[Arbeitswohnung.]
Das hat mich Kraft gekostet: Buchhaltung, Aufstellung Gewinn/Verlust für sechs Monate, Stundungsantrag ans Bundesverwaltungsamt. Irgendwann war ich, gestern gegen abend, derart frustriert davon, daß aus dem Antrag ein ziemlich pathetischer Brief wurde. Erschöpft empfing ich dann Brossmann wegen seiner Idee, die Textform der Neuen Fröhlichen Wissenschaft auf unmittelbar zeitgenössische Füße zu stellen. So erschöpft, daß ich gar nicht mehr speziell fragte und wirklich mitdachte, sondern nur noch Musik hörte mit ihm, trank mit ihm und ihm dann irgendwann nachts aus Argo vorlas, allein, um mich mir selbst zu vergegenwärtigen, wer ich bin, was ich mache, ob der Text es rechtfertigt. Kurz, ich brauchte Bestätigung, mehr von mir selbst als von ihm: Ja, es lohnt sich mußte ich mir sagen können, ja, das alles ist richtig. So ganz gelang das nicht, sonst wäre ich, nachdem der Freund wieder fortwar, ins Bett gegangen, wie ich es ihm ankündigte. Tat ich aber nicht, sondern schlug mir noch einen Krimi um die Ohren, über den ich mehrmals einschlief, bis ich, mich zusammenreißend, der Aktion ein Ende machte. Da war dann aber die zweite Flasche Wein schon leer, so daß ich eben erst, um 6 Uhr, hochgekommen bin – aber als Vornahme diesmal, entschieden um 5 Uhr im Kampf mit dem Ifönchenwecker.
Latte macchiato, erste Morgenpfeife. Wollte sofort an Argo, gar nicht erst ans Arbeitsjournal, aber dann kommt die Pflicht >>>> zu dokumentieren und daraus folgte das Arbeitsjournal. Als Halt, wenn Sie so wollen. Als eine schöne Gewohnheit (die schön selbstverständlich nicht ist, sondern ebenfalls nichts anderes als eine tägliche Selbstvergewisserung. Nichts hilft besser gegen den Zweifel als das Fakt -).
Es war noch etwas anderes zu verkraften, zu verdauen, runterzuschlucken: daß das Hessische Literaturforum den großen Verlagsabend der >>>> Kulturmaschinen, der für die Buchmesse längst abgemacht war, gecancelt hat. Das ist mehr noch als für mich, der ich da aber auch ein neues Buch haben werde, für Gogolin furchtbar. Der steht nun mit einem >>>> neuen Roman auf der Buchmesse da, ohne daß der Verlag präsent ist und ohne daß er eine Lesung darauf hat, um den Roman auch vorzustellen. Was nicht bekannt ist, kann auch nicht unter die Leute kommen. Man hat den Eindruck, in eine Leere zu schreiben, die aber ja voll ist; nur selbst steht man draußen. Lauter Ungeschicklichkeiten. Keiner von uns hat jetzt Lust, den Verlag anzurufen, obwohl irre dringend gehandelt werden müßte; wir sind überzeugt, er hat beim Literaturforum, nachdem die Veranstaltung ins Auge genommen worden war, nämlich während der Buchmesse Leipzig, nicht nachgehakt, hat sich keinen Termin geben lassen, und dort wird man die Angelegenheit einfach aus dem Auge verloren haben. So daß es nun zu spät ist. Ich habe an Oberländer, den Leiter des Forums, nur geschrieben:Das ist schlimm – für alle im Umfeld des Verlags Beteiligten. Sehr, sehr schlimm. Fast eine Katastrophe. Und in der Kürze auch nicht mehr aufzufangen. Für mich heißt das: ein Buch in einem kleinen Verlag ohne jede Präsenz auf der Messe.
Schade.
Wir können uns nur noch auf das Netz verlassen. Der „normale“ Betrieb schließt uns aus – vielleicht auch, weil wir uns auf das Netz verlassen, das ihm zunehmend zum Feind wird, in Sachen Urheberrecht etwa. Du mußt nur die Laufrichtung ändern, sagte die Katze und fraß sie.
Die Löwin geweckt, die im achten Bezirk einen frühen Termin habe, wie sie mir gestern nacht erzählte, was ich aber nur halb wahrnahm, doch unbewußt genug, daß es eben pünktlich in mir aufstieg.
Unbehagen verschafft es uns, daß die Kulturmaschinen keine Präsenz auf der Frankfurter Buchmesse zeigen wollen. Das hat Kostengründe und ist deshalb sehr nachvollziehbar. Dennoch ist es schädlich. Sie favorisieren die Leipziger Messe, die aber Kuschelmesse ist, nicht Geschäft. Man fühlt sich so wohl da. Das mag angehen, wenn man ein Buch hat, das im Frühjahr erscheint. Im Herbst erscheinende Bücher aber sind tot, sozusagen werden sie totgekuschelt. Oder man müßte insgesamt neben dem normalen Markt agieren, bewußt daneben, aber muß dann dennoch Präsenz zeigen, etwa im Feuilleton. Das eine nicht u n d das andere nicht bedeutet den Untergang für einen Verlag. Weil neue Verlage sowieso keiner will, vor allem dann nicht, wenn auf sie kein Einfluß genommen werden kann; doch selbst, wenn sie Lieblinge sind, wie >>>> Kookbooks war, und gehypt werden, haben sie unterm Strich kaum eine Chance. Das liegt auch daran, daß die Backlists dieser kleinen Verlage nicht mehr funktionieren, die darüber hinaus ein Alleinstellungsmerkmal brauchen, um in den Köpfen zu bleiben, sei‘s, daß bei ihnen die neue Lyrik-Szene oder überhaupt eine spezielle Szene verlegt wird, sei‘s, daß ihre Bücher in Herstellung und Gestaltung von besonderer Schönheit sind. Letztres trifft auf die Kulturmaschinen nun überhaupt nicht zu, eher im Gegenteil. Dort muß man auf die Erzählkraft der Autoren setzen und die Autoren ganz besonders präsent machen, so, wie mir der Programmchef von Klett-Cotta, ohne daß er das freilich umsetzen würde, gesagt hat: „Wir sind der Verlag der großen Solitäre“. Womit er um mich warb, um schließlich doch das Risiko zu scheuen. Zu viel Gegenwind im Betrieb. Da sind ja beinahe rundweg weichliche Menschen beschäftigt, die eine Stirn gar nicht haben, um sie dem Sturm auch bieten zu können, ängstliche Menschen, die nach jeder politischen Correctness greifen, um sich den sicheren Weg vorzutasten. – Ausnahmen gibt es.
Unbestritten.
Wenige.
Da ist der Raum eng.
Achternbusch: Du hast keine Chance, also nutze sie – oder hat er „aber“ geschrieben? … aber? nutze sie – – – ? – Argo.
(Wenn ich mir permanent klarmache, daß ich im K a m p f stehe, in einem unentwegten, geht es mir besser. Ich darf nur nicht den Fehler begehen, „ankommen“ zu wollen. Es darf keine Ruhephasen geben. Laß ich sie zu, bin ich verloren. Viel Zeit bleibt nicht. Vielleicht noch dreißig Jahre. Dann muß das Werk für sich alleine stehen können, ohne mich. Weil ich dann nicht mehr bin.
Manchmal macht das müde. Aber bisher ist es mir immer noch gelungen, diese Müdigkeit zu Wut umzuformen. Deshalb sollte ich wieder Sport treiben. Denn um den dauernden Kampf auch durchzustehen, braucht es einen guten Körper. Er allein ist der Schlüssel.)
13.10 Uhr:
Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Was die Kulturmaschinen leisten, ist mehr, als Einzelne eigentlich leisten können (und können müssen sollten); da stehen sie für eine ganze Reihe von kleinen Verlagen, die an der Grenze ihrer Existenz… ja: kämpfen, um Wahrgenommenwerden und die Vision, die sie haben. Ihre Überzeugungen, poetische, auch politische, menschliche. De facto ist, was wir Autoren von ihnen verlangen, für sie nicht zu leisten, wir aber, umgekehrt, müssen es verlangen. Da sind die Konflikte. Und der Markt verlangt es überdies. Er will auch nicht hören, daß hier kein Geld und dort kein Geld ist, er will nicht hören, was die Seele ist, die einen treibt. Wir Autoren müssen das hören. Dennoch müssen wir, gerade, wenn wir nicht berühmt genug sind, um uns in aller Grandezza – egal, ob auch das bald schon wieder den Bach runtergeht – einfach dem Tagwerk zuzuwenden, öffentlich ausdrücken können. Auch wir riskieren Existenz.
Selbstverständlich weiß ich, daß das, was ich heute früh schrieb, die Menschen verletzen wird; ich weiß aber auch, daß die Position, aus der man lebt, klargestellt gehört, und zwar öffentlich. Daß gesprochen werden muß, und zwar öffentlich. Daß klarwerden muß, im allgemeinen Bewußtsein, wie die Situation ist, wie der Markt funktioniert, wie massiv Deutungshoheiten durchgesetzt werden und daß denen gegenüber kleine Verlage allenfalls Spielbälle sind, mit denen sich die Mächtigen oder scheinbar Mächtigen (ich hatte gerade so einen Briefwechsel mit einer Anhängerin Reich-Ranickis) hin und wieder mal die Pausen versüßen; sie sind, die kleinen Verlage, wie Schokoriegel für den kleinen Hunger zwischendurch. Hat man sie aufgelutscht, wirft man sie weg, also ihre leeren Hüllen. Es hängen aber Existenzen daran. Wie viele kleine Verlage haben es in den letzten zwei Jahrzehnten geschafft, daß sie immer noch da sind? Das halte man sich vor die Augen.
Die Situation ist, wie sie ist. Ich habe mich für die Kulturmaschinen entschieden und trage deshalb die Schwächen mit, auch wenn sie mich nerven. Ich werde sagen, wenn mich etwas nervt, schon, um nichts in mich hineinzufressen. Mein Forum ist öffentlich; jeder, der mich kennt, weiß das, spätestens seit dem Buchprozeß. Wer das nicht will, muß mich meiden. Dennoch bleibe ich hinter dem und für den Verlag stehen und geh mit ihm voran oder schieb ihn voran und werde seine Vision mitfördern. Soweit ich das vermag.
Wir leben im Wirtschaftsliberalismus. Der ist bekannt dafür, daß er Schwaches ausscheidet – und das, was man für schwach gelten läßt. Tatsächlich steckt hinter kleinen Verlagen, so auch den Kulturmaschinen, aber Stärke – sehr viel mehr, als ein Konzernverlag sie hat: Stärke des Muts und des Glaubens an das, was man tut. Die Fehler sind da einprogrammiert, Schlampereien, Vergeßlichkeiten und Fehler. Das sind sie bei den großen Verlagen auch, aber die können, da die Kapitaldecke ungleich größer, besser kaschieren. Und ihnen sieht man’s nach. Weil, wie wir wissen, die eine Krähe, wenn sie gut im Nest sitzt, der anderen nicht das Auge… solange die nicht ins gleiche Nest mit hinweinwill.
Wie Sie lesen können, ist mein Kampfgeist zurück.
Es wird also im >>>> Literaturforum zur Buchmesse Frankfurt den Verlagsabend g e b e n. Mit Peter H. Gogolin, Phyllis Kiehl, Leander Sukov und mir.
Das hat mein Schreiben rumgerissen.
Und jetzt leg ich mich schlafen. Um 15 Uhr kommt der Veranstalter der Lesung des 17. Oktobers zur ersten Vorbesprechung her. An Argo grad mal eine Seite geschafft.
19 Uhr:
[Magdalena Kožená, immer wieder, >>>> Lettere amorose.]
Und sowieso gibt es Lichtblicke, es ist nicht alles dunkel. Über Facebook schreibt mir jemand:Aber Sie haben keinen Grund ohne Hoffnung zu sein, da ich klar zu erkennen meine, dass Ihnen aus meiner Generation doch zunehmend begeisterte Resonanz zuteil wird.
Jedem Anderen würde ich raten: Seien Sie stark.
Aber Sie verfügen über so viel Verve und Biss, dass ich Ihnen zurufen möchte: Seien Sie auch schwach!
Und schillern Sie weiterhin. Das ist nicht nur dieser jungen Dame aufgefallen, sondern auch लक्ष्मी, vor einigen Tagen: „Du bist dabei, ein Guru zu werden.“ Zwar ist das nichts, das jemand von etwas Verstand anstreben wollte, geschweige sollte, ein Zeichen aber doch. In der Tat geht es ja nicht um die Jetzigen, sondern um die Kommenden. Die Vorstellung, daß in zweihundert Jahren jemand, die oder der in einem Raumschiff auf dem Weg zum Jupiter sitzt, >>>> die Elegien auf dem Schoß hat, immer wieder hineinliest, aufsieht, denkt, fühlt, weiterliest, finde ich tief beglückend – nicht anders, als jetzt ich der Kožená zuhöre, wie sie Barbara Strozzis „Udite amanti“ singt, einer vor knapp vierhundert Jahren geborenen Komponistin (!), der dieses Lied vor vielleicht 350 Jahren zum ersten Mal durch den Kopf ging, das ich jetzt, heute, mitsumme und das ich nachfühle wie mein eigen. Der Erfolg zu Lebzeiten und seine Wohltaten gehen mit unserm Tod dahin. Da hat er recht, >>>> der Dr. No. Wenn wir uns das, als Künstler, immer mal wieder vor Augen halten, relativieren sich die Härten s e h r.
Aber Argo hat a bisserl gelitten, da das Gespräch wegen der Veranstaltung am 17. Oktober und einige Telefonate zu führen waren, aus gegebenem, von mir selbst hinausprovoziertem Anlaß.
Oh! „Folle se ben chi si crede“ – Ich habe mich verliebt, habe mich in Magdalena Kožená verliebt. Fürcht‘ ich. Wenn es das gibt, einen Himmel, dann: Danke, danke, grazie al cielo!
verzweifelt weitermachen … … lieber ANH, empfehle ich Ihnen/Dir wie uns allen. Weiter posten gegen den Betrieb. Hatten wir’s in Kiel nicht genauso – mutig fast, aufbegehrend schien es mir in jener Nacht eines letzten Sommerns Aufbäumens – einverstanden geradezu beschlossen? Wir sind die Vorhut, der man erst später nachsingen wird. Klingt pathetisch, ist aber Fakt. Also unverzagt im Verzagen weitersagen gegen und für, gegen die Gitter des Betriebs, für einen neuen – uns’ren! Gruß vom noch wachen ögyr
Nebenbei bemerkt… … sollten Sie Ihren Kulturmaschinen ´mal den Tipp geben, etwas mehr Zeit in das Design und die Pflege der Internetpräsenz zu investieren, möglicherweise hätte man dann auch mehr Lust, Bücher aus dem Programm zu ordern.
Viele der „Produktdetails“ (meine Güte, was ein Wort) mit Fehlern in der Zeichensetzung, kaum eine Seite mit einer stimmigen Formatierung.
Die Vorankündigung Ihres Essaybandes hat beispielsweise das Ungeschick einer ungeschlossenen Parenthese erwischt. Eine Nebensache, sicher, aber mich stört so etwas, das will ich auf einer Verlagsseite nicht sehen. .
@Blackbird. Ich bin da ganz Ihrer Meinung.
Aber die Realität kleiner Verlage ist heimtückisch. Man muß sich klarmachen, daß die Leute, oft nur zwei, bisweilen drei, ohnedies schon an den Grenzen ihrer physischen, psychischen und auch ökonomischen Kapazität leben müssen. Das ist, als stemmte man stündlich Zentner um Zentner, wenn nicht Tonnen, in die Höhe. Es ist ja nicht nur der Satz zu besorgen, sondern an solch einem Unternehmen hängt wahnsinnig viel zugleich; allein die Post beschäftigt oft über Stunden. Imgrunde geht das – so, daß man dennoch nicht permanent in die Knie geht – nur mit so etwas wie krimineller Energie, die einfach nicht jederfraus/mans Sache ist.
Dennoch. Ich bin da ganz Ihrer Meinung. Aber: Ich bin nicht der Verlag. Meine Möglichkeiten, Einfluß zu nehmen, sind begrenzt; sie beschränken sich darauf, Ratschläge zu geben, ohne daß ich die Möglichkeit hätte, noch auch das Recht, sie mit umzusetzen. Bei einem Autorenverlag wäre das etwas anderes.
Dazu kommt das Verhältnis von Freunden. Man möchte schützen, irgendwie, aber eben auch geschützt werden. Was sich widerspricht, wenn die Konstellation so wie hier ist. Eigentlich soll einen ein Verlag ja vertreten, einem genau das von den Schultern nehmen. Das klappt freilich auch bei großen Verlagen eher selten, die allein für Webpräsenzen ihre Korrektoren haben. Die indes bezahlt werden müssen.
Ja, das ist alles richtig! Lieber Alban Nikolai Herbst,
kann der Bürger dem Künstler Mut zusprechen? Vermutlich nicht.
Trotzdem, Ihre Netzpräsenz ist Präsenz. Der Pflicht zu dokumentieren entspricht das Vergnügen des Lesens der Leser (auch „mit ohne“ Kommentierungen). Kunstvolle Netzpräsenz – und über die reden wir hier bei Ihnen – ist ständige Ermunterung, einmal wieder Alban Nikolai Herbst zu lesen. Zu empfehlen, die Bücher zu verschenken, den Namen also weiter zu geben. „Dschungel“ lesen, das ist, wie an den Bücherrücken seiner Bibliothek vorbei zu gehen.
Der Raum ist eng. Das ist es.
Ich habe dieses Jahr einige Ihrer Geschichten aus „Azreds Buch“ gelesen (einige grandios) und den Anfang von „Thetis“ (okay, aber nicht so gut wie „Wolpertinger“). Aber wem davon erzählen?
Den Verlagen fehlen die Käufer, dem Autor die Leser, der Republik die Republikaner, der Kirche die Gläubigen. Der Raum ist eng. Andererseits – war er das nicht schon immer?
Das Werk wächst; darauf kommt es an. Phantasie und Kreativität, letztlich also Qualität, setzt sich einmal durch, wird wieder entdeckt, wann weiß man nicht, freilich, aber irgendwann. Das gilt aber natürlich auch außerhalb der Literatur. Wie gesagt, der Raum ist eng. Aber das war er schon immer.
Beste Grüße
NO
@Dr. No zu Thetis. Schön, daß Sie sich wieder einmal zu Wort melden. Und danke.
Was Thetis anbelangt, habe ich unterdessen die immer wieder bestätigte Erfahrung gemacht, daß Leute, die den Wopertinger mögen, Thetis geringer schätzen, umgekehrt aber, und zwar deutlich, auch. Die besten Beispiele für diese eigenartige Konstellation sind sicher Wilhelm Kühlmann und Ralf Schnell, beide überaus bekannte Philologen, deren Blicke aber jeweils auf Verschiedenes fallen. Tatsächlich funktioniert Thetis anders als der Wolpertinger; der Roman ist prozeßhaft angelegt, mit ganz anders sich verschleifenden Identitäten, als das im Wolpertinger der Fall war, dessen poetisch logische Konsequenz Thetis aber ist – Thetis und die beiden Folgebände, deren zweiter im Herbst nächsten Jahres endlich vorliegen soll. Thetis arbeitet mit historischen Tableaux, was auch anders als im mikroskopischen, will sagen: sehr indiviualistischen Wolpertinger ist. Die Personen in Thetis sind selbst schon Prozeß, sind zu sich ineinanderdrehenden Informationen geworden. Das liegt auch an dem unterlaufenden Thema: nämlich dem Krieg; in einem speziellen Sinn ist Thetis die laufende Mitschrift des Meuchelns auf dem Balkan geworden und gipfelt, am Eingang zum dritten Band Argo, in 9/11, nämlich dem dort fortan immer so genannten „Nullgrund“, der ganz so wie in Thetis die Geologische Revision Fundament des Buches und wiederum seiner Tableaux wird: gespiegelt auf sehr persönliche und „kleine“ Alltagsrealitäten.
um einmal wieder von Joyce zu Thetis zu kommen: Lieber Herr Herbst,
ich ahnte ja schon, dass das nicht ganz leicht wird. Also, nicht leicht für den Nicht-Literaten.
„Der Roman ist prozesshaft angelegt“. Was heißt das? In jedem Roman gibt es mindestens einen Prozess, seien die Entwicklungsschritte auch noch so klein oder gar rückwärts. Ein Essay ist ohne Prozess, sondern folgt der Logik. Auch im Wolpertinger gibt es 3 oder 4 Prozesse. Wie muss ich Ihre Bemerkung verstehen?
„Thetis arbeitet mit historischen Tableaux“ – sagt mir ähnlich wenig. Sie greifen auf alte Mythen zurück. Gut, haben Sie schon immer gemacht. So viel zum Wortbestandteil Geschichte. Die geologische Revision – die Erde ändert sich (wieder) – ist Fundament von Thetis und dessen Tableaux – heißt was? Der Rückfall in die Steinzeit (oder in die Balkankriege) ist die historisch-tatsächliche Ebene, auf und in der der Roman spielt? Aber das wäre ja selbstverständlich!?? Der existierende Sozialismus und der Fall der DDR ist dann das Tableaux, welches die Basis bildet für Tellkamps „Turm“?
Beste Grüße
NO
@Blackbird und @ANH Die Website der KM ist vergleichsweise professionell. Tippfehler hin oder her – andere „kleinere“ Verlage schaffen es nicht mal, die Termine regelmäßig einzutragen resp. die Seite überhaupt zu aktualisieren.
