4 thoughts on “Zweiundzwanzig.

  1. Zu Friedrich Nietzsche und der hohen Kunst, Gedanken s c h ö n zu formulieren.

    Wo du stehst, grab tief hinein!
    Drunten ist die Quelle!
    Laß die dunklen Männer schrein:
    „Stets ist drunten – Hölle!“

    Die fröhliche Wissenschaft,
    Vorspiel in deutschen Reimen.
    Ich weiß nicht mehr, wie und weshalb ich zum ersten Mal auf Nietzsche kam, kann nur vermuten, etwa, daß der erste Hinweis auf einer der Schallplatten stand, die ich zwei oder drei Jahre vorher zu sammeln begonnen hatte, mit dreizehn oder vierzehn, Tschaikowski vor allem, Beethoven, Dvorak, immer wieder Geige, Geige, Geige, zum Cello kam ich erst viel später, mit Richard Wagner, der erst in meiner Lehrzeit ab etwa 1973 eine und auch da noch nur kleine Rolle zu spielen begann. Insofern ist es wieder unwahrscheinlich, daß mich ein musikessayistischer Umschlagshinweis initiierte. Vielleicht aber eben doch.
    Ich bin jetzt sechzehn oder siebzehn und habe soeben Gustav Mahler entdeckt, den nun tatsächlich ohne einen Hinweis. Sondern, weil ich nicht eigentlich Geld zur Verfügung habe, und was ich habe, das klaue ich meiner Mutter vermittels einer langen Pinzette nicht ohne einbrecherisches Geschick aus ihrer selbstverständlich stets zugeschlossenen Kasse – man muß nicht eigens erzählen, und es gehört hier auch gar nicht hin, denn es ist ja nicht – noch nicht – Literatur, geschweige prägende, von der hier die Rede… – daß sich daraus in von nun an nicht mehr sehr unabsehbarer Ferne eine Katastrophe nur dann nicht unvermeidlich zusammengeballt, hätte sich meine Leidenschaft für damals im Epochensinn tatsächlich klassische und spätromantische Musik, sowie für die Bücher und mein eigenes Schreiben weniger obsessiv gestaltet. Jedenfalls fand ich auf einem meiner Grabbeltische, die ich längst nicht mehr nur für Bücher frequentierte – für alle Zeit in Erinnerung: Das Besondere Taschenbuch,

    eine Reihe bei ausgerechnet Heyne, in der neben dem famosen Uwe Dick auch anerkannteste Weltliteratur der Moderne erschien: Bulatović, von dem ich in einem nächsten Zusammenhang noch erzählen werde, Aragon, für den ganz Besonderes gilt, Borges; fast die gesamte Ahnenreihe „meiner“ jungen Moderne wurde hier für mich gepflanzt; nie hat sie ihre Bedeutung verloren.
    All das fand ich auf dem Grabbeltisch und ebenso in den Grabbelkisten, frühe Form des Modernen Antiquariats, darin ich billige LPs erstöberte, teil ohnehin billig aufgelegt, etwa von EUROPA, teils schnellstens heruntergesetzt, weil es niemand wollte. Da geriet mir dieses hier zwischen die Finger:

    Es führte mich zwar zu Nietzsche noch nicht direkt, sondern erst einmal zu Jean Paul, nach dessen Roman Mahler seine Sinfonie betitelt hatte. Aber weder wußte ich damals, wer e r, noch, wer Bruno Walter war. Sondern ich probierte einfach herum und kaufte schlichtweg alles, was weniger als zwei Mark kostete; im übrigen verließ ich mich auf meinen Instinkt. Das ging meine ganze Schuld- oh! ich meine natürlich S c h u l- und auch die Lehrzeit so durch, und selbst viel später noch habe ich‘s nicht anders gehalten: eine Zufallsplatte ansehen, die Augen schließen, auf den inneren Engel oder Schweinehund hören, was oft dasselbe war, weil dieser jenem zur Voraussetzung diente. Und seinem Instinkt nach kaufen oder nicht.
    Nun indes, im Fall der Ersten Mahlers, überwältigte es mich. Ich kann kaum, mit welcher Macht mich die Musik ergriff, beschreiben; zum ersten Mal seit Verstreichen meiner Kindheit hatte jemand den vergötterten Tschaikowski ablösen können, und zwar in einem Nu. Ja, Mahler warf ihn einfach vom Pult, so daß ich Jahre brauchte, um ihn wiederzufinden. Dabei hatte ich ihm gerade noch die erste Kurzgeschichte geschrieben, die ich bis heute ernstnehme: mein opus 1, das seinerzeit noch „Die Sache mit Kark-Jonas“ hieß und nach vielen Über- und Bearbeitungen Jahre später zum ersten Blumenstück im>>>> Wolpertinger wurde, wobei „Blumenstück“ als Bezeichnung von Jean Paul übernommen ist, den ich wiederum eben Mahler verdanke.

