7.23 Uhr:
[Arbeitswohnung. Valtinoni, Schneekönigin.]
Zu lange geschlafen, weil ich bis in die späte Nacht noch angefangen hatte, die letzte Staffel von >>>> Lost zu sehen. Was mich daran wieder fasziniert, ist, wie auch hier ein wenig von dem umgesetzt ist, was ich „Möglichkeitenpoetik” genannt habe und seit dem WOLPERTINGER selber literarisch konstruiert habe: wie, in jeweils verschiendenen mständen, ein- und dieselben Menschen völlig andere Menschen sind und, vor allem, daß keine Charaktermöglichkeit eines Menschen die andere ausschließt; im Gegenteil werden die Personen zunehmend reich, indem sie sich durch Erfüllung ihrer Möglichkeiten ergänzen. Ich bin nicht unstolz darauf, mit dieser Vorstellung einer Handlungsführung „früher” dagewesen zu sein, einer – wahrscheinlich: – der ersten, vielleicht sogar der erste überhaupt.
Im Hof knattern hell die Elstern. Ich warte auf meinen Jungen, der seine Schulsachen noch abholen will; und auf I., seine österreichische Freundin, die noch, bevor sie wieder abreist, auf eine Stunde hochkommen möchte, auch um sich meine Fotografien von Giglio auf einen Rohling zu brennen. Derweil ich warte, habe ich schon mal die jetzige Fassung der Fenster von Sainte Chapelle daraufhin durchgeschaut, wohinein ich meine erste Begegnung mit Ayana kopieren kann. Dann müssen die Ränder verschliffen werden; bildlich wäre von eine Collagearbeit zu sprechen. Ist das erledigt, werde ich die ganze Erzählung am Stück durchlesen, am Screen, weitere Korrekturen anbringen und sie schließlich, für die erste Korrektur auf dem Papier, ausdrucken. Des weiteren ist Geldzeug zu erledigen; außerdem muß ich noch mal über den Pressetext für den WDR beugen: aber dafür wird eh die Redakteurin hier anrufen.
Und meine Kritik zu gestern nachmittag ist zu schreiben. An sich habe ich für I. gar keine Zeit. Es wäre aber wenig gastfreundlich, sie ihr nicht zu geben. Wollte ich nicht auch noch, „abschließend”, >>>> zum Hettche etwas schreiben?
Mittags kommt dann mein Junge zum Essen.
— Moment, es klingelt.
16.47 Uhr:
Liege im anstehenden Arbeitspensum furchtbar zurück, nicht einmal die Kritik zu gestern ist geschrieben. Daß ich morgens etwa anderhalb Stunden lang gastfreundlich sein mußte und ja auch wollte, brachte mal wieder alle Abläufe durcheinander. Ich ertrage es g a r nicht, wenn ich mich auf etwas fokussieren will und dann abgehalten werde von etwas, das eigentlich nichts außer Geplauder ist. Sowas geht im Urlaub, sonst absolut nicht. Oder man verfolgt ein Ziel. Jetzt habe ich sowohl Die Dschungel schleifen lassen müssen, als ich auch >>>> darauf nur knapp und unintensiv antworten konnte, obwohl über die angesprochenen Dinge viel zu sagen wäre. Ebenso ist >>>> zu Niebelschütz Dr. No zu antworten.
Mein Junge ist seit ein Uhr hier, zwei Schulstunden fielen aus. Er macht Hausaufgaben, lernt, gleich zieht er zur Cellostunde los. Ich will mit den Fernstern von Sainte Chapelle weitermachen, würde wahnsinnig gern heute einen Durchgang, den am Screen, fertiggebracht haben, so daß ich morgen oder heute nacht ausdrucken kann. Selbst die Geldwege – um die Miete einzuzahlen zum Beispiel – blieben unerledigt.
22.57 Uhr:
Bis eben durchgearbeitet. Jetzt werden meine Augen problematisch, der Blick verschwimmt. Dabei bin ich vollkommen in den Text drin, der jetzt ausgesprochen klar läuft, auch die Beklemmung ausstrahlt, die für die Situation nötig ist, dabei aber zugleich ein Leichtes behält: das Ganze ein ernstes, rigoroses Spiel auf der Waage, die Existenz und Haltung wiegt. Der Einbau der Taubenaugen, der Einbau Ayanas; die Motive führen sich eng, Unnötiges fällt heraus, und sogar einige Kommentare zur >>>> Netzfassung fangen im Text zu vibrieren an.
