Sie.” Finger zu den Bläsern: “Da ihr.” Bricht ab. “Sehr schön. Gleich nochmal. Wir müssen es ja ein bißchen schneller kriegen:” zählt schnell EinsZweiDreiVierFünfSechs…

“Und jetzt noch mal in dem Zusammenhang, in dem das steht. Bitte!” Sie spielen., er bricht ab, “danke schön. Jetzt machen wir noch den Schluß, dann haben wir erstmal alles…. drei vor 88.” Sie spielen sich aus, Zagrosek hört zu dirigieren auf, lächelt, die Musiker spielen weiter, merken erst jetzt, daß er gar nicht mehr dirigiert. “Ja”, sagte er, “ich bedanke mich jetzt bei Ihnen für eine sehr schöne Probe.” Und ein bißchen stehen noch alle zusammen, diskutieren ihre Noten, lachen, der Tag löst sich auf.

>>>> Gurre 5
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2 thoughts on “GURRE (4): Die dritte Probe. Konzerthausorchester Berlin, Lothar Zagrosek. Arnold Schönberg, Gurrelieder. Donnerstag, der 20. Mai 2010.

  1. die vorstellung von Lucifer, einem abgefallenen lichtgeist In shape and gesture proudly eminent
    Stood like a tower; his form had yet not lost
    All her original brightness, nor appeared
    Less than archangel ruined, and the excess
    Of glory obscured: as when the sun new risen
    Looks through the horizontal misty air
    Shorn of his beams, or from behind the moon
    In dim eclipse disastrous twilight sheds
    On half the nations, and with fear of change
    Perplexes monarchs. Darkened so, yet shone
    Above them all the archangel: but his face
    Deep scars of thunder had intrenched, and care
    Sat on his faded cheek, but under brows
    Of dauntless courage, and considerate pride
    Waiting revenge: cruel his eye, but cast
    Signs of remorse and passion to behold
    The fellows of his crime, the followers rather
    (Far other once beheld his bliss) condemned
    Forever now to have their lot in pain,
    Millions of spirits for his fault amerced
    Of heaven, and from eternal splendours flung
    For his revolt, yet faithful how they stood,
    Their glory withered. As when heaven´s fire
    hath scathed the forest oak, or mountain pines,
    With singed top their stately growth though bare
    stands on the blasted heath.

    JOHN MILTON: PARADISE LOST

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