Der weite und der enge Raum … … oder „die Qualität setzt sich durch“. Das habe ich auch mal geglaubt, lieber @Dr. No – aber das ist ein Kinderglaube. Ich habe das, obwohl ich es aus täglicher Schreib- und Publikationserfahrung heraus längst hätte wissen müssen, freilich erst sehr spät wirklich begriffen. Da nämlich, als mir die große Ähnlichkeit dieser Qualitäts-Aussage mit meiner Kindheitsvorstellung von der Philosophie klar wurde. Als ich als 13jähriger in den öffentlichen Bibliotheken meiner Heimatstadt auf die Philosophie traf und damit begann, Platon und Seneca zu lesen (in dieser Reihenfolge), da dachte ich, dass da die Wahrheit verhandelt werde, was ja auch der Fall ist. Und ich müsse mich nur hinsetzen, um die Philosophie von den Anfängen bis in die Gegenwart zu lesen, um zu erleben, dass auf diesem Wege immer mehr Fehler und falsche Vorstellungen ausgeschieden werden, bis sich am Ende tatsächlich „die Wahrheit“ durchgesetzt haben würde. (Ich war, ohne es zu wissen, Hegelianer.) Aber das war aber natürlich Unsinn, denn die Wahrheit kommt ebenso wenig zur Erscheinung wie der Weltgeist. Wir tragen freilich alle solche teleologischen Vorstellungen mit uns herum. Der eine wähnt die ganze Menschheitsentwicklung in einem solchen Gang, weil er sonst über die Realität vor seinen Augen verzweifeln müsste. Kant glaubte gar die gesellschaftliche Entwicklung auf einem natürlichen Weg in einen bürgerlich, freiheitlich demokratischen Staat. Da ist es vielleicht verzeihbarer, wenn man nur an das Hervortreten der letztlichen Wahrheit oder an das sich Durchsetzen der literarischen Qualität glaubt. Aber Kinderglaube bleibt es trotzdem allemal. Nichts setzt sich durch. Und wieviel ‚Qualität‘ wird bewusst weggeschmissen oder einfach ignoriert und übergangen. Oder auch einfach vom täglich permanenten Rauschen zugedeckt.
Na egal, ich für meinen Teil habe niemals geschrieben, weil ich irgendwie Qualität produzieren wollte. Was ich geschrieben habe, das habe ich so und nicht anders geschrieben, weil ich im jeweiligen Moment nicht anders schreiben konnte – oder genau gesagt: etwas besser hätte ich vielleicht jeweils noch gekonnt, wenn ich mich angestrengt hätte, schlechter aber nicht.
Gruß in die Runde, und haltet die Qualität hoch, Leute!
PHG
Wir müssen@PHG. Durchkämpfen. Was andere nicht durchkämpfen wollen. Jemand, der das sehr genau gewußt hat, ist Richard Wagner gewesen (nicht den rumäniendeutschen Schriftsteller meine ich… muß man ja dazuschreiben unterdessen). Das Konzept, Kunst eben nicht als feudale Unterhaltungsunterrmischung zu verstehen, sich in Paris über die erst zum zweiten Akt Kommenden zu erregen (was seinerzeit dort Usus gewesen), sondern eine Musik so zu komponieren, daß man, kommt man erst zum zweiten Aufzug, schlichtweg nichts mehr versteht…. das durchzusetzen, geschah gegen Widerstände. Wagner scheute zur Durchsetzung seiner Arbeit auch nicht vor kriminellen Akten zurück; als einen solchen kann man die Inbrandsetzung eines Opernhauses wohl verstehen, und man muß begreifen, daß das mit dem eigentlichen 1848 sehr wenig zu tun hatte, sondern schlichtweg damit, daß da einer war, der seine Arbeit in einen Boden rammen mußte, der sie nicht haben wollte. Luwig II. kam erst sehr viel später, und ohne die Akte des Aufmerksammachens um beinah jeden Preis hätte er möglicherweise von dem Komponisten nie was erfahren. Übrigens ist Rainald Goetzens Klagenfurter Aktion gar nicht viel anders einzuschätzen. Und Benn hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Klassiker werden gemacht.“ Macht sie keiner, müssen sie es selbst tun, egal, ob sie genial sind oder nicht. Wie schlimm es ausgehen kann, wissen wir von Johann Sebastian Bach. Man lese nur mal seine Bettelbriefe und vergleiche den werbetechnisch raffinierten Georg Friedrich Händel damit – den wahrscheinlich ersten Superstar der Weltgeschichte. Bach wäre ohne Mendelssohn heute vergessen. So viel zur Qualität, die sich durchsetzt. Nein: irgend wer setzt sie durch, durch persönliches Engagement.
to whom it may concern Natürlich setzt irgendjemand Qualität durch, das ist doch selbstverständlich. In der Regel der, der Qualität schafft. So ist das jdf. außerhalb des sagenumwobenen Literaturbetriebes. Man frage also sich durchaus immer auch selber, ob es denn Qualität ist, was man da so macht. Falls nein, könnte eben auch das einer der Gründe sein, dass der Betrieb ablehnt.
Aber falls ja, mag der Belohnung in der Tat dennoch lange ausbleiben. Sehr lange. In der Literatur vielleicht oft genug Generationen lang. So mancher hat dafür nicht lange genug gelebt. Aber so ist das nun mal, der Raum ist eng. Manch‘ einen unsichtbar gebliebenen Guten allerdings (wenn auch vermutlich nicht alle) hat irgendjemand aber irgendwann doch posthum ausgegraben und durchgesetzt. Das tröstet keinen, ich weiß.
Aber ich wollte auch keinen trösten. Ich teile mit, wenn ich meine, Qualität gesehen zu haben. Das ist alles. Und hier sehe ich sie. Ob das zum Weitermachen Anlass gibt, kann ich nicht sagen, nur hoffen. Nur eines ist sicher: Ohne Werk, ohne Präsenz, keine Chance. Nur was ich sehe, kann ich begehren.
Was den Autor, den Künstler, von vielen Qualitätsschaffenden unterscheidet, ist, dass bei jenen Auferstehung immerhin möglich ist. Bei Finanzbeamten, Börsenmaklern, Anwälten, Kuratoren, beim Bäcker und beim Parkettschleifer ist es nicht möglich.
Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn mir jemand sagt: „Ich schreibe, denn ich kann nicht anders“. Und sei die Existenz auch noch so prekär. Dieser Furor, dieses Flackernde, Fiebriege, diese Verrücktheit, dieses Wollen, diese Verzweiflung. Ich sehe ANH, ich sehe Aléa Torik, ich sehe Ricarda Junge und Norbert Schlinkert – und man will Ihnen zurufen: Weiter so, ohne das geht es nicht. Im Literaturbetrieb nicht, aber übrigens auch sonst im Betrieb nicht. Ohne dies nichts Großes.
Also weiter kämpfen.
Beste Grüße
NO
@Dr. No zum Himmel gesprochen.
Des Trostes trotzdem bedürftig @Dr. No – Natürlich wird weiter gekämpft. Aber des Trostes ist man trotzdem hin und wieder bedürftig. Etwas, das mich stets sehr tröstet, nämlich die Musik, habe ich mal in folgendes Gedicht zu fassen versucht.
So ein Trost
Natürlich ist die Musik immer ein Trost.
Zum Beispiel Gerry Mulligans Saxophon
und Chet Bakers goldene Trompete.
Damals, vor dreißig Jahren, während
eines Konzerts in der Carnegie Hall
waren die beiden bei „Line for lions“
so miteinander im Gespräch
dass man hätte glauben können
nichts sei leichter als das Leben.
Und als sie dann endlich
„My funny Valentine“ spielten
da konnten sie sogar fliegen.
Alle haben’s gehört.
Aber solche Konzerte gehen eben vorbei.
Ewig junge Trompeter sehen plötzlich
so alt aus, dass sie den eigenen Anblick
im Toilettenspiegel nicht mehr ertragen.
Chet musste jahrelang üben, die Trompete
auch mit einer Zahnprothese zu spielen,
nachdem er seine echten gezwungenermaßen
in die Gosse gespuckt hatte. Und als er
Jahre später, Ende der achtziger, aus einem
Amsterdamer Hotelfenster kippte
vollgedröhnt bis unter die Haartolle
da war mit dem Fliegen Schluss.
Den letzten Gig erfüllen wir vielleicht alle
auf irgendeinem Kopfsteinpflaster.
Aber gerade deshalb ist die Musik
natürlich so ein Trost.
Auch wenn es nur diese sechs
oder sieben Minuten Flug sind
zwischen der Einleitung
und dem letzten Chorus
so weiß man doch
„There will never be another you”.
@PHG. Schon beeindruckend, wie >>>> fast gleich wir eben reagiert haben.
Chet Baker Lieber Herr/Frau PHG,
nicht nur manchmal, immer ist man des Trostes bedürftig. Und Musik ist sicher eine Stifterin. Für mich kämen noch zwei, drei andere davor. Kennen Sie zufällig Schillers Ballade vom Ritter Toggenburg?
Eine der größten Troststifterinnen ist Relativität. Sich selber und seinen Schmerz also nicht ganz so wichtig zu nehmen. Bei Aléa Torik hatte ich bei der Diskussion um „Das Geräusch des Werdens“ von einem alten Freund berichtet. Das Stichwort war „45 Kilo“. Der ist nun gestorben. Die Beerdigung ist heute.
Ihr Gedicht klingt ungewöhnlich für meine (ungeübten) Ohren. Aber je häufiger ich es lese, desto mehr gewöhne ich mich daran. Die entscheidende Zeile fühlt sich für mich besser an so: „Den letzten Gig spielen wir alle, vielleicht auf einem Kopfsteinpflaster.“ Aber wie auch immer, das ist – um es nicht zu sentimental auszudrücken – nicht unübel.
Beste Grüße
NO
Thetis … … ist die Mutter von Borkenbrod.
Und ein Meer?
Und Borkenbrod ein sprechender Name? Borkenkäfer? Kommiss-Brot? „Das Brot der frühen Jahre“? Buddenbrook? An was erinnert mich der Name bloß?
„Ich will Dich Buenos Aires nennen.“ Es ist aber Berlin, durch das Borkenbrod schreitet (und sich andere Städte mit hinein denkt). Das weiß man spätestens ab „Stargrader Straße“. Ein Berlin, das auszusehen scheint wie das Baustellen-Berlin der 90-ger (plus Neapel, London etc.), aber wohl ein Berlin der Zukunft ist. Oder der Vergangenheit. Von Borkenbrod erzählt ein Erzähler, der seine eigene Haustür ebenso zufallen sieht, wie die des Borkenbrods. Im dritten Absatz hat Alban Nikolai Herbst mal eben die dritte Perspektive eingeführt. Der Erzähler heißt Hans Erich Deters, ANHs alter ego. Unkomplizierter wird’s nicht, oder anders formuliert: Man muss sich schon ziemlich konzentrieren.
Deters ist kein Erzähler, er ist Filmer. „Die Kamera richtet sich auf seine Füße“, heißt es überraschend, Deters erzählt von einem, der ein Filmskript im Kopf schreibt, während der durch die Straßen geht, mit den Details, die der dabei sieht, welches die Details sein dürften, die auch Deters sieht, der ja auch durch die Straßen geht, wie Alban Nikolai Herbst erzählt. Witzig ist, diese Konstruktion las ich auch bei Thomas Lehr („Nabokovs Katze“, 1 Jahr nach „Thetis.Anderswelt“ erschienen), wo man auch häufig die Erzählung des Protagonisten von dessen Film im Kopf unterscheiden musste.
In der Anderswelt geht es um Vietnamesen, eine geheimnisvolle Frau, eine Diskette, eine Verabredung in einem Club, Sibelius‘ Vierte. Völlig unvermittelt: „Ein Blinder, der fotografiert, macht Tonbandaufnahmen“ (was ja nicht Aléa Torik’s „Marijan“ sein kann, sondern vermutliche eher mit Bavcar zusammenhängt). Hier geht es um viel mehr, das war nur die Einleitung. Es gibt zum Beispiel auch ein gefährliches Gelände da draußen hinterm Zaun, hinter den Grenzwachsoldaten, böses Gebiet wie bei „Unendlicher Spaß“.
„Die Straße afrikahell.“ ANH’s Dschungel-Prägung wird sichtbar.
„Wer in die Anderswelt tritt, verliert die Stetigkeit der Zeit. Städte sind Urwälder Dschungel. Es öffnet sich ein Tor wie ein Tür im Berg…Kommst Du nach wenigen Stunden wieder heraus, sind draußen 7 Jahre vergangen.“ Die magische 7. Der Zauberberg, auf dem die Welt oben „hermetisch“ abgeschlossen ist. Das Verstreichen der Zeit, immer schneller. Nicht Dr. Faustus, aber dennoch, ANH’s Thomas Mann-Prägung wird sichtbar.
Der irdische Kosmos läuft Amok. Es gibt eine Sündenflut…..
Einfach lesen das Buch? Rowohlt hat‘s gedruckt. Anders-Thetis. Welt-Roman.
Beste Grüße
NO
@Dr No, lächelnd. Thetis. Ja, das Meer u n d die Göttin. Das entspricht einer Auslegung der antiken Überlieferung. Das erdgeschichtliche Thetismeer entsprach Europa. Thetis ist Achilles‘ Mutter, was Borkenbrod aber nicht wissen kann, auch nicht, woher er stammt. Er ist erst einmal „nur“ der etwas hinkende Ostler Chill, der unbedingt nach Leuke möchte, Levkàs. Doch der Weg ganz nach Osten führt über den Westen hier. Sie werden sehen.
Das Vorspiel ist – Vorspiel, Präludium, das einer Ouvertüre gleichkommt: die späteren Themen werden, wie ich’s schon im Wolpertinger getan, vorgestellt, bzw. angespielt, oft heimlich kurz. Berlin wird abgeschritten und das spätere Buenos Aires hineinrpojeziert.
Kurz zu dem Namen Borkenbrod. Der Film, von dem Sie richtig schreiben, beginnt im Vorspann mit einem Thema aus Sibelius‘ vierter Sinfonie. So wird das auch erzählt. Nicht erzählt wird, daß diese Sinfonie bei ihrer Uraufführung wegen angeblicher Kargheit schrecklich durchfiel. Man verlieh ihr den Spottnamen „Borkenbrod“, was auf ein finnisches Sprichwort zurückgeht: jemand sei derart arm, daß er die Rinde (Borke) von Bäumen essen müsse.
Der fotografierende Blinde, der, notwendigerweise, eine Tonbandaufnahme macht, war seinerzeit meine eigene Erfindung. Ich bezog mich auf gar nichts, sondern der Satz war einfach nur logisch, und so fiel er mir ein.
Thomas Lehr, in der Tat, hat später ähnlich wie ich konstruiert. Bemerkenswert, daß Sie’s bemerkten. Sie sind bislang der einzige – jedenfalls der einzige, der es ausspricht. Lehr, den ich kenne, hat Thetis aber sicher nicht gekannt. Es gibt Phänomene wie Strukturen, die in der Zeit liegen. Wir haben sie nicht, sondern sie nehmen sich uns.
Borkenkäfer??? Mich lässt Borkenbrod natürlich sofort ans Shakespeare denken, und dort an Richard II. Vollmann fasst sehr gut zusammen, was man über den dort auftretenden Bolingbroke wissen sollte. „Bolingbroke, eigentlich Henry, Herzog von Hereford, Sohn Gaunts, Vetter Richard in Richard II., bringt durch seine hitzige Klage gegen Mowbray das Stück ins Rollen: er wird verbannt, und als Gaunt stirbt, nimmt Richard ihm alle seine Güter und Erbschaft weg; wütend kehrt er heimlich und dann mit einiger Gefolgschaft zurück, bringt die Großen auf seine feurige Seite; dann aber, die Macht kostend, bemächtigt er sich Richards, demütigt ihn, macht sich zum König und läßt am Ende alle umbringen, die noch etwas gegen ihn hatten; er hat ein Gutes: jenen Sohn, von dem er nie weiß, wo er gerade ist:-“ Rolf Vollmann „Shakespeares Arche“, S. 61
Es grüßt PHG
Thetis ist ….. ….. mehr. Ist Apokalypse.
Die Erde, wie wir sie kennen, verändert sich und ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ein Weltuntergang. Eine neue Sintflut. Eine neue Eiszeit sozusagen. Vulkanausbrüche, Erdbeben und verheerende Überschwemmungen. Klimawandel – bereits 1998 vorweggenommen. Das Thetismeer überschwemmt Europa. Und mit dem Wasser kommen die Plagen. Wie bei einem Buschbrand in Australien die Schlangen die Städte überschwemmen, so schwappt hier eine Riesenflut, ein Gigantenstrom von Würmern, armlangen, schwarzen, ekelhaften, beißenden Würmern, und von Schlangen, in die belebte Welt. Würmer und Schlangen, die die Menschen bekrabbeln und töten, beißen und töten …
Danach ist die Welt 3-geteilt, der arme schmutzige Osten, wo die Kloake hingeleitet wird, der goldenen Westen und die Zentralstadt. In bisschen wie bei David Foster Wallace in der Zukunft von „Infinite Jest“ (1996 erschienen), ein bisschen wie in der Vergangenheit des alten Deutschlands, des alten Europas.
Im Osten nur Arbeiter, unter Höllenbedingungen zum Schuften angehalten. „Suppe durch Arbeit“, heißt es, „Arbeit macht frei“, denke ich.
Der Westen reich und schön. Den Westlern fällt das richtige Handeln selbstgewiss zu, heißt es. Es ist die Rede von: „Wie man Freude gewinnt.“ Ein Buch? Dale Carnegie?
Borkenbrod ist der Sohn von Thetis. Passend heißt er mit Vornamen Achill, der von jener ja laut griechischer Mythologie fast, aber eben nur fast, unsterblich gemacht wurde; folglich wird Borkenbrod wohl diesen Roman nicht überleben. Borkenbrod wird Chill gerufen, warum auch immer. Sein Kumpel heißt Poseidon. Chill Borkenbrod sitzt im Osten und will nach Westen, wie alle, aber der Westen ist von einer Mauer umschlossen, zum Schutz gegen das Thetismeer, der Osten bleibt draußen.
Es gibt die Flüsse Lethe und Styx. Darüber las ich bei Dante. Borkenbrod hat aber – bislang – keinen Vergil, der ihn führt. Borkenbrod ist – bisher – allein. Das mag helfen, denn den Weg ins Zentrum findet, „nur wer der Liebe abschwört“ – das klingt nach dem Nibelung und dem Liebesverzichtsmotiv, und indiziert damit Götterdämmerung, Weltuntergang und Tod.
Borkenbrod will nach Levkas. Das Paradies – so hat er gehört, die Insel Shangri La, das Schlaraffenland. Wo man Pfirsiche von den Zweigen beißen kann und wo Kinder auf dem Rücken von Schildkröten schwimmen. Eine schöne kurze Passage. Beschrieb des Garten Eden, wo Milch und Honig fließt.
Deutlich eindrucksvoller als der Beschrieb des Garten Eden am Ende des Purgatoriums in der „Göttlichen Komödie“. Da will Borkenbrod nun hin. Kein Wunder, da wo er ist, im Osten, werden Kinder geopfert, um das Thetismeer zu beruhigen. Jeder tut alles, um in den Westen zu kommen.
Das Gesetz dieses Romans, heißt es in Rowohlts Klappentext, ist die ständige Verwandlung.
Lesen wir so weit?
Beste Grüße
NO
„Lesen wir so weit?“ (Mit einem Postskriptum an Dr. No). Ich weiß es nicht, doch nehme an, das „s“ des ersten Wortes sei durch ein „l“ zu ersetzen.
Deutlich eindrucksvoller als der Beschrieb des Garten Eden am Ende des Purgatoriums in der „Göttlichen Komödie“.Den Satz verstehe ich nicht ganz… Tippfehler?
Interessant wird – vielleicht – sein, wie der Osten, wie seine Imagination, sich später verändert: vom Zentrum aus gesehen, wenn der Trupp da dann ankommt. Aber daß es ein Trupp sein wird, wissen Sie ja noch nicht.
Übrigens: So gut wie keine der in dem später immer wieder so genannten „apokalyptischen Kapitel“ erzählten Katastrophen ist erfunden worden.
Auf Ihre Fragen, die in einem anderen Kommentar, werde ich noch antworten. Muß aber unbedingt erst mit den Korrekturfahnen für den Essayband fertigwerden, bis heute abend nämlich. Mein Cello wird abermals unberührt bleiben.
Wegen Ihres Bezug auf US – dazu kann ich nichts sagen, weil ich den Roman so weit nicht mehr gelesen habe.
Ihr
ANH
P.S.: Schauen Sie einmal: Ich habe den Titel dieses Arbeitsjournales geändert; so können die Thetis-Einträge hier sehr gut stehen und weiterstehen.
Thetis ist ….. ….. Science Fiktion.
Mit Drehmann tritt eine neue Figur auf. Sie ist programmiert. Sie, die Figur, vergisst ihren Büronachbarn. Drehmann wird ferngesteuert umprogrammiert, der Nachbar wird gelöscht über den Tag, die Neue gegenüber immer vertrauter. Drehmann wehrt sich, in dem er aufschreibt: „Hausmann nicht vergessen!“
Alban Nikolai Herbsts Perry-Rhodan-Prägung, die Science-Fiction-Prägung wird deutlich:
Wir sind in der Zukunft. In dieser Anderswelt gibt es, um mit Ridley Scott zu sprechen, Replikanten, humanoide Roboter, Blades und Blade Runners, Aliens. Wie hieß noch einmal dieser Wissenschaftler, der das Monster ins Raumschiff gelassen hatte, gegen Sigourney Weavers Willen, und der irgendwann auseinandergerissen wurde und trotzdem weitermachte, denn er war ein Roboter, mit menschlichem Fleisch, Haut und Haar überzogen?