Schluß für heute. Morgen zur Früharbeit die verbleibenden 42 Seiten. Dann ausdrucken und die Kritik zu gestern, danach gleich den Text für die Opernzeitung der Komischen Oper bearbeiten, dessen Grundlage meine >>>> Meistersinger-Kritik sein soll.
plotpointpoetik, nicht eigentlich eine der möglichkeiten Bin gespannt, wie Sie das Ende der Serie sehen werden … Sie sagten ja selbst schon nur „ein wenig“ von Ihrer Möglichkeitenpoetik. Dennoch juckt’s mich gerade in den Fingern, das zu kommentieren.
Denn hinter den potentierten Möglichkeiten bei Lost steht natürlich in erster Linie das berechnende Prinzip eines teuer produzierten Serienformats, dass sich notwendigerweise viele Wege offen halten möchte, um die Zuschauer/Werbekunden bei der Stange zu halten. Will sagen, „Lost“ will nicht in erster Linie die Charaktere „reicher“ machen, sondern mittels Widersprüchlichkeit die Handlungslogik zu dauernden Hyperbeln treiben, um permanent cliffhanger produzieren zu können. Dazu müssen als Alibi Geheimnisse konstruiert werden, die im Hintergrund die, ich nenne sie mal Möglichkeitssprünge, letztlich doch in einer Meta-Erklärung zusammenzuhalten behaupten. Und den Zuschauer zusätzlich dieser Auflösung hinterherrennen lassen. Die natürlich so nie wirklich kommen kann. Mystery als Feigenblatt für die Machbarkeit möglichst vieler whatthefuck!-Momente.
Während mir bei Ihnen die Möglichkeitenpoetik doch eher aus dem Wissen um / Offenlegen des stets leer bleibenden Geheimnisses selbst gespeist scheint; aus dem permanenten phantastischen „Riss“ in der / durch die Welt, der eben auch jeden Charakter selbst mehrfach spaltet. Bei ihnen ist es eine tatsächliche Irrfahrt, wuchernde Wunschproduktion/-projektion, während hinter „Lost“ letztlich doch eine ganz christliche Telelologie und doch wieder nur der alte Erlösungs-Diskurs steckt. Der Name der Serie sagt es ja schon: Die Charaktere sind „Verlorene“, die noch einmal durchs Fegefeuer des Möglichkeitenmeers schwimmen müssen, um am Ende derart gereinigt ihre wahre Bestimmung – und Gnade – zu erfahren. Zumindest innerhalb der übergeordneten Handlungslogik. Eine Figur, die nach diesem Gebot auserzählt ist, stirbt (darf sich aber natürlich manchmal vorher noch „opfern“). Die Charakter werden also nicht eigentlich „reicher“, sondern finden mehr und mehr zu ihrem „wahren Selbst“ – an dessen Existenz „Lost“ weiterhin festhält.
Oder ganz kurz: bei Ihnen sind die Möglichkeiten Zweck, bei „Lost“ Mittel.
Immerhin aber sind beides Reaktionen auf’s Internet bzw. die neuen digitalen Möglichkeitsräume – insofern sind die grundsätzlichen Parallelen natürlich nicht verwunderlich.
Warum ich mich überhaupt so darüber auslasse?
Aus enttäuschter Hoffnung. Mit ihrer fürs TV revolutionären Art des fragmentierten Erzählens bleibt „Lost“ auch mit dem unwürdigen Abschluss für mich die einzige Serie, die sich mit „Twin Peaks“ halbwegs messen kann. Die phantastische Ambivalenz zwischen wissenschaftlicher und übernatürlicher Erklärung besagter Möglichkeitssprünge jedoch, die sich in der Serie lange die Waage die hielten; die unbeantwortbare Frage, wer im Reigen von Gewalt und Gegengewalt das Recht auf seiner Seite wähnen kann/darf … nun ja, sie werden sehen: letztlich setzen sich bestimmte Erzählmuster, gerade in den Massenmedien, doch immer durch. Matrix war auch so ein Fall. Und nun eben leider auch, trotz vieler guter und nach wie vor zu lobender Ansätze, „Lost.“
Ach, ich würd jetzt wirklich gern mit Ihnen über das Ende reden, aber Sie ham’s ja noch vor sich. Also verkneif ich mir alles weitere – vielleicht auf später. Ich jedenfalls, fand’s schade und das Potential für ein wirklich großes TV-Ereignis verschenkt.
