Das Arbeitsjournal des 28. Junis 2010: Montag. Wie die Paris-Erzählung stockte, ich aber doch noch den Drehpunkt erwischte und weitererzählte, daß aber dann die Müdigkeit kam. Mit einem kleinen Abschied.

>>>> Der Paris-Erzählung letzter Teil, S c h l u ß.

6.35 Uhr:
[Arbeitsjournal.]
Eine Elster schnarrknarrt, man kann das ein Singen kaum nennen. Dahinter gurrt eine Taube, die Amseln sind aber still, oder ich hab sie noch nicht gehört. Latte macchiato, ein anderer Vogel, den ich nicht zuordnen kann, dann leises Gezwitscher. Eine erste Zigarette gedreht, aus den Krümeln, zu denen der Tabakrest schon zertrocknet ist, jetzt den Morgenzigarillo. Dann Krähen, aber die sind enternt. Es war nämlich gestern erst wirklich so, wie ich schrieb: Schreiblähmung, weil mich das Fußballgegröhle depressiver machte, als ich mittags geglaubt hatte; ich bin unterdessen so weit, immer fälschlich anzunehmen, daß mich das nicht mehr berührt, daß ich drüberstehe usw. Aber das stimmt nicht. Schon, daß die Leute, nachdem die deutsche Nationalhymne gesungen worden war, klatschten, daß sie vor den Fernsehern in der Sonne dieses „Vaterland” beklatschten, verpaßte mir den Schock. Dabei sieht alles ja ganz harmlos aus, selbst das Rumlaufen und Tröten und Gröhlen, ja sogar dieses „Wir lieben deutsches Land!” wirkt eher wie Karneval und wie das ordinäre Vergnügen von Leuten, die sonst wenig haben, womit sie sich identifizieren können, wirkt wie ein bloßer Gruppenkitt, der sie irgendwo wenigstens dazugehören läßt. Aber das sieht mein Kopf, mein Instinkt, mein Gefühlshaushalt erlebt etwas anderes, erlebt eine Drohung, die jederzeit in offene Gewalt gegen Schwächere umschlagen kann.
Als ich meinen Jungen heimgebracht hatte, ging die Depression los, ich schrieb ja schon gestern darüber. Dann wußte ich: du kannst das nur wegtrinken. Ich brauchte aber was Helles, was Kühles zum Trinken und besorgte mir drei Halbliterflaschen Bier, Export. Kam in >>>> die Erzählung dennoch erst nicht rein. Rief die Löwin an. „Du hast da einen Schaden behalten”, sagte sie, „du hast da ganz offensichtlich einen Schaden behalten über deinen Namen.” Was sicher stimmt, aber nicht genügt, um die Erscheinung zu erklären; meine Verbindung mit der Nazizeit ist ja rein abstrakt, ich habe davon nichts miterleben können, und mein Elternhaus war nicht einmal rechts, auch nicht konservativ, sondern sozialdemokratisch; mein Großvater mütterlicherseits, der in Sibirien lange gefangensaß, soll sogar eher gefährdet gewesen sein, bevor man ihn an die Front einzog, sich durch spöttische Bemerkungen über Hitler und seine Schergen zu schaden; aber die väterliche Linie lernte ich gar nicht kennen, meinen Vater erst, als ich siebzehn war, und