Der verschwundenen Nachbar, Hausmann, war Kybernetiker. Heißt was? ANH, war das nicht eine Literaturtheorie?
Der Chef von Dreh- und Hausmann heißt Werfel. Allerdings nicht Franz Werfel. Allerdings, wer weiß? Werfel steht für Exil. Da mag ja noch ein Exilant kommen im Roman!?
Drehmann geht zu Fuß ins Büro, hätte sich aber auch „übers Netz hin-programmieren lasen können. Scotty beamt Pille und Mr. Spock hoch …
Es gibt einen Siemens/ESA-Direktor Beutlin. Beutlin? Doch nicht Frodo? Oder sein Vater mir den ganzen Zwergen und Feen? Mordor in der Anderswelt!? Aber nein, Alban Nikolai Herbst hat ja schon abgewunken, das las er erst Jahre später seinem Sohn vor. Also kein Sauron hier, kein Hobbit.
Drehmann sitzt bei seinen Freunden zum Skat. „Die erzählen vom Rollerball.“ Bitte? Etwa eine Reminiszenz an diesen alten Film aus den Siebzigern „rollerball“, wo 2 Mannschaften auf Rollschuhen in Höllentempo in einem Tempodrom um die Kreisbahn jagen, einer in die Bahn geschossenen kopfgroßen Kugel hinterher, und sich dabei gegenseitig umbringen? James Caan als Jontahan I und sein riesiger Freund, der ins Gehirn und damit zur „Pflanze“ geschlagen wird?
Das Essen ist synthetisch in dieser Anderswelt. Tote mit Baggern zusammengekarrt. Holomorphe, Maultiere genannte Roboter, dienen den Menschen, den Reitern, und ersetzen jeweils ihren Reiter. Holomorphe werden bei Störung einfach abgeschaltet – wovor sie sich fürchten; Menschen, die sterben sollen, wird es mit Filme von früher noch einmal recht hübsch gemacht.
Ich sah vor langer, langer Zeit einen Science-Fiction-Film mit Charlton Heston, da war es so ähnlich. In dem Film gab es neben der Synthetik nur noch wenige menschliche Speisen, versteckt gehandelt, und ich erinnere mich an ein großes Steak für teures Geld, das irgendwie in Hestons Hände fiel und er sich dies mit einer Lady in einem riesigen Apartment zurechtmachte (normalerweise hausten Privilegierte mit Ihrem Menschen-Berater in einer kleinen Wohnung, alle anderen auf der Straße und man musste sich die Massen im Treppenhaus beiseiteschieben, um in die Wohnung zu kommen). Und die Lady sagte zu Heston (oder anders herum): Und jetzt fahren wir die Air Condition hoch und machen es uns so kalt, wie es auf der Erde früher einmal war.
„Und der Rheingraben hielt noch“ spielt der Refrain.
Beste Grüße
NO
@Dr. No: Thetis und die Quellen. Richard Fleischers >>>> Soylent Green aus dem Jahr 1973.
Ridley Scotts Alien: der humanoide Android hieß Ash und war der Wissenschaftsoffizier an Bord. Scotts letzter, >>>> aus meiner Sicht furchtbar verunglückter „Promotheus“ zitiert, ja wiederholt Ashs Ende, gibt dem neuen Androiden allerdings eine Chance, die uns mit Ash, vielleicht, versöhnen soll, so, wie wir mit den Replikanten aus Scotts The Blade Runner versöhnt zu sein h a b e n. Es hat einen Grund, den ich für realistisch halte, daß „meine“ Replikanten, die Holomorfe heißen, eingeführt werden. Anders als bei Scott verwischt sich in Thetis die Grenze zwischen materiell und nicht-materiell. Das setzt natürlich den Wolpertinger fort, ist hier aber auch von einem, abermals, Film beeinflußt, Faßbinders Welt am Draht, was mir aber erst spät aufgegangen ist; die Angelegenheit selbst habe ich Ihnen bereits einmal >>>> in dieser Antwort zum Wolpertinger erzählt.
>>>> Dort – spät, erst in diesem Jahr – habe ich schließlich vor dem Autor, dessen Roman Faßbinders Vorlage war, meine Verbeugung gemacht: Daniel F. Galouye.
Insgesamt zu meinem Verfahren, auch Themenkomplexe zu zitieren, bzw. aufzunehmen und fortzuführen: Sie sind Prägungen wie materiale auch, wie persönliche Erfahrungen auch, die sie eben auch sind. Der Unterschied zwischen Imagination und realem Erleben verwischt; ganz getrennt waren beide ohnedies nie. Also verzahne ich, lege aufeinander, lasse sich wechselseitig auseinander entwickeln; dazu kommt immer auch die eigene Erfindung, aber gleichwertig, so, wie auch reale Personen und Figuren der Literatur gemischt und gleichwertig behandelt werden und Begebnisse, die ich irgendwo las und die sich mir einprägten. Oft wissen wir auch gar nicht mehr, ob wir und wo wir etwas gelesen/gesehen haben. Es gibt Momente, da ich von Erinnerungen nicht weiß, ob es meine eigenen sind. Ich nehme an, daß es mir nicht alleine so geht. Es ist aber sicher auch eine Frage der Fülle tatsächlich erlebten Lebens. Und der Bildung, die mit einem unablösbar verwachsen ist.
Dust to Dust Hal, ja natürlich, so hieß er!! Der, der nirgends zu Hause war , der Exilant, die Form zwischen Mensch, Roboter und Monster, der nirgends wirklich dazu gehörte und am Ende „starb“:
ashes to ashes, clay to clay
if your enemy doesn`t get you, your own folk may
Ridley Scott hat ihn, meine ich, in Alien II oder III rehabilitiert bzw. symphytisch gemacht, in anderer Form und mit anderen Menschen hilft er den Menschen gegen die Monster und wird gemocht.
Übrigens: In ganz anderem Zusammenhang fiel mir die Ähnlichkeit zwischen „Anderswelt“ und „Underworld“ auf. Nun habe ich von Don de Lillo außer Mao II nichts gelesen (und fand den Roman unübersichtlich und öde), aber gibt es dazu etwas zu sagen?
Beste Grüße
NO
Quatsch Hal, Ash natürlich, ashes to ahses. Aber „Hal“ war auch ein interessanter Nicht-Mensch. Und „Mutter“.
NO
Auf Hal werden Sie. Aber ohne daß er je genannt wird, im Intervallo stoßen.
Alien II und III sind nicht von Scott; die Aliens werden da „gewöhnbar“ gemacht, weil sie nicht mehr als das unheimlich Vereinzelte, sondern massiert auftreten.
Mit DeLillos „Underworld“ ging es mir anders als Ihnen: mich berauschte das Buch. Da scheinen wir unterschiedlich codiert zu sein, da ja Sie, anders als ich, Foster Wallaces US sehr goutieren konnten, während wiederum ich dieses Buch öde fand. Aber zwischen DeLillos Roman und Thetis kann ich einen Zusammenhang nicht richtig, ja nicht mal versuchsweise, herstellen. Wo sehen Sie ihn (außer im Titel)? – Ah, ich lese jetzt genau und lese, daß Sie „Underworld“ gar nicht kennen, nur „Mao II“, das wiederum ich nicht kenne. – „Underworld“ ist grandios. (Es gab noch einen dritten ähnlichen Titel, alle drei spannenderweise in nahezu deselben Zeit: Ted Williams‘ monumentales „Otherworld“, Klett Cotta.)
Im Intervallo ist „Hal“ d i e Mutter, nämlich, wenn man so will, Gott. Na, Sie werden sehen.
Thetis ist ….. ….. der Alban Nikolai Herbst, der von Frankfurt nach Berlin zog, ist der Wolpertinger, ist Deters, der gedungene Schreiber.
„Wie wurde man damit fertig, dass sich in einem alles zusammenzog?“
Es ist November, aber wenn Deters mit den Augen klimpert, ist es Mai. Und umgekehrt.
O d e r umgekehrt: Ich weiß selber nicht, wo die Erzählhandlung im Moment ist. Vermutlich – wäre typisch Herbst – ist der eine, Deters, im November und die Deters-Figur Borkenbrod im Mai (oder umgekehrt). Samhaim, Berghain verschwimmen ins Silberstein, alle Lokalitäten in einer.
Deters erinnert sich an Nathaniel Bumppo. Die „Lederstrumpf“-Prägung von Alban Nikolai Herbst scheint auf.
– Und ganz nebenbei: Natürlich für mich auch Arno Schmidts DÄN mit seiner Etym-Theorie, nach welcher die Landschaftsbeschreibungen von Cooper erotische Anspielungen gewesen sein sollen. Meine nächste Assoziation zu SchmditPagenstecherCooper ist dann Edgar Allen Poe und die Wiederauftritte von Gestorbenen in anderen Personen: Ligeia, Morella, Usher. Mal sehen, ob das hier nicht noch eine Rolle spielen wird …..
Deters erinnert sich an Anna und an die von Hüons, an Titania, an Mallebron. Die sind aus dem Wolpertinger. Derselbe Deters von dort ist auch der Deters von hier, denn er hat diese ominöse Diskette damals von denen gekriegt. Soviel also zu dem einen ANH-Kommentar oben, Thetis sei die poetisch logische Konsequenz aus Wolpertinger. Das verstehe ich zwar nicht (würde mich also über Aufklärung freuen), aber dass hier handlungs- bzw. erinnerungstechnisch angeknüpft wird, sehe natürlich selbst ich.
Und während Deters in Berlin/Buenos Aires seinen Gedanken nachhängt, steigt Borkenbrod in der Zukunftssteinzeit zu einer Kriegerin ins Auto, heizt wie „I Legend“-Will Smith durch verödete Städte, schießt Zombies ab und wird einer Königin eines Amazonenvolkes, einer fürchterlichen, verwachsenen, hässlichen, kleinen Mongolin mit Krallen zugeführt: Der soll er ein Kind machen (Sexualität ist abgeschafft in Anderswelt, er ist einer der letzten Potenten).
Das Kind muss eine Tochter sein, dessen Leber und Herz dann dem Meer geopfert werden soll, damit es den Westen überschwemmt. Das wollen die Schänderpriester, mit denen sich die Amazonen terroristisch gegen den Westen verschworen haben (Alba Nikolai Herbsts Terrorismus-Prägung schimmert durch). Nach Mädchenzeugung (dauere es, so lange es dauere) würde dann die Mongolin für Chill/Borkenbrods Trip nach Levkas sorgen (angeblich). Und während das Gehirn der autofahrenden Kriegerin verspritzt wird hier, „gesteht Drehmann seinen Defekt“ an anderer Stelle. Und dann geht’s unvermittelt weiter:
„Deters gesteht den seinen nicht.“
Was soll das nun wieder? Ach so, wir sind wieder zurück in Berlin/Buenos Aires“ bei Deters im Cafe‘. Deters gesteht nicht, denn „er hatte sich das ja ausgesucht, über das, was damals geschehen war, nichts verlauten zu lassen.“ Meint das jetzt die Wolpertinger-Story? Soll Deters die Wolpertinger-Story nicht erzählen, weil er sonst als irre weggesperrt würde? Vermutlich! Denn zu schweigen hatte Mallebron ihm geraten: „Man würde Sie sonst für verrückt erklären.“ Oder ist Deters` Defekt, dass er aus dem Wolpertinger k o m m t ? Dass er eine Romanfigur ist?
Oder meint „Defekt“ im Gegenteil, dass Deters nicht nur eine Figur ist? Sondern dass der Thetis-Autor Alban Nikolai Herbst vermitteln will, Deters sei „echt“? In einer Erzählung mit dem Titel „Anstelle eines Vorworts“ des Autors Alban Nikolai Herbst (aus dem Buch: „Azreds Buch“) kommt nach “ Frankfurtmain“ der mit Namen nicht benannte Held der Geschichte, ein Autor (Herbst!?!?) „auf der Flucht vor Bremer Studienräten“. In Ffm verpflichtet diesen Autor dann ein gewisser Hans Erich Deters vertraglich, der Autor möge in dessen eigenem Namen Manuskripte von Deters` Hand als Bücher veröffentlichen, u.a. „Wolpertinger“ und „Thetis“. Deters will als Autor nicht in Erscheinung treten. Gleichwohl sehen die Manuskripte die Figur eines „Deters“ vor. Deters lässt also über Miet-Autor Herbst sich selbst als Figur in seinen eigenen Romanen auftreten.
Das ist 4 Ebenen nach unten konstruiert!
Der Pakt wird geschlossen, die Bücher sind erfolgreich, der Autor wird berühmt, leidet aber darunter, gar nicht der Urheber der Texte zu sein, sondern nur das Bild eines Autors, nur die Fiktion eines Autors zu sein. Ein teuflisches Vexierspiel wie einst mit Schönberg bei Thomas Mann und der Zwölftonmusik. Und natürlich: Der Pakt zwischen dem Autor (Herbst) und Deters in der Erzählung „Anstelle eines Vorworts“ ist ein: „Vertrag über, selbstverständlich, 24 Jahre“. Natürlich: Ein Teufelspakt.
Daraus folgt zum Einen: Die Dr. Faustus-Prägung von ANH wird sichtbar.
Zum Anderen: Der angestrebte „Defekt“ bezieht sich wohlmöglich auf die Infragestellung der Thetis-Urheberschafft. Die verschwimmt. Ist es Herbst? Ist es Deters? Gibt es Herbst als Autor? Ist Deters echt?
„Wie wurde man damit fertig, dass sich in einem alles zusammenzog?“
Beste Grüße
NO
Unabgesehen davon, dass ich mich hier völlig verirrt habe: Hat der der Autor wirklich was zu sagen; oder verbirgt er seine gesammelte Inkompetenz in einem Wald von Zeug?
Ich suchte: rachmaninow.
Das Ergebnis war ein erschreckendes Sammelsurium halbgarer Thesen, verzweifelgetrieber Verwerfungen (Autor wahrscheinlich: Ego) und einem gesammelten Klump irgendwelchen falsch interpretierten Zeugs.
Sind Sie der neue Hugo Ball? Der alles auf den Kopf stellt? Wenn so ist, machen sie weiter so!
Wenn nicht… Wissen Sie: Schreibweisen wie die Ihren wurden schon im letztletztletzt:::Jahrhundert nicht mehr gelesen.
Traurig!
@vollkommen egal. Das ist spannend, daß Sie in Der Dschungel nach „rachmaninow“ gesucht haben. Ich habe Ihre Suche eben nachvollzogen (man muß ja nur die „Search“-Funktion nutzen). Wer es mir nachtut, der findet nichts als – Sie selbst.
Sofern wir Rachmaninow aber mit „v“ schreiben, hinten, dann finden sich die >>>> dortigen Einträge. Meinen Sie die? Dann wüßten unsere Leser dieses sicher gerne begründet:ein erschreckendes Sammelsurium halbgarer Thesen, verzweifelgetrieber Verwerfungen (Autor wahrscheinlich: Ego) und einem gesammelten Klump irgendwelchen falsch interpretierten Zeugs.Interessant, wie suggestiv-ungenau Sie „argumentieren“. Und ausgesprochen typisch.
@Dr. No zur Thetis-Konstruktion und der zugrundeliegenden Poetologie allgemein. And To whom else it may concern. „Wie wurde man damit fertig, dass sich in einem alles zusammenzog?“
Es muß Mai sein, weil die Walpurgisnacht (30.4. auf den 1.5.) vorüber; aber >>>> Samhain (30.10. auf den 1.11.; bereits der zweite Titelteil aller drei Romane, Anderswelt, bezieht sich darauf) hat sich an ihre Stelle gesetzt, also ist November: das ist die zweite poetologische Kontinuität. Sie werden sehen, wie sich die ganze Romanzeit immer wieder um dieses Halloween herum- und immer wieder in es zurückbiegt. Ja, es wird – aber das dürfte ich Ihnen eigentlich gar nicht verraten – ein „Viertes Nachspiel“ geben, in Thetis, aber des Wolpertingers und dieses wird „Quasi ein zweiter Prolog“ ausdrücklich genannt sein.Samhaim, BerghainDas Berghain kenne ich, leider, erst seit letztem Jahr. Das nimmt Ihrer Aussage aber nicht die Wahrheit. „Samhain“ wird das „Silberstein“ genannt, in einer der Imaginationsrealitäten der hier handelnden Erzähler, nicht aber in der uns vertrauten Realität, jedenfalls nicht für lange Zeit. Übrigens gibt es das Silberstein seit ebenfalls dem letzten Jahr nicht mehr, was für mich, persönlich, ein Schock war, als ich das sah (war vor ein paar Monaten hingeradelt, um abzuschreiben, wie es „jetzt“ dort aussah). Der Name des Orts wird zu dem, was der Roman erzählt, auch die Orte sind nicht mehr identisch.
Eine dritte poetisch-logische Kontinuität kann ich noch anführen: Daniello, im Keller des Wolpertinger-Hotels, bedient einen Biocomputer. Die Welt als Wille und Programm.nach welcher die Landschaftsbeschreibungen von Cooper erotische Anspielungen gewesen sein sollenvor allem Karl Mays („Sitara und der Weg dorthin“, eines meiner Lieblingsbücher von Schmidt; zugleich habe ich, in den Erzählungen, immer wieder May-Bezüge, meist aber allein in den Titeln; in der >>>> „Sizilischen Reise“ freilich taucht >>>> Arndt quasi als Kara ben Nemsi auf).Ligeia, Morella, UsherNicht in Thetis, aber in den Erzählungen und Novellen.Sexualität ist abgeschafft in AndersweltNicht ganz, aber sie wird nicht gern gesehen, schon „der Krankheit“ wegen, von der paarungswillige Leute in die Infomaten getrieben werden, die der Widerstand „Vögelvolieren“ nennt.Das Kind muss eine Tochter seinDas will ich noch nicht kommentieren.„Man würde Sie sonst für verrückt erklären.“Welt hat eineindeutig zu sein: ständiger Anlaß des Romans für Attacken. Oder ist Deters` Defekt, dass er aus dem Wolpertinger k o m m t ?Ein wahnsinnig spannender Interpretationsansatz, auf den ich selbst nie gekommen bin.Sondern dass der Thetis-Autor Alban Nikolai Herbst vermitteln will, Deters sei „echt“?An die Tür meiner Arbeitswohnung ist draußen ein geprägtes Metallschild geschraubt, auf dem HERBST & DETERS FIKTIONÄRE steht:
Lieber Herr Dr. No, Sie geben dem Buch von Ihrer Lebenszeit, nicht nur einer, die konsumierend liest, sondern einer, die mitdenkt, gewiß auch mitfühlt, vielleicht sogar mitträumt, und daher formulieren Sie sogar Fragen – was, wie ich sehr gut weiß, einige Arbeit ist und wiederum Lebenszeit. Für diese meiner Arbeit entgegengebrachte Intensität möchte ich mich einmal mehr bedanken:
Ihr ANH.
Pleasure
Lieber ANH!
Einfach ist Ihre Poetologie nicht.
„Am siebten Tag wird nicht geruht, sondern dennoch ausgebrochen. Damit fängt Thetis an“, schreiben Sie. Der Wolpertinger geht weiter!?
„Eine dritte poetisch-logische Kontinuität kann ich noch anführen: Daniello, im Keller des Wolpertinger-Hotels, bedient einen Biocomputer. Die Welt als Wille und Programm“, schrieben Sie. Daniello schreibt den Wolpertinger weiter!? Daniello schreibt mit (auf, in) einem Biocomputer – der das Geschriebene zur Realität macht, dem Text Biologie einhaucht, die Figuren zum Leben erweckt!?
„Es muß Mai sein, weil die Walpurgisnacht (30.4. auf den 1.5.) vorüber; aber >>>> Samhain (30.10. auf den 1.11. … hat sich an ihre Stelle gesetzt, also ist November“, schreiben Sie. Wolpertinger speilt in der Walpurgisnacht, Thetis im Samhain, dieser keltischen Walpurgisnacht, also Halloween. Deters ist mal hier mal dort!? Zwei Deters-Erzähler erzählen seine Geschichte!? Der ein im Mai, der andere im November!?
„Die Erzähler erzählen sich wechselwirkend gleichzeitig, es gibt keine Hierarchie. Das wird nicht nur erzählt, sonderrn geschieht: nämlich in der F o r m, also der Ontologie des Textes selbst“, schreiben Sie.
Deters schreibt seine Borkenbrod-Geschichte in Berlin, und während er schreibt, wird das Geschriebene Realität. Und Deters macht Ausflüge in diese erfundene, aber real gewordenen Welt, denn er taucht als Figur ja auf in Buenos Aires.
Und in der geschriebenen und dadurch real gewordenen Welt von Buenos Aires sitzt auch ein Erzähler und berichtet von einem Deters und einem Borkenbrod!? Und auch diese können in die erste Deters-Welt kommen, denn e tauchen ja Romanfiguren als „echt“ in Berlin auf!?
Es gibt weiter hinten im Roman zwei korrespondierende Passagen. In der einen macht Deters in Berlin die Probe aufs Fiktive (oder so ähnlich) und spricht im Cafe Silberstein einen Menschen an, den er als Herrn Drehmann identifiziert hat. Der Angesprochenen allerdings weiß von nichts und flüchtet den vermeintlich Irren oder Betrunkenen. In der anderen Szene wird in Buenos Aires Herr Drehmann von Deters angesprochen – Herrn Drehmann allerdings sagt dieser Deters nichts. Er vermutet, dass ihm einmal ein Holomorfer geschickt wurde, um ihn zu warnen. .
