Arbeitsjournal. Nun wieder Argo, noch aber etwas eingeschränkt. Mittwoch, der 15. August 2012. Abermals zur Selbstermächtigung. Mit Natalia Wörner sowie einer kleinen Bemerkung zur Aristokratie.

7.12 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Bis sechs, >>> OP-halber, geschlafen, dann schon zwei Briefe geschrieben, von denen einer über Wirkfaktoren im BDSM in den, quasi, >>>> Libanon ging; mich interessiert, auch, eine Theorie der Lust. Wenn ich das Melusine-Walser-Buch beginnen werde, werde ich einige Korrespondenz lesen müssen, die in den Postfächern gespeichert ist; es wäre besser, ich speicherte dies alles g l e i c h in einer entsprechenden Datei ab. Gestern nacht sah ich noch einen Krimi, der das Thema >>>> auf nicht nur achtenswerte Weise sehr sensibel behandelt hat, die Risiken, den Wirksog und das zugrundeliegende Leid, die Verhängnisse auch und Übergriffe, zu denen diese sogenannten Neigungen verleiten können – Sie wissen, daß ich dem Begriff Neigung skeptisch gegenüberstehe. Jedenfalls einmal schaut eine devote Masochistin, von der – der Gefährdung ihrer Existenz halber – nicht öffentlich werden darf, wie sie sexuell fühlt, auf, mit einem intensiven, klugen und dabei innig wahren Blick und fragt die Kommissarin: „Haben Sie nie das Bedürfnis verspürt, mit jemandem durch diese Tür zu treten, von ihm hindurchgeführt zu werden?“ Worauf die Kommissarin, Natalia Wörner, schweigt. Und blickt durch den kleinen Raum in die Ferne.
Überhaupt haben sich Kriminalfilme unterdessen, mehr als daß es um die von ihnen behandelten Fälle ginge, zu einem Genre entwickelt, das seismografisch die Gesellschaft und ihre Entwicklungen manchmal erstaunlich intensiv reflektiert, weit mehr, ist mein Eindruck, als vor allem im deutschen Sprachraum die sogenannte Ernste Literatur, die immer noch auf Anthropologien herumreitet und, jedenfalls nicht selten, sentimental an ihnen klebt, die sich schon längst überlebt haben. Sie hängen nun bloß noch in ihrem Kokon, als würde Literat:in jemand werden, die und der um jeden Preis nur zurückschaut.

Zweiter Latte macchiato.
Die Unzeitgemäßheit meiner Sparte von Kunst geht mir bisweilen gehörig auf die Nerven. In dem Sinn denkt auch >>>> die „Berliner Gazette“ in ihrem Artikel zum gegenwärtigen Feuilleton. Nicht anders, übrigens, der Buchhandel. Es ist, als ob in der Dichtung nur die allerwenigsten noch ein Gespür für ihre eigene Zeit haben. Manchmal denke ich: sie wollen sie nicht haben. Oder aber: sie sind, auch wenn sie erst dreißig, schlichterdings zu alt.

Um elf Uhr Nachuntersuchung des Auges; dann kommt die Schutzkontaktlinse raus. Schön war, daß mir gestern nacht meine Ärztin mailte: „…ich danke Ihnen für diese sehr anschauliche Beschreibung der eigenen Gemütsverfassung, in der man so eine OP durchlebt (…). (…) … und morgen werden Sie wunderbar sehen können mit Ihrem Auge.“ Ich hatte ihr den Link auf meinen OP-Text geschickt und sie ihn nachts noch tatsächlich gelesen. Irgendwie habe ich Lust, sie in die Oper einzuladen. Mir gefällt ihre disziplinierte, deutlich ehrgeizige Vita. Wenn jemand will und dem leidenschaftlich folgt, strahlt das einen ungemeinen Eros aus, fast egal, um welchen Beruf es sich handelt. Das Schöne daran ist, daß sich diese Art professioneller Leidenschaft ü b e r t r ä g t: sie inspiriert enorm. Es ist das Gegenteil von einfach-sein-Wollen, ist ein s o-sein-wollen. Selbst- und Lebensermächtigung. (Nichts macht mich wütender als Hilflosigkeit).

[BDSM.
Melusine Walser.
Kyberrealismus.]