der war auch Sozialdemokrat, sogar Genosse. Nur meine Mutter, als Selbständige, wählte FDP. Also von einer „wirklichen” Seite her kann ich das Trauma nicht haben. Es ist aber stark, sehr stark, führt zu fast unmittelbarer Abwehr, schließlich zu Wutausbrüchen, die ich auch selber unangemessen finde, dann zu einem Gefühl kompletter Einsamkeit, nein, falsch: Fremdheit ist das Wort, Bloßheit, Ausgeliefertsein. „Ich glaube auch nicht”, sagte die Löwin, „daß das je bei dir wieder weggeht.”
Darum ist es in der Tat das beste, wenn solche Tage sind, solche Ereignisse, daß ich mich zurückziehe, daß ich die Tür hinter mir zumache, wie sich ein Tier, das nicht gejagt werden will, den Jäger aber spürt, sich in seinen Bau zurückzieht, in seine Höhle zurückzieht und wartet, bis die Gefahr vorüber ist. Ich aber war nach draußen gegangen, war zu den Rudeln von Schakalen gegangen, die alle Masken der Freundlichkeit trugen, und auch ich setzte solch eine Maske auf. Setzte sie für meinen Sohn auf, und das funktionierte auch. Bis ich wieder allein war. Dann kam der Seelenkater.
Doch das Gespräch mit der Löwin tat gut. Ich riß mich zusammen, fand den Ansatz weiterzuschreiben und brachte auch wirklich noch zwei Kapitel zustande, bis mir dann aber der Alkohol den, bildlich gesprochen, Stift aus der Hand nahm; tatsächlich tat er das nicht, aber er ließ es zu, daß ich mich erschöpfte, daß ich Erschöpfung zuließ, was ich mir ansonsten nicht erlaubt hätte. Deshalb wurde ich gestern mit der Erzählung nicht fertig. Ich will aber nicht n o c h einen „Teil des Endes” anlegen, sondern einfach an dem Segment von gestern weiterschreiben, sonst dehnt sich das alles unstatthaft aus. Imgrunde ist auch nicht mehr sehr viel zu erzählen, die noch losen Fäden der Erzählung sind wenige und werden sich schnell verknüpfen lassen. Bis zum Abend werde ich fertigsein. Rohfassung;, selbstverständlich. Für eine Buchfassung, sowieso, muß der gesamte Text dann noch einmal durchgewalkt werden; es wird sich zeigen müssen, ob und wie er ohne die Kommentare funktioniert, bzw. werde ich einiges von dem, was jetzt Kommentar ist, in den Text selbst hineinmodulieren. Und ich überlege, ob ich morgen noch einmal nach Paris fliege, für drei Tage, um die Orte noch einmal abzuklopfen und die Erzählung dort dann auch zu beenden, im Typoskript, nicht im Netz. Finanziell wäre das zu machen, da ich ja über der Gräfin jederzeit eine Unterkunft habe. Hat sie versichert. Es wird sich zeigen, ob es stimmt. Was im Netz steht jedenfalls, ist, glaube ich, für das Netz so schon gut.
Was übrigens den Pop angeht, so meine ich bisweilen, daß mein instinktives Widerstreben genau in diese Art Panik gehört, die ich bei dem Fußballzeug habe.