Sind diese Szenen im Lichte Ihrer Antworten oben zu sehen?
Beste Grüße
NO
Nur kurz@Dr. No eben: Und auch diese können in die erste Deters-Welt kommen, denn es tauchen ja Romanfiguren als „echt“ in Berlin auf!?Das wird den ganzen Fortgang der Romanserie bestimmen. Es wird Deters sozusagen einfangen, womit Thetis dann endet. Mit ‚logisch‘ meine ich unter anderem, daß genau das sich auch auf ‚Herbst‘ auswirken wird. Die Unterscheidung von real und imagniert fällt: Sie können auch sagen: von real und programmiert. Daß sie fällt, und das war für mich von entscheidender Wichtigkeit, bedeutet aber eben nicht, daß sich die Schicksale der Menschen nicht vollziehen, sondern die aller haben ein Recht.
Was ich – wenn ich zu dem Unternehmen mal auf Distanz gehe – hier unter anderem spiegle, ist, daß es unterdessen Menschen gibt, die sich auch real nach Lara Croft umoperieren, also Eingriffe direkt an ihren Körpern vornehmen lassen. Ich spüre darin eine historisch werdende Tendenz, eine geschichtliche, zeitgenössische Bewegung, der völlig entspricht, daß zur Zeit mehr als 30 % aller jungen Menschen ihren ersten Geschlechtspartner über das Internet kennenlernen, als Avatare also, nicht in der uns noch als solcher bekannten Realität. Eine andere ist hinzugekommen.
Aber bitte verzeihen Sie, ich muß >>>> an d a s Ding zurück, weil morgen Abgabetermin ist. Ich bin mir aber sicher, daß sich viele Ihrer Fragen im Fortgang der Lektüre wiederholen, einige auch auflösen, andere aber sich noch unterstreichen werden.
(Viel mehr als an der Theorie ist mir übrigens daran gelegen, ob meine Figuren noch als Personen empfunden werden, ob sie ihre Persönlichkeiten wahren können, zu denen immer ihre Einzelschicksale gehören. Kann man mit ihnen mitfühlen, das ist mir – konservativ, wie ich bin – sehr wichtig. Nur Deters nehme ich da aus, weil er imgrunde ein Mann ohne Eigenschaften ist. Das war er schon im Wolpertinger: Projektionsfläche für die „Wirklichen“.)
Thetis ist ….. ….. Realität. Heutige Realität. Oder?
Mit Blick auf die Intention des Romans Thetis“ hat Alban Nikolai Herbst kommentiert:
„Was ich – wenn ich zu dem Unternehmen mal auf Distanz gehe – hier unter anderem spiegle, ist, daß es unterdessen Menschen gibt, die sich auch real nach Lara Croft umoperieren, also Eingriffe direkt an ihren Körpern vornehmen lassen.
Ich spüre darin eine historisch werdende Tendenz, eine geschichtliche, zeitgenössische Bewegung, der völlig entspricht, daß zur Zeit mehr als 30 % aller jungen Menschen ihren ersten Geschlechtspartner über das Internet kennenlernen, als Avatare also, nicht in der uns noch als solcher bekannten Realität.
Ist das in der Tat die Abbildung der Welt heute?
Die Filmfigur, ja genauer (schlimmer) noch, die Comic-Figur, Laura Croft begegnet uns im realen Leben durch die Schönheitsumoperationen einzelner lebender Menschen. Es ist eine Realität, dass man heutzutage manchmal Menschen zunächst (oder auch ausschließlich) virtuell kennen lernt, als Avatare, hinter denen alles Mögliche stecken kann.
Ich hätte Tendenz, die Frage zu bejahen
So wie ich anfangs naturgemäß beispielsweise Alban Nikolai Herbst in erster Linie als Internet-Figur wahrgenommen habe, der möglicherweise mit Deters eins ist oder auch nicht. Und der ja nicht nur „in Wirklichkeit“ anders heißt, sondern im Zweifel auch in einzelnen Aspekten real ganz anders ist als im Netz.
So wie ich anfangs beispielsweise die Kunstfigur Aléa Torik in dem Blog „Unendlicher Spaß“ so kennen gelernt habe, wie sie dort vertreten ist, während die Realität dem einige Aspekte hinzufügen konnte.
Kommt hinzu, dass es Realität heute ist, dass vereinzelt Menschen ihr „wahres Leben“ virtuell verbringen, permanent online in der „World of Warcraft“ oder in „Second Life“? Kommt hinzu, dass oft genug die Facebook-„Freunde“ virtuell bleiben?
All dies scheint mir deutlich etwas anderes zu sein, als die Nachahmung von Kleidung und (Liebes-) Haltung inklusive Selbstmord von Goethes „Werther“. Da sprang mit den Nachahmern keine Romanfigur ins wahre Leben, sondern im Leben wurde eine Figur gespielt-
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Kann man mitfühlen mit Borkenbrod, Drehmann und Poseidon? Das wird sich vermutlich erst nach einigen hundert Seiten sagen lassen. Bislang meine ich schon, denn immer wenn mir diese Deters-Konstruktionen zu schwierig (zu konstruiert) daher kommen, lege ich sie gedanklich beiseite und verfolge das Geschehen weiter bis zur nächsten Deters-Störung. Das macht man ja wohlmöglich nicht, wenn das Schicksal der Figuren nicht interessierte.
Beste Grüße
NO
„immer wenn mir“@Dr. No „diese Deters-Konstruktionen zu schwierig (zu konstruiert) daher kommen, lege ich sie gedanklich beiseite“ – ja! Genau! Daß man das tut, ist wichtig – ebenso, wie nicht jeder Anspielung im Wolpertinger (und auch hier nicht) gefolgt werden muß, weil man sonst aus dem Fluß fällt. Wir fahren ja auch Auto, ohne zu verstehen, wie eigentlich eine elektronische Einspitzpumpe funktioniert. Aber damit komme ich schon wieder in ein nächstes Theorem über das, was Realität sei.
Thetis ist ….. ….. ICH und Deters.
Noch einmal zurück zu Deters. Wenn es im 4. Satz auf Seite 1 heißt, „Ich aber will, dass Raum fürs Ungeheure bleibe.“, dann ist es Hans Deters der spricht, von seinem Rundgang durch Berlin und von dem Borkenbrods, den er sich parallel dazu ausdenkt.
So dachte ich. Das indiziert nämlich der Klappentext. Stehen tut das ausdrücklich nirgendwo. Aber als der Ich-Erzähler einige Seiten später eine Visitenkarte mit Namen und Adresse von Hans Deters überreicht bekommt, habe ich wegen des Klappentextes aus der Wendung „Wo haben Sie die her?“ des Ich-Erzählers geschlossen, er bekomme seine eigene Visitenkarte überreicht.
Dann ist von Deters nicht mehr die Rede. Erst auf S. 82 taucht er (namentlich) wieder auf. „Alles macht Sprünge, was lebt. Hans Deters im Silberstein …“ (wohin auch der Ich-Erzähler hingehen sollte und wollte, um eine geheimnisvolle Dame zu treffen).
Nunmehr allerdings ist es ein distanzierter Er-Erzähler, der zunächst die Perspektive von Deters darstellt: „Hans Deters stellte sich vor, er habe den ganzen Sommer … auf die Frau gewartet.“
Dann wechselt die Perspektive wieder mit einem Trick zu einem Ich-Erzähler, denn im Text wird wie folgt fortgefahren: „Die Vorstellung ging so [sagt Deters]: Ich wartete … und als ich das Samhain verließ, war ein halbes Jahr vergangen. Ich trat nach draußen, wunderte mich und …“.
Kurz ist also der Autor wieder aufgetreten und hat aus seiner Perspektive den Deters dargestellt (der ja seinerseits den Borkenbrod erzählt – und der vermutlich alles andere im Roman des Romans.)
Dann geht es Thetis weiter aus der Perspektive von Deters, aber geschildert von einem Er-Erzähler: „Deters schob sie auf dem Tresen hin und her …. Jedes Mal zuckte er zusammen, wenn sich die Tür des Lokals öffnete … Deters war nach Berlin gezogen ….“.
Was bedeutet es also, wenn die Perspektive von Deters (erzählt vom Autor – Herbst) am Buchanfang in der Ich-Form und im Fortgang des Romans dagegen in der ER-Form erzählt wird?
Mir fiele nur ein: Die besondere Betonung des Vorspiels am Romananfang. Warum? Vielleicht ist es wie in „Unendlicher Spaß“, die allererste Szene ist die in der zeitlichen Abfolge neuste Szene, alles was im Buch danach kommt, ist vorher passiert. So übrigens, hätte ich dies auch so (im später als Thetis erschienenen) Thomas-Lehr-Roman „Nabokovs Katze“ so gelesen, auch dort wechselt im Präludium am Buchanfang mehrfach die Perspektive und dargestellt wird der zeitlich letzte, also der aktuellste, neuste Zeitabschnitt, alles andere im Roman ist zeitlich vor der ersten Szene gewesen.
Beste Grüße
NO
Feminismus@Dr. No: zu den Perspektiven und Perspektivwechseln. Das möchte ich absichtsvoll nicht kommentieren – weil ich sonst wider das Leseabenteuer, das ein Buch ja immer doch auch sein soll, interpretieren würde. Nur soviel: daß es mir immer darum gegangen ist, einen Weg zu finden, (Erzähl-) Hierarchien aufzulösen. Das Ziel ist eine „Selbstschöpfung“, was wiederum mit Selbstermächtigung und, letzter Ursache biografisch, dem falschen Paß zusammenhängt, der 1983, mit dem ersten Roman der Serie, „Die Verwirrung des Gemüts“, ins Spiel gebracht wird. Wiederum nicht-biografisch hat das Unternehmen etwas von dem, was ein kritische Feminismus mit einigem Recht als „Selbstzeugungs“-Fantasien kritisiert, die das weibliche Element als das Gebärdende symbolisch ausschließen wollen und auch ausgeschlossen haben. Da ich mir dessen von Anfang an bewußt war, haben nahezu sämtliche Frauen in diesen Büchern die entscheidende Funktion des Einspruchs; der Widerstand in Anderswelt wird, wie Sie lesen werden, fast durchgängig von Frauen geführt – speziell gegen Ungefugger, der die patriarchale Idee des sich selbst zeugenden Gottes politisch nicht nur vertritt, sondern auch umsetzt: Die restlose Abstrahierung von Welt.
Dies aber nur an den Rand Ihrer Lektüre geschoben.
Das Leben wird abstrahiert, das Gebären abgeschafft, der Sexualakt daher unnötig und Frauen demzufolge überflüssig; der Patriarch zeugt sich selbst – das ist (jedenfalls auch) Thema dieses Buches, ist Intention? Ich verstehe in der Tat kaum ein Wort.
Führt das hin zu Gott? Der Schöpfer, der ja erschafft ohne Partnerschafft. Der dann aber – bei Blumenbergs Behandlung der Matthäus-Passion jedenfalls – feststellt, dass er einen Fehler gemacht hat bei seiner Schöpfung: Es war eben nicht alles gut, sondern Eva muss nachgeschöpft werden und es kommt zum Sündenfall. Das Spielzeug Mensch funktioniert nicht so wie eigentlich gewollt (wie im Raumschiff, wo der Computer irgendwann alle Gänge unter Wasser setzt, als ihn die Kriegsspiele der Nachkommen des Laich-Bubis nerven?)
Und auch, was dies mit Auflösung von Erzählhierarchien zu tun hat, erschließt sich mir eigentlich nicht. Hierrunter verstünde ich eine Struktur wie bei Marcel Bayers „Flughunde“, wo auch zwei Erzähler auftreten (und ich glaube sogar, der Mann erzählt in der Er-Form, das Mädchen in der Ich-Form [ich erinnere das allerdings nicht mehr so genau]), man ist zunächst völlig verwirrt, dann fasziniert und fragt sich, um was geht es, was ist die dominante bzw. einzunehmende Haltung, die des männlichen Täters oder die des weiblichen Opfers?
„das Gebären wird abgeschafft“ Wie es in Thetis gedacht und geschrieben ist, kann ich nicht sagen. Real wird aber derzeit eher nicht das Gebären abgeschafft (die Apparate-Gebärmutter ist bisher noch bei jedem Versuch gescheitert), sondern die Zeugung. Überflüssig wird nicht die Frau, sondern der Mann. (Ich schreibe das ohne jede Genugtuung, auch wenn man(n) mir das vielleicht nicht glauben mag 😉 ). Die Zeugung im Reagenzglas mit Spendersamen, der ja lange konserviert werden kann (also auf noch lebende Männer nicht angewiesen), ist inzwischen keinerlei Problem mehr. Die Schwierigkeiten fangen regelmäßig erst bei der Einpflanzung in den Mutterleib an, ohne den es noch nicht so recht klappen will.
@Dr. No, Erzählhierarchien ff. Ich sagte doch, daß ich das eigentlich noch nicht diskutieren möchte, weil es Einfluß auf Ihre Lesehaltung nähme und damit auch auf das, was Sie lesen, bzw. mitimaginieren. Nur noch soviel:was ist die dominante bzw. einzunehmende Haltung?Das ist eine Frage, die semantisch fundiert ist, während mich der formale Prozeß interessiert und der Umschlag dann von der Form in den Inhalt. Semantisch interessant ist allerdings die Raumschiff-Erzählung, weil man sich vor Augen halten muß, daß das, was erzählt wird, den Einzelnen wirklich geschieht und so auch empfunden wird, egal, ob diese Einzelnen „nur“ Computer-Simulationen sind. Sie sind leidens- und lustfähige Geschöpfe nicht anders als ihre Erfinder, mit Ausnahme freilich des Steuerungs-Computers (das wäre hier meine Version von HAL); aber selbst der zeigt schließlich Regungen, ist, wie Sie schreiben, genervt.
Aber zur Eingangsfrage Ihres letzten Kommentars: Es ist auch Intention. Das gleiche Thema war bereits im Wolpertinger immer mitdiskutiert. Aber die einzelne Intention läßt sich nicht separieren, sondern ist immer nur eine Synapse in einem ganzen Netzwerk. Was ich in der Tat literarisch immer wieder versuche, ist, diesem Separierenwollen – wissenschaftlich: Isolierenvollen – einzelner Aspekte aus einem komplexen Zusammenhang nicht nachzugeben, sondern genau das Gegenteil davon zu tun. Was bedeutet, daß man sich als Autor – und auch Leser – auf ungefähre Bewegungen und Abläufe einlassen muß, die eineindeutige Aussagen kaum zulassen.
@MelusineB. In Thetis hat die Technologie dieses Problem quasi kybernetisch „behoben“, und zwar bei beiden Geschlechtern. Tatsächliche Menschen werden über Stammzellen retortisch gezeugt, Holomorfe sind menschengleiche Programme, die sich über eine bestimmte Energieform anfaßbar materialisieren können und anfangs als sogenannte Maultiere eingesetzt wurden, das heißt als Diener; man könnte auch Sklaven sagen, die ihr Dasein aber auch wollen. Das ist Teil des Programms. Läuft allerdings ebenfalls schief, weil diese Zweitmenschen Selbstbewußtsein entwickeln. Ein Teil von ihnen geht, anfangs nur in den Fabriken des darbenden Ostens, in den aktiven Widerstand. Schließlich kommt es zur Koalition mit den dortigen hart widerständigen Frauenstädten. Soweit ist Dr. No aber, glaube ich, im Buch noch nicht. Deshalb das nur in kürze,
Angriff des ungefuggerschen Feldzugs gegen die Sexualität ist diese an sich. Paarungen finden in sog. Infomaten statt; die Körper berühren einander nicht mehr, haben aber die Illusion, es zu tun,. Anlaß hierfür war eine nur unbestimmt als solche bezeichnete „Krankheit“: diese habe das nötig gemacht, ist unterdessen Regierungsdokrtin. Sie, die Krankheit, bekommt man gelegentlich mit, ist freigewordenes Ergebnis eines Versuchs mit biologischen Waffen – bereits vor der Großen Geologischen Revision, mit der die Anderswelt-Serie beginnt..
Kybernetisch Ich weiß. Als ich „Thetis“ gelesen habe, war ich jedoch eine andere Frau als die, die ich heute bin. Diese Dimension (die Geschlechtlichkeit) habe ich damals gar nicht so deutlich wahrgenommen bzw. darauf geachtet, ob es einen Unterschied in dieser Frage gibt, weil ich ganz fixiert war auf die Idee der „Programmierung“ und der „Schaltungen“. Heute – nach so langer Zeit – habe ich eher Bilder und einen „Sound“ als Erinnerung behalten als eine Erzählung oder einzelne Figuren. Aber ich versprach ja, es noch einmal zu lesen. Eine Leserin, wie Dr. NO ein Leser ist, werde ich allerdings nicht sein können. Mir fehlt diese Fähigkeit zur Analyse; ich bin sehr angewiesen darauf, Schwingungen aufzunehmen, um zu „verstehen“.
(Ich glaube, ich habe es Ihnen schon einmal persönlich gesagt: Wie ungeheuer reizvoll ich es fände, diese Erzählung und ihre vielen „Dimensionen“, die ich gar nicht mehr „Perspektiven“ nennen möchte, übersetzt zu finden in ein Computerspiel. Es werden diese Spiele Kunstformen werden, davon bin ich überzeugt, so wie es auch der Film wurde. Noch sind sie rein kommerziell, allenfalls von grafischem Reiz, aber nie erreichen die Erzählungen jene Komplexität, die das Medium ermöglicht. Nun müsste die Irritation im Spiel von der anderen Seite herkommen; nicht mehr das Spiel mit den Identitäten und Parallelwelten wäre das Fremde auf den chronologisch umzuschlagenden Seiten eines Buches, das in linearer Schrift geschrieben ist, sondern ? — die Restauration des „Autors“???
Jemand wird Pionierarbeit machen eines Tages und solche Erzählungen erfinden und mit einem Team so was programmieren. Vielleicht, träume ich grade, wird Ihr begabter Sohn (dessen Zeichnungen wirklich beeindruckend sind) einmal die Romane seines Vaters übertragen. Aber man soll keine Wünsche in die Kinder projizieren…
Computerspiele@MelusineB. Das ist das Spannende. Als ich in den Keller des Hotels >>>> Wolpertinger einen Computer aufbauen ließ, sogar einen Biocomputer bereits, dessen kybernetisches Netzwerk schließlich sämtliche Wasseradern Hannoversch Mündens und seiner Umgebung einschloß und weit drüber hinaus dann, spätestens mit >>>> Thetis, reichte, hatte ich selbst noch gar keinen Computer. Erst ab der Hälfte des Romantyposkriptes machte ich meine ersten Gehversuche, damals noch mit WordStar, einem Programm, bei dem man sämtliche Steuerzeichen noch selbst eingeben mußte; Oberflächensteuerung war unbekannt. Als ich mit Thetis anfing, war es ebenso mit dem Internet, also für mich: ich poetisierte es zu einer Zeit, da es noch gar keines, jedenfalls allgemeinwirkend, gab. Es war ein Gedanken- nicht -spiel, sondern eine Vision. Ich bin für Computerspiele nie anfällig gewesen, sie haben mich nie fasziniert. Offenbar aber doch, und wohl ähnlich, wie es mir mit Computer und Internet ergangen. Das Spannende ist, daß sich Entwicklungen simultan und unabhängig voneinander ergeben, ob es sich um Erfindungen oder um neue Reimformen handelt. Sie liegen wie ein Äther, an den Einstein noch geglaubt hat, in der Luft: als wäre etwas real daran, an Platons Ideenlehre.
Thetis ist ….. ….. Fiktion.
Der Unsterbliche tritt auf: Herr Ungefugger. Kapitalist, Kaufmann, Kaiser, Lichtgestalt. Arbeitgeber, Landeigener, Universal-Fabrikant, Weltunternehmer. Überreich und übermächtig, wie heute Goldman Sachs. Ihm gehört alles, er hat alles, er scheint schön, jung, reich, erfolgreich, er beherrscht alles, er will mit dem Staat fusionieren. Er spielt mit dem schwachen Präsidenten des Westens ein Marionettenspiel. Es geht ihm um Zweitmond und Mayflower II.
Die Fugger standen sicher Pate beim Namen, William Gaddis „JR“ bei der Figur? Übrigens, auch im Unendlichen Spaß gibt es auch eine solche Figur. Und auch bei Pynchon, nämlich den Scarsdale Vibe (?), diese Mischung aus Narben und Viper (wie der Künstler halt so die Unternehmer sieht). Auch dieses Motiv, diesen fiesen Finanz-Charakter, scheint die Autoren ihrer Zeit infiltriert zu haben, scheint sie zu ergreifen, so dass sie parallel darüber schreiben müssen. Das war schon so mit der Filmtechnik, hier und bei Lehr, sowie mit den fast identischen anderen Titeln zu „Anderswelt“. Wie kommt so etwas?
Zurück zu Ungefugger, bei dessen Namen mitklingt: Unfug, ungefüttert, ungezuckert, ungezogen, fuck.
Unsterblich ist Herr Ungfugger, weil er anscheinend über entsprechende technische und/oder biologische Mittel verfügt. Auch mit diesem Motiv wird ANHs Perry-Rhodan-Prägung deutlich. Denn auch Perry Rhodan startete ja als einfacher Astronaut auf dem Mond und „endete“ als unsterblicher Staatsmann; dank Zellduschen waren Rhodan und seine Mitstreiter (Bully, Atlan, Gucky etc.) nicht tot zu kriegen.