8.20 Uhr:
Sah ich gerade (bevor ich mir jetzt wieder Argo vornehme und dann aber zur Ärztin muß): In wikipedia hat jemand das abgekürzte „von“ mit der Bemerkung moniert, >>>> „abgekürztes ‚v.‘ ist sicherlich nicht der bürgerliche Name (das verwenden Adlige gerne zur Distinktion)“; die Bemerkung ist richtig, aber gemeint ist keine „Distinktion“ gegenüber dem ‚bürgerlichen Menschen‘, sondern eine gegenüber solchen, die sich den Adelsvorsatz zur falschen Erhöhung der eigenen Hohlheit gekauft haben, die ihn also für die Selbstbewerbung tragen; der Unterschied ist kenntlich daran, daß das Prädikat nicht zum Namen gehört; entsprechend anders wird man als Aristokrat in den Registraturen geführt… jedenfalls sollte das so sein. Unterdessen, leider, verschwimmt das selbst in den Ämtern, was wiederum den Kaufadel stärkt, ihn sozusagen gleichrangig macht, auch wenn er eben keine Anciennität und schon gar keine Leistung kennt, die sich den Zusatz verdient hat. Sondern es geht nurmehr um Schein und um Geld: um gekauften Schein. Kein Aristokat stellte sich jemals mit „von“ vor, sondern man nennt seinen Namen – „Wolzogen“, „Goltz“, meinetwegen auch „Ribbentrop“ – und gut is‘. – Dieser Absatz gelte dem Umgang mit Traditionen und kulturellen Wurzeln, >>>> auch wenn Benjamin selbstverständlich recht damit hat, daß „niemals ein Dokument der Kultur“ sei, „ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“.

17 thoughts on “Arbeitsjournal. Nun wieder Argo, noch aber etwas eingeschränkt. Mittwoch, der 15. August 2012. Abermals zur Selbstermächtigung. Mit Natalia Wörner sowie einer kleinen Bemerkung zur Aristokratie.

  1. Das Feuilleton der Tageszeitungen wird sich ganz von selbst abschaffen, es sei denn, man benennt es in „Meinungsseite“ um. Nur so werden sich meiner Ansicht nach die vielen Hinrichtungen auf den Feuilleton-Seiten noch verkaufen lassen, nämlich auf Grundlage der Lust des Lesers an Verrissen, versteckten Gemeinheiten und lächelnd vorgetragenen Aburteilungen. Und was die „Unzeitgemäßheit“ der Literatur angeht, so kann ich nur sagen, daß es mir völlig egal ist, ob ein Text 2500 Jahre oder fünf Minuten alt ist, denn er trifft ja auf mich und ich auf ihn eben j e t z t. Mein Roman, den ich im Moment überarbeite (bei mir nachzuverfolgen unter http://nwschlinkert.de/2012/08/12/dem-roman-seine-ueberarbeitung-i/ …), spielt auch vor dreihundert Jahren, die in ihm behandelten existentiellen Fragen sind aber ohnehin quasi zeitlos, der Verlags- und Autoreninstallationspolitik zum Trotz.

    1. @Schlinkert. Ich meine nicht die Sujets der Erzählungen, sondern daß unsere Art der Wahrnehmung von Welt definitiv eine andere, qualitativ andere, geworden ist, als sie vor dreihundert, ja selbst zweihundert Jahren überhaupt sein konnte. Das Gehirn reagiert anders und stellt sich, je schon in der nächsten Generation, auf gänzlich neue Formen der Wahrnehmung und also auf eine je neue Realität ein. Das ist von jedem sehr leicht zu beobachten, die und der Kinder hat. Allein die Befähigung zur Schnelligkeit in den Reaktionen und die Reaktionsschnelligkeit selbst verändern die Wahrnehmung der Welt ebenso wie die Welt. Man selbst kommt kaum nach, wenngleich die je folgende Generation bereits zügig am Ziel ist und die Situationen geradezu lässig überblickt. Daraus folgt ein beeilter Evolutionsprozeß, als käme der Motor überhaupt erst in Fahrt. Es geht dabei tatsächlich nicht, wenn wir über Literatur reden, um das objektive Alter einer Erzählung, sondern darum, daß sich verändert, erst einmal, ob, und dann, wie er wahrgenommen wird: die Bedeutungen verändern sich mit der Rezeptionsqualität. Eigentlich – „ursprünglich“ – Gemeintes kann dabei durchaus verlorengehen; ein anderes kommt dafür hinzu. Es mag ein Qualitätsmermal von Dichtung – und anderer Künste – sein, ob sie dieses Neue zu tragen vermag, also als Projektionsfläche des Neuen etwas hergibt.