Ich muß los, Leser, meinen Buben von daheim abholen. Er geht heute auf Klassenfahrt, ich möchte ihn zum Bus bringen, der vor seiner Schule wartet; ich möchte nicht, daß er sein Gepäck alleine da hinschleppt. Möchte auf dem Weg mit ihm plaudern. Danach setze ich mich wieder an den Schreibtisch. Das wird gegen acht sein.

Zu >>>> dem „Spagat” da möchte ich gern noch was schreiben, später. Nix Großes, nur eine Nebenbemerkung. Seit kurz vor sechs bin ich auf.

8.20 Uhr:
[Wieder zurück am Schreibtisch.]
Nun ist er fort, mein Sohn. Es ist immer noch ein seltsames Gefühl, wenn er von mir wegfährt, es geht immer noch ganz in mich rein. Er war so ausgelassen! Dann wieder kommst Du hergerannt, nimmst mich in den Arm, Papa, Papa! Und rennst wieder weg, stehst mit Deiner Rackerbande zusammen, man ahnt schon, daß ihr was aushecken werdet, aber alles locker, mein Junge, und so aufgenommen, und das erste Gymnasialjahr haben wir hingekriegt. Wenn ich Dich anseh, kann ich manchmal nicht glauben, daß Du erst zehn bist… Pardon, zehneinhalb. Winken, Du schreibst etwas für mich innen an die abgedunkelten, jetzt eigens von Dir angehauchten Scheiben, ich lese die Spiegelschrift, Du schreibst noch etwas. Auch die Schule neben Deiner hat ihren Klassenfahrtstag, auch da stehen Busse. Dein Bus fährt an, ich seh Dich kaum winken, winke. Der Bus schlängelt sich, so sieht es aus, ins Gewühl. Du fährst in Richtung der Arbeitswohnung, ich folge Dir noch etwas, sehe Dich wieder winken, winke auch. Dann biegt ihr ab. Ich liebe Dich.12.05 Uhr:
Sò. Zwar noch immer nicht an die Erzählung gekommen, aber dafür die Italienreise für mich und Dich gebucht, die jetzt doch etwas länger dauern wird, als ich eigentlich plante. Ganz sicher werden wir nicht die ganze Zeit bei >>>> Eigner sein, das würde ihn nervös machen, Zelt hin, Zelt her. Aber es steht uns ja völlig frei, eben w e i l wir mit Zelt reisen werden, es in Olevano für einige Zeit abzubrechen und meinethalben auch noch mal nach >>>> Solfatara zu fahren, oder anderswohin, oder es gibt eine Möglichkeit, was ich sehr fein fände, >>>> parallalie zu besuchen. Außerdem hab ich die Idee, für drei Tage nach Vendig zu fliegen, weil ich Dir so gerne diese Stadt einmal zeigen möchte. Flug Rom-Venedig-Rom für uns beide nicht einmal 160,– Euro, das sollte wohl drinsein. Allerdings, mein Junge, ist der August für diese Stadt nicht gerade die ideale Zeit, nicht wegen der Hitze, die mir gar nichts ausmacht, im Gegenteil, sondern weil Venedig dann furchtbar überlaufen ist und die Zimmerpreise zum Himmel so schießen wie stinken. Aber all das möchte ich mit Dir zusammen vor Ort entscheiden. Tickets sind e-Tickets meist, so kann man Internet-Points für die Buchungen nutzen, auch für etwaig ein Mietauto, falls uns das einfällt. Oder wir fahren über Neapel einmal auf die andere Seite der sorrentinischen Halbinsel, Positano hab ich nie vergessen; oder wir hocken uns aufs Schiff und fahren durch eine Nacht nach Palermo, das Du auch noch nicht kennst. Drei Wochen Zeit, mein Junge, das ist mehr, als wir bislang je Urlaube hatten…

Das war das. Dann kam jenes. Ich habe der Gräfin angerufen, also die Telefonnummer benutzt, >>>> die er Jenny mir hatte geben lassen. Eine Sekretärinnenstimme ging ran, ich sprach vorsichtshalber Englisch. Sie stellte zu jemandem anderes durch, tiefe Stimme, bestimmt keines jungen Mannes mehr. Ich nannte meinen Namen, mein Anliegen, morgen, ja, oder vielleicht noch heute, wenn das möglich sei. Aber ich müsse am Freitag vormittag wieder zurücksein, weil mein Sohn dann von der Klassenfahrt wiederkomme. Heute, antwortete die Stimme, ohne überhaupt nur zu zögern, nein, das sei eher unwahrscheinlich, das sei jetzt so auf die Schnelle; aber ich möge mich eine Stunde gedulden. Fast exakt, nachdem die verstrichen war, ging bei mir eine Email ein: Morgen abend, 18.50 Uhr, Abflug Flughafen Schönefeld, Ankunft Paris Orly Terminal Sud 20 Uhr. Zurück nach Berlin ab Paris Orly 6.40 Uhr, Ankunft Flughafen Schönefeld 8.20 Uhr. E-Ticket-Nr. Soundso.
Also will ich mich jetzt sputen. Als erstes der Mittagsschlaf. Dann wieder an die Erzählung, die bis heute abend fertigsein sollte. Morgen über den Tag will ich sie aus Der Dschungel extrahieren, in eine Datei fassen, schon leicht überarbeiten und dann ausdrucken, um das Typoskript mit nach Paris nehmen zu können. Das werden jetzt noch mal zwei höchst intensive Tage werden. Wobei mir ein wenig mulmig s c h o n ist, wenn ich mir vorstelle, La Duchesse werde gewiß meine Erzählung im Netz gelesen und eben auch von dem Gespräch gelesen haben, das der Profi und ich vergangenen Freitag nachts >>>> in der Bar geführt haben.