Aber das Dollste ist die künstliche Welt, in welcher der Herr Ungefugger lebt. Mit den Worten „Wunderbar rot strahlten die Ziegeldächer der Villen in das Blau eines Himmelsgewölbes aus Hodna und Traum …Im Park spielten Hunde mit dem Wind. Frauen lagen auf den Terrassen“ setzt eine großartige Sequenz über die Schönheit der Welt an – der Welt Muckefucks wohlgemerkt! – in der sich aber alles, alles als künstlich entpuppt. Alles Fiktion! Alles mit Beamer nur vorgespielt! Wunderschön, wie gemalt, aber nur animiert, nicht echt, kein Leben, kein Genuss, keine Geruch, kein Gefühl, eine entmenschlichte, eine ent-lebte Welt. Was für ein fantastischer Roman! Der Fantasie- und Science-Fiction-Blogger Molosovsky, der bei „Schauerfeld mitkommentierte, hätte seine helle Freude daran. Am Ende dieser Sequenz entscheidet sich Ungefugger, einen Schimmel statt eines Rappen zu reiten, und als der Ritt zu Ende ist, schaltet ein Knecht den Schimmel hinter dessen Ohr ab und „tankt sein Herz wieder voll.“ Großartig!!
Aber das war nur der Auftakt.
Ungefugger hat einen neuen Sicherheitschef. Der alte wird erst verabschiedet, dann verhaftet und schließlich beerdigt. Der alte hieß „der alte Gerling“. So hieß der Chef eines gleichnamigen Versicherungskonzerns (heute Teil von HDI) nach dem 2. Weltkrieg, damals einer der ersten und größten. Und ein bisschen schwingt mit der Name der Organisation Gehlen, der erste deutsche Geheimdienst nach dem Krieg.
Gerling in „Thetis“ ist ein harter Mann (gewesen). Ausgebildet bei seinem Chef, dem alten Jensen. Der alte Jensen arbeitete für Ungefugger auch in radioaktiven Bereichen. Das hatte Folgen für ihn und seine Nachkommen. Er war verstrahlt, seine Frau war Asiatin, die gemeinsame Tochter missgebildet.
Ich schlage zurück im Buch, ob diese Asiatin-Tochter denn wohl die Mongolin (da steckt auch mongoloid drin) sein könnte, der Borkenbrod zur Zeugung „zugeführt“ wird!?
Aber Gerling konnte auch weinen, nämlich als ihm sein alter Chef verstirbt, der „alte Jensen“, und als ihm Ungefugger dessen Sohn, den „jungen Jensen“, wegnimmt, obwohl Gerling dem alten Jensen die Übernahme der Fürsorge für den jungen Jensen hatte versprechen müssen und dann für diesen große Vatergefühle entwickelte. Er weint 3 Tränen, die zu Kristallen werden, und die Tränensplitter zerschneiden ihm den Kehlkopf.
Die Kristalle meinen zum Einen: Gering kann nicht sprechen vor Trauer. Ich rate einmal, dass wir hier auch an dem Punkt sind, den Thomas Hettche mit „die Liebe der Väter“ in Worte und ANH mit den Schilderungen seiner Vater-Gefühle in der Dschungel-Besprechung des Buches zum Ausdruck gebracht hat.
Die Kristalle meinen zum Anderen: Alban Nikolai Herbsts Prägung durch die Märchen von Hans Christian Andersen. Die Kristalle im Auge sind die von Kay aus der „Schneekönigin“. Der Kristallspiegel zerschellt in tausend Stücke, die Splitter dringen Kay ins Auge, er kann das Schöne und Wahre nicht mehr sehen, wird fies und kalt, bleibt nicht bei Gerda, sondern geht ins Eis der Königin. Schneekristalle im Auge, die schmelzen müssen, und ohne die, ohne die Überwindung der Kälte, keine Liebe möglich ist.
Beste Grüße
NO
Ungefugger@Dr. No. Toni Ungefugger – klar spiele ich auf Toni Seilers Amalgam von Funktion und Mode an, aber auch, weil Ungefugger bisweilen Tonio genannt wird, wiederum auf eine Art von Buddenbrook – – also Toni Ungefugger ist diejenige Figur in Thetis, die tatsächlich ein sehr genau bezeichenbares Urbild, wie die Jurisprudenz das nennt, hat. Ich werde mich aber hüten, den Namen zu nennen. Es ist ein mächtiger Mann; einem weiteren Persönlichkeitsrechtestreit ginge ich gern aus dem Weg. Aber was hier erzählt wird, ist geradezu abgebildet, wenn auch mit den Mitteln der Poetik, wobei ich andererseits nicht übertreibe, sondern schildere, was ich tatsächlich erlebt habe. Das geht bis in die in Ungfuggers Nähe verwendete Farbgebung. Was ich später im Roman von der großen Zusammenkunft der Mitarbeiter in Ungefuggers Unternehmen erzähle, hat so tatsächlich stattgefunden, auch wenn es sich wie eine hart am Rand der brutalsten Satire geschriebene Szene liest. Ich war aber dabei.
Überhaupt ist in diesem Roman und den folgenden sehr viel von dem erzählt, was ich in meiner Börsen- und der unmittelbar auf sie folgenden Zeit in der mittleren bis Hoch-Wirtschaft erlebt habe, also im Banken- und Versicherungsgeschäft. Es hat seinen Grund, wenn ich auf dem Realismus meiner Bücher beharre.
Thetis ist ….. ….. Geschichte.
Listen, Leser, lieben Sie Listen? Roberto Bolano hat eine gemacht, nämlich die unendlich lange der toten Mädchen in „2666“, die sich durch die Farbe des Slips und die Art der Ermordung unterscheiden. Alea Torik hat eine gemacht in dem Berlin-Kapitel von „Das Geräusch des Werdens“ mit den vielen Straßennamen, Geschäften, Professionen, Waren. Und Alban Nikolai Herbst macht auch eine. Über Geschichte. Der Lauf der Welt wird zusammengefasst mit einer RIESENLISTE aus Namen und Ereignissen, von der Erdentstehung bis zur Zukunft, die Essenz des Films „Tree of Life““ in Listenworten vorweggenommen.
Es beginnt mit der Pasadenischen Faltung und endet in der Anderswelt. Erste Hominide mit aufrechtem Gang, Hirnwachstum, Jäger und Sammler. Mammutjagden, Ägypter, Stonehenge. Gilgamesch und Gilgameschepos, Hektor und Achill, und so weiter und so weiter. „Sprengung des World Trade Center“ (noch nicht die Türme). Und Ver-Beirutung Belgrads“, was mich an Peter Scholl-Latour denken lässt, der in Beirut, dem Paris des Ostens, fast wie zu Hause war und über dessen Zerstörung im Bürgerkrieg geweint hat (und über die von Phnom Penh).
Und als die Menschheitsgeschichte in der Zukunft und in der Fantasie angekommen ist, wird die Zeit berechnet, die das gedauert hat, und siehe da: Die Berechnung des Computers ergibt, erst ¼ der Reise des Raumschiffs ist vorbei.
Ja, ja, Computer! Das Erleben der Geschichte dieses Planeten war Kopfkino. Wie die Filme auf unseren Transatlantikflügen, hier aber eingepflanztes , vom Computer gesteuertes Kopfkino für eingefrorene Raumfahrer. Die Besatzung dieses Raumschiffes liegt im Kälteschlaf, weil die Reise so lange dauert, das kennen wir aus „Alien I“. Die kalten Menschenkörper sind auf dem Weg nach „Centaurus A“. Und der ist weit weg. Oder auch nicht: Der Zentaur, an sich Menschen mit Pferdekörper oder Sternenbilder, kommt zwar aus der griechischen Mythologie, aber er kann auch Buenos Aires: Der alte Kentaur aus dem Pelion-Komplex“ hockt sich zu Deters an den Biertisch und aus dem Auge schießt ihm das Raumschiff.
Dieses Zwischenstück ist ein großer Wurf, lieber ANH! Und ich meine sogar nur diese Listensequenz bislang, die lange Liste und deren Ende! Kompliment!!
Das Buch über die Anderswelt lohnt sich, jedenfalls die ersten 150 Seiten. Langweilig ist es nicht. Thetis ist vielschichtig, komplex, variantenreich (auch in den Stilen, den Tonfällen), überraschend und vereinzelt sogar lustig, wenn ich da an eine Auseinandersetzung des „Ehepaars“ Drehmann denke, wo es über das, was sie gerade machen und darüber, wie idiotisch es ist, was der andere gerade sagt, hergeht wie bei Loriot, wo die in der Küche arbeitend hin und her laufende Ehefrau den ruhig im Sessel Zeitung lesenden Mann ständig fragt, was er denn um Gottes willen bloß mache, der immer „Nichts“ antwortet und am Ende ausrastet.
Beste Grüße
NO
Thetis ist ….. ….. Schöpfungsgeschichte.
Um es vorwegzunehmen: Dieses Kapitel über den laichenden Buben und die weißen Wurzeln, über „Mutter“ und „Hal“ ist eines der großartigsten, die ich seit langer Zeit gelesen habe. Damit wird dieser „fantastische Roman“ zu einem „phantastischen“ Roman, jedenfalls bezogen auf die bislang zurückgelegte Strecke von rd. 200 Seiten.
Ein Raumschiff fliegt eine Ewigkeit durch den Weltraum. Tiefgekühlte Menschen an Bord. Alles gesteuert von einem Computer. Der will einen Menschen altern sehen und lässt automatisch die Kühltruhe eines kleinen Jungen öffnen. Der Junge erwacht, lebt und stirbt. Mit Eva. Der Bub gründet Familienstämme, Völker, und die wiederum bekriegen sich auf dem riesigen Raumschiff. Am Ende sind alle tot. Zeit vergeht nicht. Die Kältemenschen verwandeln sich. Die Sache wird wurzel-haarig, ekelig, tödlich. Das Raumschiff kommt an, der Computer öffnet die Schleusen, der neue Planet wartet.
Sagenhaft! Sagenhaft in dem einen Sinn und in dem anderen.
Natürlich lässt die Science-Fiction-Prägung von ANH ihn nun zu einer Ausformulierung von „2001 – Odysee im Weltraum“ kommen, und lässt ihn den Jungen mit dem Computer sprechen wie dereinst „Ripley“. Aber das ist es nicht.
„Anfangs schuf der Rechner die Zeit. Und aus der Zeit schuf Er den Raum…“. – Das ist Johannes-Evangelium!
Er nahm von dem Raum mehrere Kabel und knetete sie und hauchte ihnen Seele ein. So schuf er nach seinem Bild den Menschen …“ – Das ist Genesis!
„Bis zu seinem 20. Geburtstag laichte er nur bei „Mutter“. – Das ist pervers-großartig!
Der Junge trinkt mit dem Keeper an der Bar projizierten Whiskey wie Jack Torrance in Stephen Kings „Overlook Hotel“ in „Shining“. Die Frauen, die ihm zugeführt werden, sind Spiegelbilder. Also muss Muttern her. Sie wird Pyrrha genannt.
„Der Rechner aber sprach „seid fruchtbar und mehret Euch. Und Pyrrha gebar den Ores, den Jem …und Japhon zeugte Gomer, Magog …“. So geht es fort. Wie die Geschlechterreihungen in der Bibel. Der Rechner ist Gott, Thetis ist die Bibel. Eine grandiose Neuschöpfung der Schöpfungsgeschichte. Mit einer Maschine als Gott, die, weil Maschine, dem Geschehen teilnahmslos, ungerührt, erstaunt manchmal, aber im Eigentlichen kalt, zuschaut. Sensationell, genial, großes Lesekino!!
Ich kenne übrigens noch ein Buch, in dem intensiv Bibelstellen in dieser ironischen Form zitiert und nachgespielt werden: Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Und wenn auch nicht dieses, sondern „Berge Meere und Giganten“ unter den Prägungsbüchern aufgeführt ist, so nehme ich doch an (eine Bearbeitung gibt es dort noch nicht), dass ANH durchaus auch eine „Döblin“-Prägung allgemein gelten lässt, die hier mit dem Bibel-Spiel zum Ausdruck kommt.
Und dann dreht sich das ganze Geschehen wieder um. Das Raumschiff ist doch keine neue Ebene im Roman, es ist ein futuristischer Versuch, Infonautik, man kann damit wohl in die Zukunft sehen und Dinge ausprobieren. Aber der Mensch im Infonautikanzug wird zum „Flatschen“.
Sehr stark, lieber Herr Herbst!!
Beste Grüße
NO
Lieber Dr. No, Sie ahnen nicht, wie gut mir Ihre Leseerfahrung und vor allem deren Schilderung gerade im Moment tut; „Moment“ heißt: in diesen für mich sehr schwierigen Tagen. Es kann sein, daß ich deretwegen gelegentlich einmal auf Sie zukommen muß. Aber dieses jetzt beiseite, und sowieso schwimme ich zur Zeit, soweit ich nicht gehindert werde, über den >>>> Argo-Strom, der endlich das Ende bringen wird des gesamten Projektes; ein bis zum Weltuntergang scheinbares aber, notwendigerweise, doch ich werde mich nach Argo ganz anderen Anderswelten zuwenden. Nach insgesamt siebzehn Jahren Arbeit wird es Zeit, die Trilogie nun wirklich abzuschließen.
Döblin: selbstverständlich. Wahrscheinlich ist, neben der durch den späten Aragon, keine meiner ästhetischen Prägungen so stark wie diese durch ihn, und zwar besonders durch „Berge, Meere und Giganten“. Das sogenannte apokalyptische Eingangskapitel, von dem Sie schon erzählten, ist direkt seiner, Döblins, dortigen Rhythmik nachempfunden, ja kopiert sie sogar ein bißchen. Absichtsvoll tat ich’s, damit man merkt, es gebe da einen, der an den Mann ganz bewußt anschließt. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mir seitenlang aus dem Roman laut vorgelesen habe, in verschiedenen Stimmlagen usw., allein, um in den „Groove“ dieser Prosaverse zu kommen, so daß ich ihn mit meinem ganz anderen Text nachmusizieren konnte. (Ein anderes wichtiges Buch steht für so etwas noch aus: Brochs Tod des Vergils, insbesondere die lyrischen Passagen, die da eingeschaltet sind. Ich habe die Idee, darauf zurückzugreifen, wenn ich meinen wahrscheinlich letzten Tausendseiter in Angriff nehmen werde, den Friedrich-Roman, der mir vorschwebt. Doch das wird, wenn ich sowas noch erreichen sollte, mein Altersbuch werden: das zurückblickt, aber doch eine Utopie erzählen soll: die eines geeinten Europas, das sich mit seinem Ursprung, dem Orient, wieder verbindet, dem jüdischen u n d muslimischen, eingedenk zugleich seiner christlichen Prägung. Und das als aufgeklärtes säkulares mit den „heidnischen“ Träumen, Märchen, Sagen, die es auch noch hatte und hat. Ja, ein politischer Roman, der eine Vision träumt, die als historischer Roman nur daherkommt. Sie ahnen, ich spreche bei Friedrich nicht von dem Preußen.)
Und daß Sie sogar mein Spiel mit „fantastisch“ und „phantastisch“ merken, daß ich da gar nichts sagen muß! Das macht mich rundweg glücklich. Den Synkretismus bis ins einzelne Wort hineinbekommen, das Heute, Früher, Spätereinmal, und die Mischung aller Genres.
Döblin noch mal: für mich der wichtigste aller Dichter der frühen deutschsprachigen Roman-Moderne. Es war ein absoluter Glücksfall, daß mir geradezu „für umsonst“ Döblins Bearbeitung von Berge, Meere und Giganten, die Erstausgabe des etwas abgespeckte n“Giganten“ eines Tages in die Hände fiel. Nun steht das Buch bei mir.
Ripley übrigens, glaub ich, ist aus Alien, der mit Hal spach aber, der hieß Dave. Dave Bowman, später: Sternenkind.
Ihr
ANH
Thetis ist ….. …..unübersichtlich.
Geschehennisse in der Anderswelt:
Präludium und Exposition sind geleistet auf S. 200. Was passiert hier überhaupt in diesem Buch? Das Geschehen in „Thetis“ bewegt sich auf 5 Ebenen:
Da ist zum ersten Hans Erich Deters in Berlin, der sich dort eine Geschichte ausdenkt und erzählt und dabei durch die Stadt wandert und diese in Buenos Aires umdichtet. Ob es auch einen Filmer Borkenbrod gibt, der auch durch Berlin wandert und sich dabei ein Filmskript ausdenkt und erzählt, bleibt (für mich) letztlich offen.
Zum zweiten gibt es aber sicher einen Achilles Borkenbrod im Osten, der über den Westen auf die Insel Levkas will. Ob das eigenständig ist, oder der Roman im Roman, sei er von Deters in Berlin oder von Borkenbrod in Berlin geschrieben, bleibt letztlich offen. Hierzu gehört als erläuternder Aufgalopp jedenfalls das Drama der „geologischen Revision“: Die bekannte Welt ist in einer Sintflut untergegangen.
Zum dritten hören wir die Geschichte des Holomorfen Drehmann in Buenos Aires (jedenfalls im Westen), seine Menschwerdung und seine Verquickung in den Aufstand der Maschinen.
Zum vierten erscheint mit Ungefugger – und seinem Polizeiapparat unter Markus Goltz – die höchste Macht im Westen, um die alles kreist, gegen die sich vieles richtet.
Und zum fünften haben wir die Geschichte der Menschheit und ein technisches Gottesverständnis in einem Raumschiff auf seiner langen Reise.
Letzteres ist vermutlich kein wirkliches Geschehen, sondern nur eine Projektion – sozusagen ein Film – eines „Infonauten“, der mit Hilfe einer Zukunftstechnik in die Zukunft schaut (und das ebenso wenig überlebt, wie die Gucker des Films „unendlicher Spaß“ bei Wallace). Diese Technik wiederum lässt sich überraschend dem Kreis um Ungefugger zuordnen.
Was soll das alles?
Es geht sicher unter anderem um Unschärfen. Was ist Realität, was ist Fiktion? Kann – und sollte – man das unterscheiden? Damit korrespondiert die Frage, was ist Mensch, was ist Maschine? Gibt es einen Unterschied zwischen Organischem und Technischem, und wenn ja, warum? Was macht Menschen aus?
Thetis ist sicher auch eine Geschichte des Untergangs. Die bekannte Welt gibt es nicht mehr, eine Raumschiffwelt zerfällt. Es gibt Indizien, dass man dies den Menschen zuschreiben muss. Eine sich selbstzerstörende Rasse? Die Sache endet im Nichts, im Undendlichen, im Abstrakten? Anarchie herrscht, Kevin Costner in „Waterworld“.
Es ist eine Geschichte der Suche. The Quest. Der Plot der großen Reise. Ein Raumschiff segelt durch die Zeit. Da ist einer, der sucht eine Insel und macht sich auf den Weg. Eine Odyssee. Einer träumt von etwas anderem und geht.
Thetis ist in gewisser Weise auch ein Berlin-Roman. Deters wandert durch die Straßen und Kneipen, überall ist Baustelle, das typische Berlin der 90er mit seinen Techno-Clubs. Die Mauer ist wieder hochgezogen und die im Osten, auf die wird scheel geblickt, das ist Muschpoke, so hieß es dann und wann hinter vorgehaltender Hand Mitte der 90er. Das ganze Land wird privatisiert, der ganze Staat wird übernommen und dann verhökert. Große Spekulanten kaufen alles auf. Diese Situationen, diese Lebensgefühle, werden in diesem Roman unterschwellig zwar, aber sehr plastisch aufs Papier gebracht. Das hat Ingo Schulze in „Simple Storys“ nicht besser gemacht (nur viel intensiver).
Thetis ist auch eine Frage nach Gott. Schaut der, wenn existent, desinteressiert zu wie ein schlicht mathematisch arbeitender Computer? Oder wirklich Welt am Draht, wirklich „Matrix“? Die Raumschifferzählung, erschreckend eindringlich, macht erfahrbar, wie jeder denkt, er s e i, aber am Ende ist da nur „Mutter“. Ich bin erinnert an „Im Ei“, worin Günther Grass u.a. dichtet:
“Wir leben im Ei.
Die Innenseite der Schale
haben wir mit unanständigen Zeichnungen
und den Vornamen unserer Feinde bekritzelt.
Wir werden bebrütet…
Wir nehmen an, dass wir gebrütet werden. /
Wir stellen uns ein gutmütiges Geflügel vor /
und schreiben Schulaufsätze
über Farbe und Rasse
der uns brütenden Henne…
Und wenn wir nun nicht gebrütet werden?
Wenn diese Schale niemals ein Loch bekommt?
Wenn unser Horizont nur der Horizont
unser Kritzeleien ist und auch bleiben wird?
Wir hoffen, dass wir gebrütet werden.
Wenn wir auch nur noch vom Brüten reden,
bleibt doch zu befürchten, dass jemand,
außerhalb unserer Schale, Hunger verspürt,
uns in die Pfanne haut und mit Salz bestreut.-
Was machen wir dann, ihr Brüder im Ei?“
Eines ist Thetis bisher sicher nicht: Eine Liebesgeschichte. Hier liebt selten irgendjemand irgendwen. Die wesentlichste Ausnahme ist vielleicht der schwule Poseidon mit dem „Stutzen“, dem Gewehr unter dem Mantel (das er immer bei sich trägt wie Old Shatterhand den Henry-Stutzen). Denn Poseidon liebt den Borkenbrod (und reist ihm deswegen hinterher).
NO
„…mit dem ‚Stutzen‘, dem Gewehr unter dem Mantel.“ Ha!