    2. @ANH Die Wahrnehmung von Literatur ist ja das Lesen selbst, das sich nicht beschleunigen läßt, ebensowenig wie sich eine in Moll gehaltene Szene in einer Oper beschleunigen lassen kann, ohne sie damit vollkommen zu ruinieren oder eher sogar ganz zu vernichten. Der Takt der Welt beschleunigt sich aber in der Tat, woraus folgt, die Wahrnehmungsfähigkeit des Einzelnen schon in jungen Jahren fördern zu müssen, um neben die von außen aufgezwungene Beschleunigung das Maß für Menschliches zu setzen, um Lust zu machen auf Eigenes. Ob der „beeilte Evolutionsprozeß“ als solcher sich adäquat in Literatur verlebendigen und sinnvoll verknüpfen läßt, ist dabei eine andere Frage – ich denke, das funktioniert eher nicht. Die Folgen dieser Prozesse aber für den Menschen sind wie eh und je Kern der Literatur, so daß vielleicht aus ihrer Unzeitgemäßheit eine Stärke werden wird – die Oper boomt ja auch, trotz ihrer Langsamkeit.

    3. Es gibt fraglos eine perennierende Veränderung der Wahrnehmung und auch des Wahrgenommenen. Aber eine mindestens ebenso bedenkenswerte Tatsache besteht darin, daß die Sprache (als System) dabei relativ stabil geblieben ist. Natürlich verändert sich auch die Sprache. Aber in einem ganz anderen Maße.

    4. @tom. Was sich damit erklären ließe, daß sich, >>>> Vilém Flusser zufolge, das technische Bild vor das Schriftzeichen schiebt, bzw, dessen Funktionen zunehmend übernimmt. Wichtig daran ist eigentlich, daß zum „zwischen den Zeilen zu lesen“ ein „zwischen den Zeilen zu sehen“ tritt. Unter anderem. Denn zu dem technischen Bild, dem der Begriff entspräche, kommt ein poetisches Bild, das dem Wort entspricht – und eben nicht entspricht. Wenn wir Sprachler das meistern sollten, wäre etwas zur Welt hinzugekommen, zur Sprachwelt nämlich. Insofern ist tatsächlich kein Verlust zu beklagen.

      [Kyberrealismus.]
    5. Was den Metaphern recht, kann den Kategorien billig sein. Auch Kategorien sind (am wenigsten noch bei Kant, wo sie apriorische Denkformen sind und mithin transzendentalphilosophisch ent-schärft) Begriffe, denen etwas entspricht und eben nicht entspricht. Sie entsprechen nämlich und entsprechen nicht: der Vielheit des Seienden.

    6. „Was den Metaphern recht, kann den Kategorien billig sein.“
      Wer solches Zeug liest (ich), würde angesichts dieser sich-treiben-lassenden-Pseudo-Intellektualität einfach gern das Radiergummi zücken…

      Kann ich nicht. Macht aber nix. Warum auch?
      Seid einfach weiter froh in Euren Beschränkungen.

      (Empfehlung: Leonardos Rötel-Zeichnungen)

    7. @Vorbeikommer – oh! Daß es bei Metapher und Kategorie hinsichtlich der T r e f f l i c h k e i t des Ausdruckes (König) eine strukturelle Nachbarschaft gibt ist zweifelsohne erwähnenswert. Weshalb einen solchen Hinweis ausradieren?
      Ob die Verstandesleistung hier scheinbar oder echt ist – ist eine ganz andere Frage. Testen Sie doch mit Ihrem Radiergummi die Echtheit von Leonardis Rötel-Zeichnungen, so ganz im Vorbeikommen.

    8. Ach, Tom, gut gedacht und auch wahrscheinlich auch gut gemeint…
      .. aber damit sofort vergessen.

      Der Eintrag von „Vorbeikommer“ scheint doch eher die Natürlichkeit zu vermissen. Deshalb wahrscheinlich der Hinweis auf Leonardo.

      Vielleicht ein verunglückter Kommentar, aber trotzdem: Sehr treffend.

    9. @zeichner. Knapp verfehlt ist auch vorbei Natürlichkeit im hier gemeinten Sinne kannte das Quattrocento nicht, konnte es nicht kennen. Das ist ein ideologischer Komplex aus dem 19. Jahrhundert. Wohl aber kannte der große Lionardo: die Natur. Unvergessen!

    10. „seid weiter so in euren beschränkungen“

      herrje, wer denn nützt nicht beschränkungen aus ?
      macht ein wenig casinokapital draus, beutig gar, und verdrückt eusich nachher mit dem zaster.

      ätiologische kon-zepte.

      wir müssen sehen, die wir noch nachsehen können.

    11. hauptsache ist doch, dass es den sensiblen gut geht.
      grob sein kann jede(r)
      schnell sein nicht unbedingt, folkes.
      consider.

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