    Meien Erzählung war auch immer noch Reflex auf >>>> Die Dämonen, indem ich abermals Dostojeswkis Kirillov darin variierte. Doch etwas andres spielte noch herein, nämlich eben Pauls Titan, zu dem mich die Rückseite der Langspielplattenhülle führte. Nach ihm hatte Mahler seine Erste betitelt, und dann stand ich mit Alban (!! – welches Erschrecken, noch einmal, jetzt: denn an meinen späteren Namen war damals noch gar nicht zu denken -) auf der borromäischen Isola bella dem in Starre verfallenen Vater gegenüber:

    Die Sonne erkaltete an der feuchten Erde – nur noch die zackige Mauerkrone aus den Goldstufen der Gletscherspitzen glühte über ausgelöschten Wolken – und die Zauberlaterne der Natur warf ihre Bilder nur noch gezogner und matter; da ging eine lange Gestalt in einem offnen roten Mantel langsam um die Zedratobäume auf ihn zu, rieb mit der Rechten an der Stelle des Herzens, woran kleine Funken verglommen, und zerdrückte mit der halb erhobnen Linken eine Wachslarve zum Klumpen und blickte in die eigne Brust (…) Aus einem vertrockneten hagern Angesicht erhob sich zwischen Augen, die halb unter den Augenknochen fortbrannten, eine verachtende Nase mit stolzem Wurf – ein Cherub aus dem Keime des Abfalls, ein verschmähender gebietender Geist stand da, der nicht lieben konnte, nicht sein eignes Herz, kaum ein höheres, einer von jenen Fürchterlichen, die sich über die Menschen, über das Unglück, über die Erde und über das – Gewissen erheben, und denen es gleich gilt, welches Menschenblut sie hingießen, ob fremdes oder ihres. –

    Ja, dies, genau dies ist die Stimmung, in der ich meistenteils lebte zwischen meinem 16. und 19., vielleicht auch noch 20. Jahr. Sie hat in der Intensität ihres Pathos von jenem Nietzsche einiges, der mich dann einfing:

    Ja! Ich weiß, woher ich stamme!
    Ungesättigt gleich der Flamme
    Glühe und verzehr ich mich.
    Licht wird alles, was ich fasse,
    Kohle alles, was ich lasse:
    Flamme bin ich sicherlich!

    Denn spätestens meine nächste Mahler-Platte gab den Hinweis dann. Zu diesem Zeitpunkt fangen meine musikalischen Einflüsse sich unablösbar mit den literarischen zu verschränken an und bestimmen fortan die Literatur: Prima la musica, poi le parole. Jedenfalls fand ich im Nietzsche gefordert, was Jean Paul bereits ausführt, aber in meiner lebendigen, weil zeitgenössischen Gegenwart zunehmend zugunsten politischer Kalküle vergessen wurde und schließlich sogar in eine Art Anti-Psychologie einiger Gegenwartsliteratur geführt hat; psychologisches Schreiben wird verpönt. So wird auch dies Folgende, abermals aus der Fröhlichen Wissenschaft, worin sie die Psychoanalyse eigentlich schon verwegnimmt, ein meine ganze spätere Arbeit bestimmender Gedanke:

    Das Bewußtsein ist die letzte und späteste Entwicklung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewußtheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, daß ein Tier, ein Mensch zugrunde geht, früher als es nötig wäre, – „über das Geschick“, wie Homer sagt. (…) Es ist immer noch eine ganz neue und eben erst dem menschlichen Auge aufdämmernde, kaum noch deutlich erkennbare A u f g a b e, d a s  W i s s en  s i c h  e i n z u v e r l e i b e n und instinktiv zu machen, – eine Aufgabe, welche nur von denen gesehen wird, die begriffen haben, daß bisher nur unsere Irrtümer uns einverleibt waren und daß all unser Bewußtsein sich auf Irrtümer bezieht!

    Oder, etwas leiser, nun aus Menschliches Allzumenschliches I: Wer viel denkt, eignet sich nicht zum Parteimann: er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch. Oder, Menschliches Allzumenschliches II,61, was den Grund für meine Freiheitsüberlegungen legte:

    In Wahrheit ist jeder Mensch selber ein Stück Fatum; wenn er in der angegebenen Weise dem Fatum zu widerstreben meint, so vollzieht sich eben darin auch das Fatum.; der Kampf ist eine Einbildung, aber ebenso jene Resignation ind as Fatum, alle diese Einbildungen sind im Fatum eingeschlossen.