[Welt ist unübersichtlich.
„Das Geheimnis ist, daß es keines gibt“, sagte Enzensberger. Er irrte. Bereits unser Gehirn sieht nicht, sondern – interpretiert. Wir konstruieren Wirklichkeit.]
Wie bei Wallace in den Fußnoten, so stecken bei Ihnen wichtige Hinweise in den kleinen Klammerzusätzen?
Die großen Themen, …
…das Thema der Identität (Ist Herbst Deters? Schreibt nun Deters oder Borkenbrod? Ist die Perspektive von Hans E r i c h Deters eine aus der ersten oder dritten Person [Er – Ich])? Auf welcher der drei bzw. vier Erzählebenen bin ich gerade?), …
… und das Thema der unscharfen Abgrenzung zwischen Realität und Fiktion (Ist das, was gerade im Roman geschieht, Traum oder Wirklichkeit? Ist das Geschehen Film oder echt? Tritt eine Romanfigur ins wahre Leben? Tritt der Autor als echte Figur in seine Romanwelt ein? Lebt ein Roboter? Wird der Mensch von Maschinen beherrscht? Steuern Computer das Leben?) …
… deswegen, weil es objektiv keine feststellbare Wirklichkeit gibt? Weil wir nicht objektiv mit den Augen sehen (können), sondern „nur“ mit dem Gehirn konstruieren (können)?
NO
@Dr. No: Zusätze in, übrigens, Klammern. In der Tat habe ich auch in der mündlichen Rede die Neigung, Dinge und Nachrichten, die mir wichtig sind, in Sätzen anzuhängen, die mit einem „übrigens“ beginnen. Zuerst machte mich darauf meine langjährige Gefährtin Do aufmerksam. Das liegt ziemlich exakt dreißig Jahre zurück (Wintersemester 82/83, Philosophikum Frankfurtmain oder, wie das in Thetis auf einer Ebene hieße, „Rheinmain“, Raum 309). Andere bemerkten diese Eigentümlichkeit selbstverständlich auch. Eine Zeit lang kultivierte ich sie dann bewußt, dann vergaß ich‘s, aber – machte weiter. Ich denke, dies entspicht Ihrer Verklammerungsbeobachtung.
Ja, was Sie für die Perspektiven dieses Romans analysieren, ist sicher richtig. Meine Ausgangsfrage einst war, ich schrieb es Ihnen schon, wie ließen sich die Vorteile des auktorialen mit denen des subjektiven Erzählens kombinieren, und zwar zunehmend bruchlos. Dazu kamen die Erfahrungen über die Neuen Medien. Daß wir mit dem Gehirn „nur“ konstruieren, ist freilich nicht neu, das steht so schon bei Kant; aber daß es zu einem Topos sowohl der Literatur der jungen Moderne als auch schließlich „praktisch“ wurde, ist – sich da extrem beschleunigend – seit den Achtzigern des letzten Jahrhunderts zu beobachten und wurde auch immer wieder Gegenstand der verschiedenen Philospheme, weniger allerdings in der sich, wie ich es sehe, seit den Achtzigern regredierenden erzählenden Literatur (Ausnahmen, große, gibt es allerdings: Pynchon, Gaddis, auch Cortázar, Borges sowieso; in Deutschland aber noch weniger, wie, wie gesagt, ich es sehe). Was mich nach wie vor poetologisch umtreibt, ist: Kann ich mit dem Wissen um die letztliche Relativität auch unserer Ich-Konstrukte immer noch Geschichten erzählen, die sich nicht permanent im Theoretischen auflösen, sondern immer auch noch Sand zwischen den Zehen haben? Es geht mir um Sinnlichkeit, die aber nicht auf Kosten des intellektuellen Betrachtens gehen soll, also eben nicht um regrediertes Erzählen. Zugleich geht es mir auch um NachErzählung von Welt, etwa des, als ich Thetis schrieb, gleich nebenan, auf dem Balkan nämlich, brandenden Kriegs, ging und geht es mir um die Ungeheuerlichkeiten der afrikanischen Warlords, um die imperial-brachiale Machtausübung der USA usw. Das ist ja alles auch Realität, ebenso, wie die Medialisierung unserer Wahrnehmungen und also der als wahr oder falsch wahrgenommenen Welt. Dafür ist eine zeitgenössische Erzählform zu finden, eine, die nicht sogar wieder hinter den Grünen Heinrich zurückfällt. – Kann ich also trotz meines Bewußtseins und ohne es dem Leser zu verleugnen, um ihn in konsumierender Sicherheit zu wiegen, unter anderem Spannung, Mitleid, Liebe zu den Romanpersonen erzeugen und Interesse am Gang der Handlung? Ich will mich aber nicht zu ihm hinunterbeugen, um ihn wie ein Vater sein Kind über die Straße zu führen, kurz: ich will nicht unter Niveau mit meinen Leser:inne:n reden. Trotzdem sollen sie kathartische Momente erleben. Ohne sie wäre alles Erzählen nämlich müßig.
Man kann mit Recht sagen: der Mann will Quadrate Kreise sein lassen und doch die Quadratform behalten.
Stimmt.
(Als ich mit der ganzen Serie anfing – Verwirrung des Gemüts/Wolpertinger/Anderswelt/ – schrieb ich, bereits mit sechsundzwanzig, in eine Notiz, daß es der Kunst darum gehe, den Satz vom Ausgeschlossenen Dritten auszuhebeln, weil, gelinge das nicht, es keine Freiheit geben könne.)
Ihr
ANH, zu Heinz Winbecks Fünfter Sinfonie auf Themen von Bruckner.
(Außerdem: Es geht mir um – Europa.)
Mein lieber Alban Nikolai Herbst,
Sie überschätzen mich bei Weitem. Mangels literaturtheoretischer, mangels erzählerischer Ausbildung und Übung kann ich im Grunde nicht folgen. Vielleicht schaltet sich freundlicherweise der Herr Dr. Schlinkert hier ein?
Die bruchlose Kombination des auktorialen Erzählens mit dem subjektiven Erzählen lösen Sie, indem Sie diverse subjektive Sichtweisen als gleichrangig nebeneinander kombinieren u n d diese miteinander verschlingen? Alle sind möglich, welches die „richtige“ ist, bleibt unbestimmt, unbestimmbar? Alle Möglichkeiten passieren gleichzeitig? Und man wechselt in die verschiedenen Möglichkeiten praktisch innerhalb eines Satzes, es laufen viele Filme nebeneinander und in welchem Kinosaal man sitzt, mal hier, mal dort, entscheidet sich ruckartig nach dem Chaos-Prinzip, wie das Wetter hierzulande?
Einschluss des Dritten, weil viel (alle) subjektiven Deutungen mit der objektiven (die es nicht gibt, weil es nur viele subjektive gibt – und weil auch die mediale natürlich keine objektive ist) verschmolzen werden?
Und trotz dieses (bzw. mit diesem) hoch theoretischen Unterbaus sollen Geschichten sinnlich erfahrbar, soll die Geschichte der Welt saftig, fleischig erzählt werden, wie die „Tolldreisten Geschichten“?
Mir persönlich fällt es schwer, zu den einzelnen Figuren in Thetis eine persönliche Beziehung aufzubauen. Ist das eine Antwort auf die Frage, die Sie stellen? Sie sagten aber bereits, dass es, wer „Wolpertinger mag (und das tue ich sehr!), schwer hat mit diesem Buch. Ich mag Elena Jaspers. Ich mag sie wie Joelly van Dyme in „Unendlicher Spaß“, aber dort mochte ich weitaus mehr Figuren.
Ich bin ergriffen von dem Raumschiff-Kapitel. So wie ich seinerzeit ergriffen war von Grass` Ei-Gedicht. Ich bin beeindruckt von dem Kapitel über die Große Geologische Revision. Ich bin fasziniert von der sensationellen, grenzenlosen Fantasie, die Sie in dem Roman entfalten, die der von Wallace und von Pynchon (in der ersten Hälfte von „Gegen den Tag“) in NICHTS nachsteht. Sind das die von Ihnen erhofften „kathartischen Momente“?
Ich sehe allerdings die Möglichkeit, dass „Spannung, Mitleid, Liebe zu den Romanpersonen“ leidet unter der Fülle des Stoffes und der Vielzahl der Personen. Andererseits hätte ich das auch Proust zur „Verlorenen Zeit“ und Johnson zu den „Jahrestagen“ sagen können.
Beste Grüße
NO
@Dr. No zum sinnliche Erfahrbarem. Hm.dieses (bzw. mit diesem) hoch theoretischen Unterbaus sollen Geschichten sinnlich erfahrbar….Ich für mich erlebe das gar nicht als so hochtheoretisch, sondern ich fühle es, beobachte es, erlebe es; theoretisch wird es immer erst, wenn ich drüber schreibe, also es zu erklären versuche. Das ist so, als wenn ich zu erklären versuchte, was Liebe sei und was sie begründet: entweder man bleibt sehr banal, oder die Angelegenheit wird irre kompliziert. Mir ging es am Ende von Thetis so, daß ich ganz frei „regelrecht“ gesurft bin – Sie werden das, hoffe ich sehr (also daß Sie dahin noch kommen)-, im zweiten Band erleben, der viel spielerischer, geradezu eine Art Divertimento ist (es kommt auch der Osten quasi nicht mehr drin vor – erst am Ende wieder); da wird in der Tat >>>> wie in Computerspielen eine Tür nach der anderen geöffnet, manchmal fünf, und man fällt, fängt sich, landet in der sechsten Ebene, öffnet eine Tür und kommt in der ersten wieder heraus.
Mein Lektor, übrigens, der mit mir auch von Thetis gearbeitet hat, sah die Personen wie Sie auch nicht als Personen, sondern als, wie er sagte, „Informationsträger“; anders als ich hatte auch er ein Problem mit der persönlichen Bindung. Für mich selbst sind die Figuren Personen, also ausgesprochen gegenwärtig – das reicht bis in die mythischste aller, nämlich Niam. Sie sind zugleich aber Allegorien. Diese Doppelgesichtigkeit, poetologisch: Doppelfunktion, hat mich gereizt bis heute.
Ja, in gewissem Sinn haben Sie recht: alle Möglichkeiten geschehen; deshalb habe ich in meinen >>>> Heidelberger Vorlesungen den Begriff der Möglichkeiten-Poetik geprägt, neben dem des Kybernetische Realismus, der dem schmalen Buch den Titel gibt.
Was Sie nun aber im Vergleich zu Wallace und Pynchon schreiben, ja, das reicht mir, wirklich, und mehr als das. Ebenso wie, was Sie über die Weltraumreise und das scheinbar apokalyptische (ecco:) Anfangskapitel schreiben. Was wollte ein Autor mehr? Und auch die Abgrenzung, die Sie leisten, zu Johnson (den ich immer geliebt habe) und zu Proust (den ich, weil er mir – mir, das ist ein reines Gefallensurteil, sagt nichts über seine Faktur – zu parfümiert ist, nicht ausstehen kann), ist ja nun auch in der Kritik ein Kompliment, das mich ein bißchen sprachlos macht – aber auch auf etwas verquere Weise glücklich. Zudem glaube ich an Langzeitwirkungen von Romanen, daß manchmal, wenn man sie zugeschlagen, weggelegt hat, ihre Wirkung erst wirklich anfängt.
Ja, innerhalb eines Satzes. Das wäre ideal… besser wäre noch, innerhalb je der einzelnen Wörter; nur fürchte ich, dafür reicht meine Technik nicht. Erinnern Sie sich an Maimonides, auf den Benjamin zu sprechen kam? Ein Blatt, das in sich alle Blätter enthält. Borges, in einer sehr sehr kleinen (großen, ja riesigen, heißt das) Erzählung hat es zum „Aleph“ gemacht und damit die Quelle benannt.
Imgrunde müßte ich jetzt glücklich sein, aber ich will eben auch noch die Identifikation mit drinhaben – das Ganze ist, ich weiß das, ein echtes Risiko, diese Art zu schreiben. Zu meiner Entschuldigung kann ich wenigstens auf die eine und andere Kurzgeschichte verweisen, die ich alle immer deshalb geschrieben habe, um mir zu zeigen, ob ich auch noch „ordentlich“ erzählen kann.
Sehr herzlich,
Ihr
ANH
Thetis ist … … lang.
Die angespielten Themen werden auf den vier fünf Ebenen in den nächsten 150 Seiten wie folgt durchgeführt:
Kraft körperlicher Vereinigung verhilft Borkenbrod der Amazonenkönigin zur blonden Tochter Niam, das „Goldenhaar“. Die sollte ja an sich Thetis geopfert werden. Wird sie aber nicht, weil zu schön, zu süß, und schon als Baby zu alt und weise etc. Außerdem sind ungeplant die Muttergefühle der Mongolin zu stark. Die blonde Tochter kommt übrigens nach und nach in eine Art Messias-Rolle. Ununterbrochen ist in diesem Roman ab nun von einem Kind die Rede, welches in die Welt kommt und die Menschen rette. Rettung durch Führung auf eine Insel, wo man Pfirsiche von den Zweigen beißen kann. Vater Borkenbrod soll trotz erfolgreicher Zeugung trotzdem getötet werden, entkommt jedoch. Niam, rasch gealtert, versteckt ihn unter Frauenkleidern vor den Häscherinnen.
Das ist die Geschichte vom Homerischen Achill, der nicht mit in den trojanischen Krieg will. Aber in der Ilias enttarnt Odysseus ihn listenreich, Achill muss mit und stirbt, großes Unglück für die Familie, weswegen Odysseus für seine List bei Dante auch in der Hölle schmoren muss. Einen Odysseus gibt es in diesem Roman übrigens auch, er ist ein aufständischer Anführer im Osten.
Borkenbrod-Freund Poseidon dagegen, in der „Odyssee“ der große Gegenspieler von Odysseus, macht sich hier mit Schweißfuß auf hinter Borkenbrod her, ihn zu beschützen. Wird aber von Schänderpriestern gefangen und von einem Hundsgott abgeleckt. So ein Zwitterwesen, halb Dingo, halb Mensch. Bulgakovs „Hundeherz“.
Deters sitzt in Berlins Silberstein und schreibt, da sieht er plötzlich Herrn Drehmann hereinkommen, spricht den an, aber der Holomorfe weiß nicht, wer das ist und geht seiner Wege. Herr Drehmann bekommt in Bueos Aires mit Terroristen zu tun, die ihn anwerben, wie die Amazonen Achilles Borkenbrod angeworben haben und die ihm zur Kontrolle Flashbacks schicken. Drehmann wird von Deters angesprochen, denkt aber, es sind Flashbacks und geht seiner Wege. Offenkundig überlappt sich hier etwas.
Herr Drehmann vermenschlicht. Dem Roboter ist schlecht, der Roboter hat Hunger, dem Roboter ist heiß. Da trifft er auf den abgeschaltet geglaubten Hausmann, der ihn (siehe oben!) einer holomorfen Terroristengruppe zuführt, die sich mit Geräten gegen das Abschalten wehrt, um die Menschen zu besiegen und deren Welt zu übernehmen. Der Aufstand der Maschinen. Ein großes altes Motiv, man denke an die Menschen tötenden Autos in Stephen Kings „Christine“ und an die Angriffe der fliegenden Roboter der Maschinenwelt auf die in der Unterwelt lebenden Menschen in „Matrix“. In „Terminator“ ist man schon einen Schritt weiter, da haben die Maschinen schon die Welt übernommen und die Menschen schlagen mit ihrem Führer „Connor“ zurück.
Um Connor von Anfang an ausgeschaltet zu haben, reist im Film bekanntlich ein Terminator in die Jugendzeit von Connor zurück, um den Teenager zu töten, bevor er alt genug sein wird, die Aufständischen anzuführen. Ebenso bekanntlich überlebt Connor aber dank Arnold- „hasta la vista, baby“ -Schwarzenegger. Bei Alban Nikolai Herbst gibt es Ähnliches, zwar keinen „Time Tunnel“ (alte Fernsehserie aus meiner Jugend), durch den man zurückreist in die Vergangenheit, aber die Zeit selbst biegt sich zurück. Ich stelle mir das so vor, wie ein Salto rückwärts des Zeitstroms, wie eine auf den Strand zurollende, aber sich nach hinten überschlagende Welle der Geschichte. Dadurch kommen Zukunft und Gegenwart übereinander zu liegen, überlappen sich, die Zeitzonen werden übereinander geblendet wie 2 Filme, so dass in der Gegenwart Dinge geschehen können, die erst in der Zukunft Realität werden. Zum Beispiel regen diese gefährlichen „Flatschen“ nieder, obwohl die erst viel später in der Zeitachse (und in der Romanchronologie von „Thetis“) erfunden werden – nämlich als ein Abfallprodukt der Infonatutenreisen.
Und auf der Ungefugger/Golts-Ebene: Auftritt der schönen Mulattin Jaspers. Ihr Vater ist reaktivierter Ingenieur für die große Mauer gegen Thetis. Reaktiviert, weil der an sich zuständige Drehmann abgeschaltet/abtrünnig wurde. Ihr Vater tauchte schon am Buchanfang auf, als der Mensch, dem das Maultier Drehmann diente. Elena Jaspers, die schöne Helena. Welche Paris ja bekanntlich nach Troja entführte mit der Folge, dass die ganze Stadt in Asche gelegt wurde, ein Abenteuer, das – bis auf Odysseus – kaum ein Homerischer Held der griechischen Sage überlebte. Ungefugger befiehlt Elena Jaspers und dem schwulen Geheimdienstchef Goltz, sich als Paar zusammenzutun. Es geht irgendwie um Abstammung bzw. um Fortpflanzung ohne sich fortzupflanzen.
Und dann treffen sich 2 Erzählebenen: Deters trifft die schöne Jaspers in einem Restaurant und kriegt ihre Visitenkarte, Jaspers-Begleiter Goltz reagiert unwirsch.
Im Übrigen wird eindrucksvoll Ungefuggers Geschichte erzählt, wie er zu dem mächtigen Mogul wurde, der er ist. Die Privatisierung des Staates, die Übernahme der Polizei, das Versagen und die Kapitulation staatlicher Institutionen und übergeordneter Autoritäten vor der Macht des Kapitals. Eine erschreckende Zukunftsvision (wenn es denn Zukunft ist), in der der obszöne Einfluss von viel Geld den Lauf der Welt bestimmt. So ist beispielsweise Ungefugger durch einen Merger zwischen seinem Siemens-Konzern mit der ESA zu den beiden den Westen beherrschenden Techniken gekommen, Holomorfentechnik und Infonatuentechnik.
Da sind so die Dinge, die mir auf den 200 Seiten nach der Exposition im Gedächtnis geblieben sind. Nicht alles ist eben interessant. Nun sind insgesamt ca. 400 Seiten gelesen. Und doch ist noch nicht einmal die Hälfte des Romans geschafft.
Immerhin abschließend eine klein Frageliste:
1. Ein Joachim Radegast tritt auf. Hat das etwas mit Rohner-Radegast zu tun, dem Autor des „Semplicita“?
2. Das „Kommando Jan Raspe“ ist sicher, wie im Wolpertinger, der Hinweis auf den Jan Carl Raspe der RAF und damit Ihre Prägung durch den Autor und die Terroristen (zumal da im Roman ein Kaufhaus explodiert, wie sie seinerzeit unter Baader brannten)?
Beste Grüße
NO
Wenn lang@Dr.No. Nicht langweilig ist, dann ist es gut, falls doch, schlecht.
Nur kurz zu Ihrer Zusammenfassung: Ungefuggers eigentliches Unternehmen ist die „Europäische WirtschaftsGesellschaft“ EWG, ein Finanzdienstleistungsunternehmen auf Strukturvertriebsbasis, das ich im zweiten Band, Buenos Aires.Anderswelt, dummer- und verräterischerweise „AWG“, für Allgemeine WirtschaftsGesellschaft, genannt habe; den freudschen Fehler hab ich erst (!!!) bemerkt, als das Buch vorlag. Was mich jetzt, während der Arbeit an Argo, vor Problemchen stellt. Ich muß mich nämlich entscheiden und bei einer Neuauflage der anderen Bücher die Namensgebung angleichen. So haben Sie schon einmal die Spur. Auf die SIEMENS/ESA, deren Bildung Ungefugger später maßgeblich einwirkt, kommt er erst, nachdem er offensiv in die Politik gegangen ist und das Präsidialamt anstrebt, wozu zuvor der alte Präsident ausgeschaltet werden mußte. Was, wie Sie wissen, nicht sonderlich schwer war. Die Privatisierungswellen sind aber schon lange vor Ungefuggers politischen Ambitionen im Gange und setzen eine Entwicklung fort, die in der Tat in unseren Tagen schon auf ihre Perfektionierung zuläuft.
Was Sie über die Zeiten schreiben, stimmt: Das nimmt ein Wolpertinger-Motiv auf, das schon wörtlich erzählte, die Zeit habe sich über ihren Rücken zurückgebogen; was in Thetis in sozusagen politisch-geschichtlicher Zeit passiert, mit all denn Tableuax, passiert im Wolpertinger sozsuagen provinziell-privat: abgestimmt auf Hannover Münden. Siehe dazu auch das Motto von Buenos Aires, das von MacKenna stammt.
Auch Borkenbrod, übrigens, bei den Frauen, wird enttarnt, und auch hier von Odysseus. Soweit sind Sie aber vielleicht noch nicht. Das Heilige KInd wiederum ist altes mythisches Motiv; da der Widerstand im Osten weiblich geführt ist, ist es logisch, daß es sich um eine Erlöserin und nicht, wie in allen Patriarchaten, um einen Erlöser handelt. Daß alledies, wie in unserer Wirklichkeit, völlig aus dem Ruder laufen wird, muß ich Ihnen sicher nicht sagen. Aber in Niam ist viel, viel Tragik. Sie werden es noch erleben, hoffe ich, trotz der Länge.