Ich hoffe, ich hab’s Ihnen jetzt nicht zu sehr vermiest, sorry. Aber dafür vielleicht eine sanftere Landung mit Flug 815 ermöglicht.
Was übrigens den neuen Hettche angeht, bin ich ähnlicher Meinung. Nur beschleicht mich jetzt, beim Wiedererinnern an den Text, das Gefühl, die Tragik dieses Vaters, der sich nicht wie einer verhält, ist Hettche vielleicht einfach „passiert“ und nicht bewusst fein ausbalanciert worden, wie ich es gelesen zu haben glaubte. Will sagen, dass Hettche womöglich doch einen Überschuss an „berechtigten Verhaltens“ beim Vater sieht. Hettches Interviews jedenfalls legen das ein bisschen nahe. Aber vielleicht ist der Text hier auch einfach, wie so oft, klüger. Oder der Eindruck entsteht nur, weil dieses „diesen Vätern eine Stimme geben“ eben die Marketingstrategie ist – die das Buch unberechtigt zuschneidet.
Bei dem Thema müsste man eh ein zweite Mal lesen, um dem, was man selbst in dieses Buch hinein- oder herauslesen will, zu entgehen.
Das die Mutter so schlecht wegkommt, ohne sich „wehren“ zu können, ist zwar ärgerlich, bei dieser Erzählperspektive aber wohl kaum zu vermeiden. Käme Sie jedenfalls durch den Mund der Tochter stärker zu Wort, würde deren Gegenposition wiederum an Eigenwert und Kraft verlieren. Es spricht gerade für die Tochter, dass sie ihre Mutter, zu der sie ja auch eine eigene Position finden muss, aus den Diskussionen mit ihrem Vater heraushält. Auch muss man sagen, dass gerade durch die völlige Abwesenheit der Mutterstimme die Schuldverleugnung und -verschiebung des Vaters besonders deutlich zutage tritt.
Eigentlich wäre ein solches Buch jetzt, nach veränderter Rechtslage, erneut zu schreiben …
So jetzt reicht’s aber –
Es grüßt Sie ihr ehemaliger Adept aus dem LCB-Workshop!
@poppeye zu Lost: Danke für diesen langen Beitrag, auf den ich gern intensiv eingehen möchte; nur würde mich das gerade aus meiner anderen Arbeit reißen. Auf jeden Fall hab ich’s mir vorgemerkt. Und vielleicht melden sich unterdessen auch noch anderer Stimmen.
Kurz aber dies: was Sie über das Lost-Ende schreiben, habe ich gestern nacht zu fürchten begannen, also im Sinn einer Sorge, nicht etwa wirklicher Angst. Die Gefahr, den Matrix-Weg zu gehen (anstelle etwa des von mir favorisierten Cronenbergs in eXistence oder Lynchs, wie Sie sehr richtig schreiben, von „Twin Peaks“), wird bereits mit Beginn der sechsten Staffel deutlich. Ich habe auch den Eindruck, man wolle „zu einem Ende“ kommen, was logischerweise die von Ihnen monierte Teleologie geradezu w i l l; das notwendig Unabgeschlossene von Twin Peaks und eXistence wird gescheut, vielleicht auch, weil den Produzenten die Ideen ausgehen, derer sie aber, das muß wirklich zugestanden werden, rasend viele hatten. Doch in der Tat, ich bin mit der Serie noch nicht „durch“.
Zu Hettche gehe ich später noch >>>> dort drunter ein, bzw. wäre es erleichternd, wenn Sie Ihre Einlassung einfach noch einmal in einen Kommentar dort hinkommentieren würden..
Eine sehr schöne analytische Leistung!
It all ends here … Ach so, nur als kurze Info-Ergänzung zum „Ende wollen“. Die Lost-Macher haben während der dritten Staffel verkünden lassen, sie hätten jetzt die Zusage für insgesamt sechs Staffeln vom Sender, wüssten also genau, wann die Serie enden wird und würden nun gezielt beginnen, über die letzten drei Staffeln die bisher aufgeworfenen Rätsel zusammenzuführen und zu „lösen“ bzw. zu einem Abschluss zu führen. Sozusagen das gnostische Versprechen auf den finalen Zusammenfall aller Gegensätze – um vor allem die Hardcore-Rätseljünger im Netz weiter bei der Stange zu halten.