Vor dem Funkstudio, Schischkins Venushaar zwischen den Fingern. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 7. Oktober 2011. Abends zuvor Barbara Bongartz. Nach dem Funkstudio: Elegien schneiden. Sowie die Siebte Elegie: als Klang.

6.03 Uhr:
[Arbeitswohnung. >>>> Křenek, Orpheus & Eurydike.]
Kühl morgens. Wieder. Schal um, Hausmantel überm Hemd, aber noch die Oberschenkel frei: schnell den Hausmantel drüberlappen. Sonst fröstel ich.
Morgenpfeife, erster Latte macchiato.

„Ihr seid doch keine Menschen, ihr seid doch feuchter Lehm! Geformt hat man euch wohl, doch etwas einzuhauchen vergaß man!“

Das las ich gestern abend auf dem Weg zu Bongartz‘ Präsentation ihres neuen Romans in der >>>> neuen Autorenbuchhandlung, die bis auf den letzten Stuhl gefüllt war. Ich kannte Fürst & Iven noch nicht. Hatte sowieso weiter Schischkin im Kopf:

Verbürgt ist jedoch, daß wir ungefähr nördlich der Hellenen liegen, an den Ufern des Himmelsozeans, über den nun wieder unsere unversenkbare Wolkenflotte in Kiellinie zieht.Dies zwischen Verhöre gepackt, denen Asylbewerber unterzogen werden, in der Schweiz. Brutale Geschichten der Verfolgtheit und Flucht, während es von oben, in einem Mietshaus, Dinge aus den Fenstern regnet:

Einmal fiel ein Telefon herab, dann wieder fielen komplette Bettwäschegarnituren, ein Radioapparat, Lebensmittel, Schöpfkellen, Flaschenöffner, diverser Bürokram: Notizblöcke, Schachteln mit Büroklammern, Briefumschläge. Nicht jeden Tag kommt etwas geflogen, manchmal eine Woche lang gar nichts, und dann, aus heiterem Himmel, eine Schere.

Der Dolmetsch steigt die Stiegen hinauf, um nachzusehen, nachzufragen.

Lange machte niemand auf. Der Dolmetsch wandte sich zum Gehen, da hörte er ein Schlurfen hinter der Tür. Schließlich öffnete sie sich einen Spalt. Als erstes fuhr ihm ein beißender Geruch in die Nase, dann konnte der Dolmetsch eine Frau im schummrigen Türspalt ausmachen, die schätzungsweise achthundert Jahre alt war.

D a s ist Literatur! dachte ich immer und immer wieder, d a s ist ein Erzählansatz, den man für diese Geschichten wählen muß! >>>> Eugen Ruges Realismus, über den ich in zwei Stunden im ARD Hauptstadtstudio für den WDR sprechen werde, reicht hinten und vorne nicht hin. Die Rede, vielmehr, ist >>>> von diesem Buch. Fünfunddreißig Seiten habe ich in der S-Bahn geschafft und konnte gar nicht mehr zu lesen aufhören; auf dem Rückweg kam ich nicht mehr an die Lektüre, weil ich mit >>>> Susanne Schleyer fuhr. „>>>> Schischkin hat Glück“, sagte ich ihr, „daß er kein Deutscher ist. Einem Deutschen hätten deutsche Verlage dieses Buch nicht gedruckt, die wollen den Holzschnitt“ – aber er hatte auch so schon Schwierigkeiten genug: „zu schwer“ habe man ihm in Absageschreiben immer wieder geschrieben, „das verstehen die Leser nicht“. Was Verlage und Kritiker halt so wissen von den Lesern, die sie auf diese Weise richtig schön kleinhalten – damit sie ihnen, vielleicht, intellektuell voraussein können und den Büchern, die sie loben und in die Preise heben. Ich erfuhr zum Beispiel von Incentive-Essen, die Verlage für Rezensenten großer Zeitungen geben. Nichts ist mies genug, um nicht mitgenommen zu werden. Ein bekannter Kritiker, übrigens, bekam für seine Zehennägel Nagellack von Chanel dazu. Das muß man sich mal vorstellen, wie dieser dimensionale Mensch sich seiner Schuhe und Socken entledigt, nachdem er sattgegessen war. Er hat mir mal gesagt, daß er keine dicken Bücher, jedenfalls nicht von unbekannten Autoren, mehr lese, weil das seinem Berufsrealismus und den Hypotheken zuwiderlaufe, denen er verpflichtet sei. Sie müssen zugeben, daß einen ein Buch wie Schischkins geradezu erlöst, wenn man dauernd von solchem Zeug erfährt. Es erlöst einen, weil man dann nicht mehr dauerkotzen muß. Jedenfalls mir geht es so. Ich scheine, sprach mir die Löwin ins Gewissen, nicht viele zu haben, die dies mitleiden würden; die meisten, sagte sie, fänden Kotze schmackhaft, jedenfalls erträglich, wenn sie sich eingerichtet hätten; das wolle niemand ins Risiko bringen. Alles eine Frage der inneren Haltung: je weniger davon, desto besser komme man durch. Ich aber sei, sagte wer andres, ein schlechtes Gewissen, das zur Person geworden ist: niemand wolle sich dauernd ermahnen lassen, sondern in Ruhe, jeder, weiterschwurbeln. Ah, noch einen Satz, besser, Schischkin!