Direkt zu Ihren Fragen:
1) Das wäre mir unbewußt passiert, wiewohl ich Rohner-Radegasts Buch kenne und sehr schätze. Ich erinnere mich, den Namen Radegast aus zwei anderen Namen nach Schuttelart synthetisiert zu haben, und zwar von Leuten, die – das lag damals in der Zeit – sogenannte Philosphische Praxen eröffnet hatten und Manager coachten; die Geschichte mit dem Bonbonpapier ist nicht erfunden.
2) Einfaches Ja.
Merger Wenn Sie (bzw. Ungefugger) das Strukturvertriebsunternehmen EWG mit dem Berliner Warenkaufhausunternehmen AaWeDe fusioniert hätten (kurze Rückblende), könnte das verschmolzene Unternehmen zukünftig gut AWG heißen!
Beste Grüße
NO
(Lächelt@Dr.No). .
Thetis ist ….. ….. sehr lang.
Und sehr komplex. Anstrengend.
1.000 Seiten sind 1.000 Seiten. Spielen diese in der Zukunft oder in der Fantasie, wird es nicht einfacher, weil „Thetis“ nicht aus sich heraus verständlich ist: Der Roman beschreibt durchaus (wie ANH in einem Kommentar bereits ausgeführt hat) eine Evolution der Menschheit und damit aber auch eine Fortentwicklung der Technik und der Lebensumstände. Man versteht und akzeptiert das im Roman beschriebene Leben nicht ohne weiteres, sondern muss sich das mühsam erschließen und lieben zu lernen versuchen. Was aber selbst mit der Mühe nicht immer gelingt.
Es treten ununterbrochen neue Figuren auf. Die Seiten 400 – 500 präsentieren unter anderen Neuen erstmals eine Sekretärin und ihren Gigolo, einen Gigolo, der sich in eine geklonte Frau verliebt, einen Herrn Lutze etc. – und wesentliche Romanteile werden bestritten von einem am Romananfang nur kurz erwähnten Dr. Jaspers, dem Vater der schönen Helena, der sich fließend verwandelt in 2 andere Doktoren und wieder zurück.
Selbstverständlich gibt es keine wirkliche Identifikationsfigur, keine Chronologie, keinen konkreten Plot, kaum Poesie im Sinne von Schönheit, und wenn es einen roten Faden geben sollte, der sich durch das Buch zieht, dann ist er sehr verschlungen. Nein, es gibt ihn. Aber man ist durchaus – wie bei Wallace und Bolano – versucht zu sagen: Es zieht sich ein roter Faden durch das Buch, ich weiß nur nicht genau, welcher.
Hat man da kein Blog-Forum, wird es im Zweifel kein unendlicher Spaß, hat man keine Landkarte wie im „Turm“, muss die Orientierung hart erarbeitet werden. Und es bleibt Unsicherheit, ob das Erzählsystem in sich geschlossen ist, ob der Zauberwürfel letztlich aufgeht (und wenn ja, ob man das nicht verpasst).
Muss Literatur verständlich sein, um gut zu sein, um lesbar zu sein, um akzeptabel zu sein? Spannende Frage. Und wenn die Antwort etwa Ja sein sollte, frage ich, wie verständlich ist denn Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“?
Was mir von den letzten 100 Seiten in Erinnerung geblieben ist:
Auf der Erzähleben von Deters wird es voller, er ist ständig selber in seinem Roman und in Buenos Aires unterwegs und verliebt sich in die Jaspers. Und außerdem setzen sich verschiedentlich Figuren aus seinem eigenen Roman zu ihm an den Biertisch im Berliner Sillberstein.
Im Osten zersplittert die Handlung:
Borkenbrod taucht praktisch gar nicht mehr auf. Der hat seine Reise ins Paradies abgebrochen und mimt in Frauenkleidern versteckt vor der Mongolin eine Art männliche Hetäre unter den Amazoninnen.
Stattdessen hat nun der ihm nachreisende Poseidon die Romanhandlung in der Abteilung „The Quest“. Aber der tritt eine Reise ins Herz der Finsternis an: Sein Kollege Schweißfuß wird von den Schänderpriestern geschändet, Kröten reißen seine Zunge heraus und fressen die. Poseidon selber wird gefoltert und in eine Biowaffe umgebaut, denn er produziert nun Schwärme tödlicher kleiner Spinnen, die ganze Menscheiten umbringen können, sich aber in der 3. Generation nicht mehr fortpflanzen, so dass diejenigen nicht gefährdet sind, die diese Biowaffe einsetzen. Erfunden übrigens von Dr. Jaspers und/oder einem der anderen beiden Doktoren (siehe oben!), mit denen er ständig Gestalt tauscht. Außerdem spielen da (für mich unentwirrbar) solch‘ schräge Figuren wie Schänder, Hundsgötter, heilige Frauen und so herum.
Poseidon steigt schließlich auf zum Propheten der Schänderpriester, wie die Amazonen eine revolutionäre Gegenmacht zu Kapital (Ungefugger) und Zentralstaat (Präsident). Poseidon wird mit einem Messer geblendet wie einst der Kurier des Zaren bei Jules Verne und prophezeit fortan die Zukunft. Dieser blinde Seher Theresias voraussagt unter anderem die Erlösung der Welt durch ein Kind.
Im Westen gehen dem Leser in ähnlicher Weise die bekannten Figuren verloren:
Denn erstmals wird der Präsident des Zentralstaates in das Romansegment Ungefugger-Jensen-Gerling, die Machtzentrale des Westens, eingeführt. Der Präsident hatte sich in seiner Jugend einen fahrenden Sänger und Propheten gefangen, der ihm auch etwas von dem Erlöser-Kind, dem blonden Mädchen (Borkenbrots Tochter Liam Goldenhaar, der Mongolin ihre Tochter, wie man auf dem Dorf so sagt, der Thetis‘ Tochter) erzählt hat.
Der Präsident ist in der Welt der Macht und des Kapitals ein Gegenspieler zu Ungefugger und zu dessen Unternehmerkonkurrenten, kann sich aber nicht durchsetzen. Der Staat ist pleite. Der Staat muss wesentliche Elemente des Staatswesens privatisieren, die Polizei, das Finanzamt (Selbstverständlichkeiten schon der heutigen Welt wie Telekommunikation etc. natürlich sowieso). Der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung zugunsten einer rein marktwirtschaftlichen Ordnung, das Ende des Sozialstaates. Und ein grandioses Bild der zusammengebrochenen DDR, leider aber auch eine nachdenklich stimmende Zukunftsmöglichkeit für unsere (westliche) Welt.
David Foster Wallace hatte im „Unendlichen Spaß“ ein düsteres Bild der Überkommerzialisierung der modernen (westlichen) Welt geschaffen, in welcher die Jahre nicht mehr nach Ziffern („2012“) benannt werden, sondern nach Produkten der Konzerne, die das jeweilige Jahr vom Staat gekauft hatten („Jahr des Müllsacks“). Alban Nikolai Herbst schafft hier ein im Grunde noch düstereres Bild von einem Staat, der wirtschaftlich ohnmächtig sich der Kapitalmacht der Konzerne nicht mehr entgegenstellen kann und diese die Kontrolle übernehmen. So in etwa dürft es gegenwärtig in Nigeria aussehen, wo die Ölkonzerne praktisch das gesamte Gemeinwesen dominieren.
Der Präsident ist diesem Stress nicht gewachsen, er hat praktisch einen Burn Out: Er schrumpft. Irgendwann springt er im Westen auf den Regierungstischen herum wie Jonathan Swift im Land der Riesen.
Beste Grüße
NO
@Dr. No zum Mittendrin. Das sind Sie, mitten drin. Wenn Sie sich klarmachen, daß Deters allezeit an der Theke des Silbersteins sitzt und sich weiter und weiter zulaufen läßt, während er auf die Frau wartet, die sich mit ihm verabredet hat, ist die Perspektivensuche gar nicht schwer: denn er erzählt (sich) das Geschehen; da etwa Dr. Jaspers sein Innenbild ist, fließt er, wie Sie richig schreiben, rein aus Deters’s Perspektive, mit Leichtigkeit in z.B. Dr. Spinnen, das aber übrigens erst, nachdem Spinnen als Figur eingeführt wurde – ein Vater einer jungen Frau parallel zu einem anderen Vater einer jungen Frau (mehrerer junger Frauen, die alle jüngere Klons seiner Gattin sind und deren einer aber gefolgt wird.; hier erheben sich Figuren aus dem Romankontinuum, die bereits in die Folgeromane reichen, während, ganz wie im Leben, andere Figuren verlassen werden, n ä m l i c h vom Leben. Ob die Figuren schließlich „aufgehen“, dazu möchte ich hier nicht mehr schreiben, als: Ja, tun sie. Alle.
Wichtig, in der Tat: Deters betrinkt sich, er fantasiert aus dem zunehmenden Alkohol im Blut. Ich aber kontrolliere seine Erfindungen (was er – noch -nicht weiß; erst in Argo wird er‘ wissen, aber da werde auch ich kontrolliert sein – rückwirkend von Figuren aus dem Roman).
Übrigens erzählt der vom Präsidenten in Gefangenschaft „gehaltene“ Achäer die Geschichte der Zeugung Borkenbrods. Daraus wird ganz klar, weshalb Niam die mythische Tochter Thetis‘ ist (ihre Enkelin: im Mythos ist es fast üblich, daß Genealogien direkte Abkünfte und abgeleitete, fernere, mischen); als solche ist sie doppelt geworfen: es ist kein gutes Schicksal, Racheträgerin einer Naturgottheit zu sein, und auch nicht, für eine Erlösering zu gelten.
Der von Dr. Spinnen entwickelte Kampfstoff, der durch Poseidon, unwillentlich, aktiviert wird, ist übrigens so monströs nicht, daß ihn nicht unsere wirkliche militärische Wirklichkeit längst eingeholt haben könnte: denken Sie an die Biogifte, die nach Rosen duften, aber wenn Soldaten sie einatmen, kotzen sie im Wortsinn ihre inneren Organe aus. Das ist de facto Realität. Man könnte auch über die Wägung sprechen, daß AIDS ein aus dem Labor freigekommener Kampfstoff sei. So phantastisch-brutal hier alles klingt, so stellt es doch nur nach, was es gibt. Reale Grausamkeiten lassen sich nicht poetisch verstärken; da Gegenteil dürfte der Fall sein.
Dr. Spinnen ist übrigens ein, kann man sagen, Auftrag des Schriftsteller Burkhard Spinnen. „Kannst du mir in deinen Roman nicht eine Rolle schreiben? Ich wäre gerne einmal Romanfigur“, sagte er mir seinerzeit in der U2 Richtung Eberswalder Straße –
Was passiert, sind imgrunde dauernde Perspektivenwechsel; Deters fantasiert von Spinnen und läßt dann dessen Perspektive Jaspers übernehmen, und zwar so, als wäre Jaspers Spinnen; ist die Szene auserzählt, gleitet die Prspektive in Jaspers tatsächliche Ich-Perspektive zurück.
Was die vielen Personen anbelangt: Wir befinden uns in einer Megastadt. Ich kam drauf, als ich am Potsdamer Platz aus dem achten Stockwerk eines der Hochhäuser dort auf die Menschenmassen heruntersah. Ich erinnere mich noch genau, wie ich dachte: Alles Ichs, jeder Kopf eine Welt – und dann versuchte, einzelne Menschen zu separieren und mir je deren Geschichte (Welt) vorzustellen. Es war eine Art Meditation, in der die einzelnen Köpfe immer wieder von anderen Köpfen „ersetzt“ wurden, weil die ersten in der Masse wieder verschwanden, aber andere sich in meinen Blick schoben: Das floß. Und meine Frage war: wie stelle ich das dar?
Ihr
ANH
P.S.: Die Handlung zersplittert nicht, nirgendwo. Es kommt Ihnen nur so vor, siehe meinen Blick von dem Hochhaus herunter. Tatsächlich aber konstruiere ich die Bilder jeweils weiter, es bleibt nicht eine einzige Figur unverbunden, geschweige offen. Es gibt de facto nicht einen einzigen losen Faden, und wo Fäden in Thetis noch herausstehen, als hätte man die Handlung vergessen, nimmt sie meine Nadel in Buenos Aires und Argo wieder auf. Sie können es auch so sehen: Über die Zentralgeschehen in Thetis schieben sich bereits Geschehen aus den Folgeromanen: Pflänzchen noch, die aber wachsen. Es gibt viel Sterben in den Romanen und viele Geburten, denen weite viele Sterben folgen. Und jedenfalls keine Erlösung.
P.P.S.: Sie haben einen analytischen Blick, wenn Sie lesen. Das ist toll. Weil es die Vergeblichkeit mancher Analyse zeigt – nämlich dann, wenn sich nicht künstlich separieren läßt; Problem all unserer Wissenschaft, verglichen etwa mit östlicher Philosophie, deren Problem wiederum die Handlungs- und Mitleidlosigkeit ist, in die sie führt. Auch sie ist nicht wirklich Erlösung. Wir müssen, so nannte ich es, flirren: Dies tut der Roman, in dem er die Perspektive des Westens einnimmt, aber auch die des meditativen Beschauens, und dazu die des Mythos, zu dem uns Welt spätestens dann wieder wird, wenn wir alles begreifen wollen. Das geht nur noch in Modellen.
P.P.P.S.: Siehe auch meine Bemerkungen im >>>> heutigen Arbeitsjournal.
Thetis ist ….. ….. Cinema Paradiso.
Und zwar nicht nur der zitierten SF-Filme wegen. Deters geht ins Kino.
„Was war das für ein fürchterlicher Film!“ (Thetis.Anderswelt S. 425).
Deters, im Kino, muss Leute durch die Reihe lassen, die aus dem laufenden Film wegen brutal-obszöner Szenen pöbelnd `rausgehen. Zwanzig Seiten später dasselbe noch einmal: „Was war das für ein fürchterlicher Film!“ Deters scheint dies zwei Mal zu erleben? Einmal in Frankfurt, einmal in Berlin? Einmal früher, einmal später? Einmal der Film, wo ein wichtiges Gliedmaß abgeschnitten wird, das andere Mal der, wo Körperteile eines Kriegers abgeschnitten und im Kessel gekocht werden? Oder ist es ein- und derselbe Film? Und ist es ein Film, oder die fürchterliche Geschichte der Tötung von Schweißfuß, dem Begleiter Poseidons? Oder ist diese fürchterliche Poseidon-Tötung filmisch aufgenommen worden und wird jetzt im Kino gezeigt?
„Abspann. – …Gewiss war der Film … C-Picture. Doch der sonst so matte Kevin Costner gab den Poseidon widerspenstig abgründig“ (Thetis.Anderswelt S. 463).
Tatsache ist jedenfalls, Deters sitzt im Kino, denn er wird während der Vorstellung von Elena Jaspers angerufen (die Szene gibt es sogar zwei Mal, einmal aus Deters` und einmal aus Jaspers` Perspektive). Genauer gesagt ist es also eine „Tatsache“, dass Deters auf der Buneos Aires-Ebene, die Ebende der Jaspers, im Kino sitzt; in Wahrheit ja nicht, da sitzt er in der Berliner Kneipe, säuft, und deriliert sich das alles hier zusammen.
Tatsache ist auch, dass ganz am Anfang des Romans der Berliner Erzähler, als er Borkenbrods Gang durch Buenos Aires beschreibt, diese als Kamerafahrt sich ausmalt, als Gestaltung eines Filmdrehbuchs. Ist der ganze Thetis-Roman „nur“ ein Film? Ein Film, den Deters entwirft, dann umsetzt, dann anschaut?
Auch der Erzähler in „Nabokovs Katze“ beschreibt Teile der Erzählhandlung als gedankliche Kamerafahrt, als Drehbuch, aus welchem – im Roman – Filme gemacht werden, die der Erzähler sich – im Roman – als Kinogänger anschaut. Vielleicht lag diese Art des Romanbaus in den 90ern auch „in der Luft“?
Beste Grüße
NO
@Dr. No zum Kino. Ist es wichtig, ob es ein- und derselbe Film ist? Und wenn er’s nicht wäre, verschöbe sich die Valenz der erzählten Szenen tatsächlich so, daß die obere Ebene wichtiger („wahrer“) als die unter ist, bzw. umgekehrt?
Es ist heikel mit dem, was die Wahrheit sei, weil sinnliche Wahrheit. die etwas anderes als eine objektive ist, immer den Eindruck von Wahrheit vermittelt – weitaus mehr als das, was sich messen und dann letztlich nur nuch abstrakt, etwa in mathematischen Formeln, darstellen läßt. Übrigens die der Eindruck von Wahrheit eben auch das, womit sich die >>>> Ästhetik beschäftig. Alle Kunst stellt in erster Linie den Schein von Wahrheit her, metaphysisch gesprochen, aber, den Vorschein von Wahrheit.
Daß das Kino in den Neunzigern, meines Wissens auch schon vorher, zu einem Bezugspunkt der Dichtung wurde, liegt an der Macht, die es bis dahin gerade auch in seinen ästhetischen Ausformungen sich erformt hatte – weit mehr, als irgend ein literarischs Werk der damals, in den 80ern, zeitgenössischen literarischen Moderne. Ausnehmen möchte ich für dieses Urteil die südamerikanische Literatur, die aber unter völlig anderen Auspizien entstand, solchen, die sich nicht ohne weiteres auf die westliche Gegenwartsliteratur übertragen ließen noch lassen – wiewohl ich gerade in meiner Konzeption des Phantastischen von den Südamerikanern stark beeinflußt bin. Wir haben aber, leider, keine Tropen um uns her. (Ich mußte, als ich eben Ihre Überschrift las, ganz zuerst an Paradiso von Lezama Lima denken).
Nein, lieber ANH,
ich bin einfacher gestrickt, ich spielte tatsächlich nur ganz schlicht auf den Film von Giuseppe Tornatore an, der allerdings – insofern passt das sehr gut zu Ihrem Kommentar – in den späten 80-ern entstand, in denen das Kino, wie Sie schreiben, größere Vorbildfunktion in der Kunst hatte als die Literatur.
Meine Kenntnis der südamerikanischen Literatur beschränkt sich im Grunde leider auf Marquez. Die relative Nähe von dessen magischem Realismus zu Ihrem Werk geht mir aber jetzt erst auf.
Den Namen Lezama Lima kenne ich nur aus den Dschungeln, habe aber gerade eine Leser-Rezension von „Paradiso“ gelesen, die ohne weitere auch für „Thetis“ hätte verwendet werden können:
„Da beginnt ein Kapitel mit einer geradezu sachlichen Schilderung von Alltäglichkeiten und springt plötzlich und übergangslos zu Assoziationen aus der griechischen Mythologie über, und von dort zur chinesischen. Der Autor schweift scheinbar ständig ab, die Sprache verliert sich im Mystischen, wird poetisch, so daß es schwer fällt, überhaupt noch von einem Roman zu sprechen. Wo fängt der Roman an, wo endet das Gedicht, fragt Cortázar in diesem Zusammenhang.“
Und nein, in der Tat, für den Roman bzw. dessen „Handlung“ ist es gleichgültig, ob es ein und derselbe Film ist, oder zwei verschiedene, wohlmöglich auch noch in chronologischer Reihenfolge. Aber wenn ich es nicht einordnen kann, fällt mir das Verständnis naturgemäß schwerer. Für mich war allerdings viel spannender die Frage, ob die Schweißfuß-Tötung jetzt eigentlich überhaupt Romanhandlung ist, etwa weil der betrunkenen Deters sie in Erinnerung an einen Kinofilm jetzt gerade so erdichtet, oder ob Deters in der aktuellen Romanhandlung (und sei sie auch eine Erzählebene tiefer) wirklich im Kino sitzt und sich anhand der Filmhandlung einen eigenen Film über diese Tötung ausdenkt.
Es ist schillernd. „Flirrend“ wie sie sagen.
Wie schon gesagt: Deters geht ins Kino. Ob in Berlin oder in Frankfurt, weiß man nicht so genau, er kommt hier herein und dort heraus und „sieht“ („denkt“) beides.
Das ist wohlmöglich eine Frage der Übereinanderblendungen. Eine Frage der Parallelität von Wirklichkeit und Gedanken. Natürlich kann man real aus dem Frankfurter Kino kommen und sich dabei vorstellen, man käme aus dem Collosseum (sic!) in Berlin. Dann laufen einem parallel 2 Filme ab, der in den Augen – der sieht Frankfurt. Und der im Kopf – der sieht Berlin. Live-Gedanken und Erinnerungen umarmen einander.
Das ist schon alles nicht ganz unverwirrend. Andererseits: Niemand sagt, dass man diesen Roman bis ins Letzte verstehen muss. Es reicht ja vielleicht auch, sich an einzelnen Themen und Motiven zu erfreuen. Mir gefällt kaum ein Musikstück von Henze ganz, einzelne Parts dagegen schon. Auch Bildausschnitte kann man beeindrucken finden selbst dann, wenn das Gemälde insgesamt problematisch ist.
Beste Grüße
NO
Thetis ….. ….. ein kleines bisschen Erotik. Nur ein Hauch von Erotik.