Jedenfalls können sie ab heute nachmittag mit den weiteren Kapiteln der Paris-Erzählung rechnen.

Schlafen.

Ach ja, auch mit >>>> Abendschein noch telefoniert. Da ich jetzt derart viel Arbeit habe, verschieben wir die Buch- und ebook-Publikation der >>>> Kleinen Theorie des Literarischen Bloggens auf das erste Quartal 2011. Das nimmt einen großen Druck von mir. Indes sind wir beide völlig einig, daß man Buchveröffentlichungen zunehmend von dem Halbjahresmark-Turnus ablösen sollte, sich überhaupt aus den verkrusteten Buchmarkt-Usancen lösen. Jetzt ist übrigens auch >>>> Urs Engeler bei litblogs.net. Das ist einfach nur grandios!

16.15 Uhr:
Den Anschluß bekommen. Was mir >>>> da jetzt eingefallen ist (28.6., 14.34 Uhr im Link), war mir bis eben nicht klar, obwohl es doch so auf der Hand liegt!

Und gleich weiterschreiben…

20.27 Uhr:
Nun habe ich auch den Schluß der Erzählung gepackt, und >>>> er steht auch schon drin (ab 17.16 Uhr im Link). Dann kurz mit der Löwin telefoniert, jetzt etwas essen, danach >>>> zur Bar.
Morgen ist folgendes zu tun, abgesehen davon, daß ich mittags Eisenhauer zum Essen treffen werde: Die einzelnen Tage der Erzählung sind aus Der Dschungel in eine einzige Arbeitsdatei zu kopieren, dann für die erste Überarbeitung zu formatieren (Seitenzahlen sind wichtig) und auszudrucken. Liegt das Typoskript hier abgeheftet bereit, werde ich die Netzversion auch oben mit Links zum je vorigen und folgenden Kapitel versehen und außerdem, wie ich das >>>> schon beim New-York-Roman und beim >>>> Orpheus getan habe, einen Beitrag schreiben, über den man jedes Kapitel einzeln ansteuern kann. Diesen Beitrag werden Sie dann einige Zeit auf der Hauptsite, danach unter „Reisen” finden.
Ein Problemchen macht mir noch der Titel der Erzählung. Dieses „Les secrets de Paris” ist ja eine ironische Anspielung an Eugène Sue in der Manier, mit der ich das mit Karl May gern tu; im Netz kann man das machen, für ein Buch wäre es völlig verfehlt. Und ein solches wird der Text ja nun werden. Also schwanke ich, bislang zwischen „Das Paradies von Pantin” und schlicht „Sainte Chapelle”, wobei mir letztres dann doch ein bißchen zu katholisch vorkommt. Mal sehn, was der Verlag sagt. Die Gattungsbezeichnung hingegen ist klar: das ist weder ein Roman noch eine Novelle, sondern schlicht „Eine Erzählung”. Und damit Gute Nacht für heute.

>>>> Der Paris-Erzählung letzter Teil, S c h l u ß.

5 thoughts on “Das Arbeitsjournal des 28. Junis 2010: Montag. Wie die Paris-Erzählung stockte, ich aber doch noch den Drehpunkt erwischte und weitererzählte, daß aber dann die Müdigkeit kam. Mit einem kleinen Abschied.

  1. haben Sie wirklich “Export” – Bier getrunken? Erklären Sie bitte das Komma nach dem Bier um dann, – “Export” zu betonen. Meinen Sie das ernst?

  2. Vaterlieb Lieber ANH,

    die Stelle, an der Sie die Abfahrt Ihres Sohnes
    beschreiben, hat mich ungeheuer berührt.
    So wenige Wörter, und so stark.

    Haben Sie vielen Dank!

    Herzlich,
    beamunt

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