Wir sind, was wir sagen. Ein frisch gehobeltes Schicksal ist wie eine Arche, prallvoll mit Menschen, die keiner haben will. Alles Übrige ist die Sintflut.


In eineinviertel Stunden muß ich los. Erst das Interview mit dem SWR-Redakteur (Leitung Baden-Baden—Berlin), dann meine Ruge-Rezension. Gegen halb neun radle ich dann zurück und werde mit der Nacharbeit an dem Operntext weitermachen. Damit bin ich gestern schon fast fertig geworden; der Redakteur soll sich, bevor ich das noch weiter ausführe, aber erstmal ansehen. Also als Mail raus. Dann, danach war mir schon gestern sehr, mal wieder an ein Gedicht. Aber ich melde mich eh wieder, wenn ich vom Hauptstadtstudio zurücksein werde.
Wie großartig, Křeneks Orpheus wiederzuhören! Eigentlich müßte man das Stück wieder auf eine richtige Bühne bringen. Mal sehen, wie weit sich meine Opernkontakte weiter ausbauen lassen. Aber auch ARGO, und pocht mit den Nägeln seiner vielen Seiten auf den Tisch, wartet. Es steckt eine Melancholie in dem zu Vielen, das man tut – aber eben nicht um nicht zu tun, was eigentlich getan werden müßte. Das ist kein Ausweichen, sondern die plane Überwölbung nur, eine Planierung, durch ökonomische Notwendigkeiten: Wie schnell man sich daran gewöhnt, nicht mehr direkt gefährdet zu sein…

12.26 Uhr:
Zurück. Abermals Křeneks Orpheus: hat mich wieder gepackt, höre die Oper nun bereits zum vierten Mal seit gestern.
Das Gespräch und die Aufnahme im Studio klappten anstandslos; es war dann noch ein bißchen zu schneiden, weil ich sechsundzwanzig Sekunden zu lang war; mit etwas Professionalität läßt sich sowas aber im fast-Handumdrehen erledigen, vor allem wenn die Techniker/der Techniker gut ist. Das war auch der Fall, wie fast immer im ARD Hauptstadtstudio. Diesmal arbeitete ich mit Frau H. persönlich, die mich sonst immer in Sachen Dispo umsorgt. Habe bereits das neue Hörstück für den November angekündigt, für das ich einige Aufnahmezeit brauchen werde, wahrscheinlich wieder zwei Tage nur für die Sprecher.
Nach dem Studio लक्ष्मी und die Zwillingskindlein getroffen, die auf dem Weg zu Barenboims Musik-Kita waren; Kaffee, Bananensaft, Kakao getrunken, dann zusammen die Kleinen hochgebracht und noch etwas zusammen die Straße langflaniert, ich im Arm, sozusagen, mein Rad. Trennung am Bebelplatz. Ich brauchte noch Cigarillos und wollte vor allem nicht zu spät wieder am Schreibtisch sitzen.
>>>> Faust Kultur möchte den Lesungsmitschnitt einer der >>>> Elegien haben, um ihn im Netz verfügbar zu machen; >>>> Elfenbein hat zugestimmt. Sowie sie drinstehen wird, annoncier ich es Ihnen. Schöne Besprechung, übrigens, der Elegien >>>> dort. Jedenfalls werd ich mich nach dem Mittagsschlaf an die Tondatei machen. Ah ja, Deters rief an: irgendeines Ghostwriter-Auftrages wegen, über den ich aber nicht schreiben soll; deshalb hat er mir – „ich kenne Sie zu gut, mein Lieber“ – Genaues noch nicht sagen wollen. Jetzt hab ich gleich zwei solche Sachen an der Backe, wenn man >>>> den Gräfin mitzählt.

Gesendet wird das Gespräch zur Matinee des SWRs jetzt am Sonntag zwischen 11 und 12 Uhr.

15.25 Uhr:
Hier jetzt auch >>>> der Link darauf: Harte Ware – Computer, Jörg Biesler im Gespräch mit ANH.

18.19 Uhr:
Bis eben für FaustKultur die sechste Elegie bearbeitet und als montierte Tondatei erschaffen: wunderschön ist das, glaube ich, jetzt geworden. Drei Stunden hat es gebraucht. Die Zutaten aber verrate ich nicht. Hören Sie es sich an, wenn das Ding dort eingestellt sein wird; ich gebe dann, und werde Ihnen den Link legen, bescheid. Leider ist eine Störung darin, die so direkt unter der Sprache liegt, daß ich sie nicht wegschneiden konnte: jemandem fällt etwas herunter. Verwendet habe ich die Aufnahme aus der >>>> Villa Concordia vom 4. Mai, dem 54. Geburtstag meines schon lange umgekommenen Bruders.

Jetzt brauch ich mal einen Moment der Nichttätigkeit. Aber so, genau so, habe ich mir die Elegien immer vorgestellt im Klang.

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