    Unnötig zu sagen, daß ich auch „meinen“ Nietzsche modernantiquarisch bezog: er wurde seinerzeit bei Goldmann verlegt, so daß wir sehen können, wie diese Massenverlage ein ganz anderes Niveau, das zugleich war, erst in den letzten Jahrzehnten hingegeben haben.
    Wobei ich, übrigens, meinen Zarathustra tatsächlich bei einem Antiquar erwarb, in der Ausgabe eines Berliner Verlagshauses Bong ohne Angabe des Erscheinungsjahrs, gedruckt in der mir vertrauten Typographik der alten Tarzan- und meiner Bände Kapitän Marryats, auf den ich auch noch kommen will. Dennoch hab ich den Zarathustra nie gemocht, weil er Nietzsches schneidend klaren Stil, dem sein Denken analog ist, ja es folgt aus ihm – weil er diesen Stil nach Art einer Bibel-Travestie entzweibricht und fast nur ein zugleich predigendes wie gewaltbereites Pathos übrig bleibt, das ich mit dem Nationalsozialismus schon damals verband. Es findet sich auch in einem anderen Buch, das in diesen Kontext gehört und mich lebenslang beschäftigt: Antoine de Saint Exupérys „Citadelle“, Die Stadt in der Wüste.

    So habe ich meine Soldaten zum Sieg geführt, durch die Mühsal des Krieges hindurch. Ich führte sie zum Licht durch die Nacht, zum Schweigen des Tempels durch das Karren der Steine, zum Widerhall des Gedichtes durch die Trockenheit der Grammatik, zum Anblick, der sich von der Höhe der Berge darbietet, durch die Felsspalten und das Geröll schwerer Steine. Wenig kümmert es mich, daß du während des Überganges Mühsal ohne Hoffnung erduldest, denn ich mißtraue dem Rausch der Raupe, die in den Flug verliebt zu sein glaubt. Es genügt, daß sie sich selber verzehrt beim Verdauen ihrer Verpuppung. Und daß du deine Wüste durchquerst.
    Die Stadt in der Wüste, 417.
    Ich habe dem positiven Begriff von Führer immer mißtraut, ebenso wie einer notgedrungen folgerichtigen Wahrheit des Per aspera ad astras, aber Nietzsche und dann Saint Exupéry haben es in mich versenkt. Wo es, ob ich will oder nicht, wirkt. Und in beiden Fällen hat mich die Freiheit geprägt, zu denken, was man will, wirklich frei und ohne Rücksicht auf Mainstream und die offizielle Moral: eine, aber formal höchst strenge, Libertinage des Gedankens, der zu Stil wird, weil es ihm besonders auch auf die Schönheit seiner Sprache ankommt.
  2. Auffindungen Mich bewegen Ihre Tauchgänge in die Erinnerung an die Literatur und die Musik der frühen Jahre sehr. Auch freilich, weil ich dabei bemerken muss, dass die eigene Sozialisation in diesen Dingen ganz so eigen nicht ist, denn Ihre Auffindungen ähneln so manchen der meinen doch wie Brüder und Schwestern.

    Schön aber, sehr schön, dass sich Ihnen so viele der alten Exemplare noch erhalten haben. Ich habe sie auf dem Weg zum heutigen Tag mit wenigen Ausnahmen alle verloren und musste sie, so es möglich war, später neu erstehen. Was natürlich dazu führte, dass da jetzt so manches ungelesene Buch im Regal wartet, obwohl sein Inhalt sich bis heute eingeprägt hat. Grüße!

    1. @Gogolin. Dank Ihnen! Ja, ich bin auch froh darüber, daß so vieles erhalten blieb – wobei einiges davon jetzt, weil ich’s aus Überschwang vererben möchte, also das Erleben daran, davon und damit, in den Bücherwüsten meines Jungen verschwindet und verschwunden ging, ohne daß es Ähnliches auslösen würde wie seinerzeit in mir. Woran wir auch merken können, wie sich die Zeiten verändern und ihre Bedürfnisse, einerseits; andererseits, wie vieles, das damals noch ungenutzt war, sich unterdessen hat vereinnahmen lassen, und nicht zum besten der Bücher. Darauf werde ich u.a. >>>> heute zu sprechen kommen, sowie, wegen eines neueren Falles, wohl auch morgen. Wozu ich noch nichts sagen möchte, um dieser Serie auch ein Moment der Überraschung zu gönnen – ihr selbst, doch mehr noch denen, die sie lesend begleiten.

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