Der Roman bestrickt schon im Raumschiff-Kapitel mit Cybersex. Ein Junge treibt es mit Projektionen. Obszön elegant! Eine Vorwegnahme dessen, was heute im Internet geschieht. Der Sex entkörpert, wie überhaupt im ganzen Roman das körperliche Miteinander nicht fasslich stattfindet, sondern die damit an sich zusammenhängende Erregung ausschließlich unter Zuhilfenahme einer Art von Gedankenhelm passiert. Schuld ist übrigens Ungefuggers Reinheitsfimmel. Diese Art von Erregung funktioniert im Romangeschehen, denn letztlich soll es dasselbe sein, ob die Synapsen durch „Sand zwischen den Füssen“ oder durch elektronische Impulse stimuliert werden.
Aber so gut das auch ist – das ist es nicht.
Denn es gibt die Verführungspassage zwischen Deters und der Jaspers. Hoch erotisch. Beide sitzen in einer Bar, es geht um Zeigen und Nicht-Berühren. Worte, Gedanken, Fantasie. Öffentlichkeit und Voyeurismus. Eindringlich geschrieben! Wunderbar! Lieber ANH, das ist meisterhaft, ich bin hier zum zweiten Mal von einer Passage in diesem Buch restlos begeistert. Die Sprache ist nass und erdig, alles angedeutet wie gehaucht, bildstark und anregend. Und am Ende – nichts!
Großes Kino! Kompliment!!
Beste Grüße
NO
Thetis ist ….. …..sememisch.
Deters hat ein Date mit Elena Jaspers. Er will sie in die Anderswelt locken. „Anderswelt?“, fragt sie. „Augenblicke sind Jahre, und was lang anmutet, ist in Wirklichkeit schnell vorbei… Die Chronologie ist nicht kausal, sondern sememisch.“ „Se-was?“, fragt sie. „Die Zeiten schließen aneinander, wo sie einander ausschließen müssten… Die reale Welt liegt wie in einer schiefen Ebene … Sie und die Anderswelt sind umeinander gefaltet, so dass man nach Belieben wechseln kann … Vielleicht lebt man in beiden Ebenen zugleich, kippend, gekippt, eine Frage der Perspektive.“
Das letzte Bild ist besonders faszinierend. Es gibt diese Bilderspiegeloberflächen: Blickt man leicht schräg von rechts auf die, sieht man einen Mann. Dreht man die Oberfläche ein wenig nach links, sieht man eine Frau. Je nach Blickwinkel also etwas anderes – und doch sind beide da, parallel und gleichzeitig. So ähnlich muss man sich wohl die Anderswelt vorstellen.
Beste Grüße
NO
Sememisch zu Dr. No. Wie faszinierend, daß Sie diese Betrachtung eben jetzt einstellen! Setze ich voraus, daß Sie sie vorher auch formulieren mußten, dann haben Sie das gleichzeitig mit meiner Überarbeitung der folgenden Argo-Stelle getan:
Für immer war Goltz seines Amtes enthoben, für immer sollte Stuttgart im Lichtdom erstahlen. Dieses zuerst und schon Buenos Aires ganz. Wer es angreifen wollte, griffe fortan hindurch. Wer abends promenieren ginge, sähe durch hallengroße Fenster aus dem neuen Paradies in die verrottende Welt.
Argo, TS 652. Argo, Anderswelt. (283).
Argo 282 (Aus der Zukunft) <<<<
Ja, wohlmöglich tastaturen wir beide gar nicht in Berlin, sondern in Buenos Aires.
Ich sehe übrigens, das Paradies wird Fenster haben. Dann wird es wohl nichts mit Levkos für die Romanfiguren. Ich las vor Kurzem eine schöne Thetis-Stelle, wo irgend jemand sich fragte, ob es wohl eine Insel ist, das Paradies, oder eine Stelle im Herzen (oder so ähnlich).
Paradiese@Dr. No. Ich möchte nichts vorherverraten, doch dieses Paradies, von dem in der zitierten Argo-Stelle gesprochen wird, ist eines, das Ungefugger herzustellen dabei ist. Wenn Sie jetzt noch >>>> an den historischen Lichtdom denken, würden auch Sie zum Myrmidonen werden, wäre nicht auch diese Alternative ziemlich problematisch.
Ich hatte exakt an diesen Lichtdom gedacht. Oder etwas weiter ausgeholt: Die Passage, die Sie da gerade bearbeitet haben, gefällt mir gut, sie ist schön (und schön kurz), die Schönheit aber gleichzeitig zwiespältig, ruft zwiespältige Gefühle hervor, wie ein gutes Bild. Das Paradies wirkt irgendwie angestrahlt – wegen der Assoziation mit den Wehrmachtsscheinwerfern. Ein ausgeleuchtetes Paradies ist kein gutes: verstrahlt – künstlich – und insofern unhübsch. Deswegen hätte man ahnen können, dass es nur ein Ungefugger-Paradies ist.
Übrigens – sind Sie morgen bei der Podiumsduskussion Deters/Delf?
lacht auf@Dr.No. Klar. Nur, als wer ich im Publikum und als wer ich auf dem Podium sitzen werde, darüber wird bei den Fiktionären grad noch diskutiert. Delf Schmidt aber, das ist sicher, wird als er selbst da sitzen – sozusagen der Vergil, der uns, also auch den Autor, durch die Tiefen hinauf auf den Läuterungsberg führt, ohne daß wir, aber, das Paradies erreichen werden. Indessen sehen wir’s vielleicht.
Die Erniedrigung einer hohen Reizschwelle Zäh und leer vergingen Wochen und Monate. Gedrückt durch eine literarische Lethargie, durch die Monotonie der täglichen Realitäten in der nichts erhöht war als die Reizschwelle. Darunter erschien abgestumpft öde, was zu lesen vor die Augen kam.
Gestern mit Thetis.Anderswelt begonnen und eingetaucht in neue Welten. Jetzt sehe ich die Lethargie mir gegenüber in der S-Bahn sitzen, wenn ich einmal aufschaue, und bin froh sie dort zu sehen und nicht mehr in meinem Spiegelbild in den Scheiben.
Thetis hat mich herausgerissen und zugleich hineingeworfen. Vielen Dank dafür und ich denke dabei immer wieder an André Heller:
„Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid und dreht sich stumm und dreht sich stumm nach ander’n Wirkklichkeiten um.“ Oder eben:“Die wahren Abenteuer sind im Kopf und sind sie nicht in Deinem Kopf, dann suche sie.“
@Junge. Danke. Dann hat >>>> die Lesung sehr viel gebracht.
Thetis ist ….. …..Widerstand.
Widerstand und Revolution – diese sind sicher Themen dieses Buches. Schließich sind ja Amazonen und Holomorfe im Krieg hier gegen die Zentralmacht, den Westen, Europa, gegen die Menschen, die Männer. Und letztlich kann man ja auch die „Große Geologische Revision“ als Aufstand des Planeten Erde gegen seine Verschmutzung, Vergiftung, Verkrüppelung lesen.
„Die Erde will ein freies Geleit ins All
jeden Tag aus der Nacht haben,
daß noch tausend und ein Morgen wird
von der alten Schönheit jungen Gnaden.“ (I.B.)
Hat die Erde aber nicht gekriegt – und nun schlägt sie zurück.
Dieses Widerstandsmotiv auch im Kleinen: Es gibt diesen unterschwelligen Bezug auf die RAF durch die Erwähnung von Raspe im Roman. Und es gibt die Erotikszene Deters/Jaspers, in welche eingewebt ist die kubanische Revolution:
Deters verkommt das Bier zu einem Mojito – und wieder zurück (und vom Bier wieder zum Mojito). Das alles geschieht in der Bodeguita del Medio. Deren Ableger – Spiegelung – mag auch in der Lychener Straße ansässig sein, vor allem aber in Havanna, dort steht das Original, dort trinkt man Mojitos (ich selbstverständlich auch). Mojito-Rum-Bodega-Havanna, diese sind die Stichworte, denn irgendwo im Buch hängt bei jemandem ein Che-Guevara-Poster an der Wand. Und wer stünde nicht für Aufstand und Revolution, wenn nicht El Commandante?
Freilich sehe ich noch nicht, dass Deters und/oder Jaspers in den Widerstand gehen hier in Thetis“. Wohlmöglich, so beschleicht mich immerhin ein leiser Verdacht, geht es aber gar nicht um Deters, sondern um Herbst. Denn Widerstand – dieses Thema ist auch bei Ihnen in die Wolle gefärbt, lieber ANH? Ich darf aus einem vor kurzem entstandenen Arbeitsjournal zitieren?
„Ich schlucke nicht, was mir nicht schmeckt. Nie. Auch nicht um eines Vorteiles willen, den man oder ich selbst mir verspreche. Lieber verzichte ich. Nein, ich bin kein Diplomat. Wenn ich es wäre, hätte ich den falschen Beruf.“
Beste Grüße
NO
@Dr. No zum Widerstand in der Anderswelt. Ja, mein Herz und mein Kopf, ihrer beider Vereinigung, nämlich meine Leidenschaft, ist und war immer Widerstand. Aber ich habe schon früh die Dynamik begriffen, derzufolge, wenn ein Widerstand so gelingt, daß er die neuen Mächtigen stellt, es stets zu neuen Unrechten kommt, oft auch bereits, und fast notwendigerweise, in den Widerstandsbewegungen selbst: es lösen sich Macht und Widerstand und Macht aus dem Widerstand und wieder dagegen Widerstand ad infinitum ab. In meinen zwei Jahrhunderthälften, von denen die zweite seit zehn Jahren den Countdown zählt, war das immer wieder zu beobachten, und die geschichtlichen Ereignisse bestätigen es, und zwar um so mehr, als es sich bei Widerstandsbewegungen um Gruppen handelt. Meine Sympathie ist dennoch stets bei den Rebellen, auch schließlich denen, die gegen ein einst menschlich denkendes, schließlich genau so unmenschlich handelndes Regime anstehen, wie das, gegen das seine Repräsentanten einst in den Kampf gingen. In militärisch oder paramilitärisch organisierten Widerständen ist diese Folge tatsächlich, glaube ich, eine logisch notwendige Folge. Irgendwo habe ich mal geschrieben, Guerilleros dürften auf keinen Fall an die Macht kommen, sondern müßten im Kampf sterben, andernfalls würden sie Diktatoren. Auf keinen Fall dürfen sie Regierungsteilhabe bekommen. Im Idealfall ziehen sie sich nach erfolgreichem Kampf zurück, und wirkliche Pazifisten – etwas, das kein Widerständler sein kann (auch für Gandhi gilt das, in dessen Widerstand nicht weniger seiner Menschen umkamen, als wenn er bewaffnet gewesen wäre) – übernehmen die Ämter. Man gebe den Revolutionären dann ein angenehmes Abendbrot. Das wäre die einzige Chance. Denken Sie einmal an das, wogegen Chomeini einst völlig zu recht in den Kampf zog, und wie schnell, als er gewonnen, der Blutbrunnen stand. All dies ist in Thetis eingeflossen.
Mit diesem Wissen, meinem, im Gepäck versucht Hans Deters eigentlich, nichts als ein Flaneur zu sein, in stets guter Distanz zu den Ereignissen. Daß ihm das schließlich nicht gelingt, und auf welche Weise nicht, werden Sie in Buenos Aires lesen; es gelingt ihm ja eigentlich nie, schon, weil für den Roman er die Projektionsfläche ist. Elena Jaspers wiederum wird auf eine ganz andere Weise in die Geschehen hineingezogen; darüber möchte ich aber nichts verraten.
Die Bodequita del Medio gab es tatsächlich einmal in der Lychener. Lange her. Es gibt jetzt aber auch das Silberstein nicht mehr. So gesehen, habe ich schon mit Thetis einen historischen Roman geschrieben. Aber selbstverständlich ist Kuba mitgemeint. Das Bildnis Che Guevaras hängt in der Komamndozentrale der Tranteau im Boudoir, von wo aus es übrigens eine Tür gibt, die in >>>> meine New-York-Erzählung führt („Jetzt war ich aber wirklich im falschen Roman“, schließt der kleine Ausflug dort), im Wechsel überblendet von den Bildnissen anderer Führer anderer Revolutionen. In Argo wird schließlich Yessie Macchi zu den Argonauten stoßen: die fahren hinaus, auch symbolisch, um die tragischen Zusammenhänge für immer zu verlassen.
Was nun „mich selbst“ anbelangt: Ich durchdenke in meinen Büchern, was getan werden könnte, damit man den Mustern entgeht und spiele dafür so viele Möglichkeiten durch wie möglich. Dabei versuche ich, gegenüber jeder einzelne, jedem einzelnen, die in meinen Erzählungen erscheinen, gerecht zu sein, d.h. möglichst empathisch und menschlich zu sein. Das ist das vielleicht wirklich Utopische an meinem Büchern. Je genauer ich hinschaue, desto deutlicher wird mir, daß es so etwas wie eigene Freiheit nicht gibt. Das gilt für die Verbrecher wie für die Wohltäter. Das einzige, was wir erreichen können, ist, uns der Zusammenhänge bewußt zu werden und diesem Bewußtsein nach stolz zu handeln. Dann können wir die Hoffnung, aber wirklich nur die Hoffnung haben, daß eben diese stolze Haltung auch unser Handeln verändert. Ob wir es aber zulassen, daß uns die Zusammenhänge klarwerden, hängt wiederum von unseren Vorgaben ab, die wir selbst so wenig zu vertreten haben wie eine Erbkrankheit.
Ihr
ANH
Thetis ist ….. ….. ein Moloch.
Weitere 100 Seiten gelesen. Jetzt auf S. 602. Alles, was mir haften geblieben ist, wie folgt:
– Ingoldstadt, der Hort des Widerstandes der Holomorfen, wird von Goltz` Sicherheitstruppen überfallen;
– Deters wird gefangen und verhört, in dem man die Erinnerungen und Gedanken aus seinem Gehirn wie ein Computerspiel auf den Bildschirm bringt, ausleuchtet, abspielt und aufzeichnet;
– Die Holomorfen haben das Internet geentert, sie können sich von ihrer funktionellen Basis, von ihren Datei lösen und beherrschen das Netz, die Einzelheiten sind mir zu kompliziert, entscheidend scheint mir zu sein: Die können da rein gehen und Menschen eben nicht;
– Odysseus bringt den Amazonen Wasser, übernimmt da quasi die Führung (nur anfangs gegen den Widerstand der Mongolin, die Mandschu) und will mit dem göttlichen Kind sprechen, das dort anscheinend gefangen gehalten wird (was mich verwirrt, denn die war doch mit Borkenbrod versteckt, dann irgendwie geflohen, dann von Ungefugger irgendwie in einen Käfig gesperrt?);
– Der (holomorfe) Herr Hausmann fährt Opel Kadett.
Nun denn.
Beste Grüße
NO
@Dr. No zu Niam. Als es zu Odysseus‘ später legendärem Wasserhandel kommt, ist das Kind noch nicht im Westen; es wird von der Mandschu auch nicht gefangengehalten, sondern lebt in der Seligenthaler Abtei, betreut von Deidameia. Hinüber kommt es erst mit Odysseus und den 49 Frauen plus Borkenbrod-als-Frau.
Sie wird im Westen auch nicht von Ungefugger gefangengehalten werden, sondern von Jensen in Ornans. Wie das ausgeht, werden Sie lesen. Hier laufen unter den Erzählungen Pakte und Verabredungen, die immer angedeutet sind oder nacherzählt werden. (Odysseus hat Jensen dieses Kind in den Kopf gesetzt – auf diese Weise gelangt es aber tatsächlich in den Westen; weshalb Odysseus das tun könnte, wird ebenfalls erzählt. Daß Niam dahinmuß, entspricht der angeblichen Prophezeiung; deshalb kann sich die Mandschu letztlich sowieso nicht Odysseus‘ Anliegen widersetzen.)
Lieber Herr Herbst,
das hilft natürlich, vielen Dank!
Es bleibt aber ein Aspekt für mich, dass einem manchmal die Kraft ausgeht, genaue Zuordnungen vorzunehmen und Zusammenhänge zu entdecken oder wiederzufinden. Das ist mir bei „Krieg und Frieden“ einfacher gefallen. Dafür gibt es Gründe, natürlich, und über diese haben wir uns schon ausgetauscht (1.000 Seiten, eine Fülle von Figuren, technisch schwerer verständliche Zukunft, Postmoderne [Romangeschehen selber konstruieren! Echte Figuren im Roman und Romanfiguren in der „Wirklichkeit“], Figuren und Geschehenisse aus der Mythologie, 3 – 5 Handlungsstränge mit wechselndem Personal, kein Zulaufen auf ein Ende [weil der Roman eine Trilogie ist und weiter geht], Ihre verwirrende Möglichkeiten-Poetologie, Ihr verwirrender kybernetischer Realismus und so weiter). Da trägt es natürlich zur Erschöpfung bei, wenn dann auch noch Pakte und Verabredungen unter der Oberfläch mitlaufen und oft erst hinterher und allemal nur angedeutet erzählt werden.
Haben Sie vielleicht schon einmal die Möglichkeit an gedacht, dass Leser (und damit Käufer und Juroren sowie Kritiker) schlicht überfordert werden könnten?
Beste Grüße
NO
@Dr. No. Das Risiko muß ich eingehen. Mit van Gogh waren die seinerzeitigen Betrachter ebenfalls überfordert, oder denken Sie an den Kubismus. Dazu kommt, und erschwerend: wir sind mit unserer eigenen Technologie überfordert, überblicken auch da die wenigsten Zusammenhänge. Nicht anders in der Politik.
Was ich versuche, ist, dem einen Ausdruck zu geben, der auf der Höhe unserer Zeit ist, ihm eine Poetik zuschaffen, die nicht vermittels beruhigender Vereinfachungen daherkommt. Die uns also selbst in die gleiche Höhe bringt: in bewußte Zeitgenossenschaft. Dabei geht es dann auch um Sprache, um Ausdruck der einzelnen Szenen, um, wieder einmal, Intensität und Gegenwärtigkeit. Dazu kommt, daß eine gewisse Rätselhaftigkeit, sagen wir: etwas Undurchschaubares, das an den Personen des Romanes haftet, zu ihrer späteren Präsenz beitragen wird. Es ist nicht, daß sich etwas restlos erklären läßt, was Wirkung ausmacht.
Ganz nebenbei bin ich mir völlig sicher, daß jemand, der Thetis ganz gelesen hat, vielleicht sogar noch zu Buenos Aires greift, diese Bücher niemals wieder vergessen wird – und ebenfalls bin ich mir sicher, daß einzelne Szenen und auch Personen in den Lesern für allezeit drinbleiben werden, wenn auch vielleicht nicht der gesamte Zusammenhang. Das, übrigens, entspricht unseren eigenen Leben.
Und wollen Sie wirklich sagen, Thetis sei schwieriger als Finnegan’s Wake oder Zettels Traum? Das denke ich nun wirklich nicht. Es hat übrigens Leser gegeben, die das Buch geradezu schlicht als Science-Fiction-Plot gelesen haben; einige derer haben dann, was wieder witzig ist, geschrieben: Es sei halt die Sprache gewöhnungsbedürftig, der Plot aber klasse. – So verschieden schauen die Menschen.
Was die Möglichkeiten-Poetologie anbelangt, so ist sie doch imgrunde einfach: Es gibt mehrere Möglichkeiten, in der eine Geschichte sich fortsetzt. Thetis entscheidet sich nciht für eine, sondern oft für zwei oder drei – auch wenn sie einander ausschließen. Man muß sich nur je auf sie einlassen. Dann liegen alle brav nebeneinander, und jede hat ihr Recht. Das ist, ich weiß, eine utopische Idee: daß es nämlich Freiheit g e b e. Entscheidet man sich nur für eine – die sozusagen notwendige – Möglichkeit, bleibt alles im alten Determinismus.
Wir sind überfordert und überblicken nicht. – Wahr! Und sehr, sehr richtig, dass und wie dies in Thetis so abgebildet wird. Als eine beunruhigende Verkomplizierung. Des Lebens, von allem. Das scheint mir auch außerordentlich gut gelungen.
Ich wollte keine Kritik üben an dem Kunstwert Ihres Werkes an sich. Das stünde mir nicht zu und dafür verstehe ich davon zu wenig – abgesehen davon, dass ich für mich an der Qualität keine Zweifel habe (was ja etwas anderes ist, als der Umstand, dass ich den Wolpertinger lieber mag).
Aber ich hätte sagen können, dass sich Schmidt nach meinem Geschmack die Hälfte der Etym-Ausführungen hätte sparen können, ohne dass es der Größe des Buches Abbruch getan hätte. Und dann wären es nicht mehr 1.600 Seiten gewesen, sondern (mit einigen zusätzlichen Kürzungen hier und da) vielleicht nur noch 1.200 Seiten. Das hätte meines Erachtens die Lesbarkeit deutlich erhöht – ohne Qualitätsabstrich.
Natürlich steht nicht fest, dass erhöhte Lesbarkeit auch die Verkaufbarkeit fördert. Aber auch wenn man keine Chance hat, könnte man überlegen, ob man jedenfalls theoretisch erwägen sollte, diese ggf. zu nutzen. Ich weiß es zwar nicht, aber ich nehme nicht an, dass Joyce zu Lebzeiten ein Verkaufsschlager war. Wenn Sie also in diese Gesellschaft zielen, schreiben Sie dann nicht vorsätzlich für Universitätsseminare und Literaturwissenschaftler?
Und zwar allein wegen der Überqualität und der Länge? Wissen Sie, früher war es so, einer meiner damaligen Partner sagte einmal, „Gott sei Dank, es ist Freitag, die Woche hat nur noch 2 Arbeitstage“ und „Wir müssen nicht immer 150 % Performance ablifern, 120 % reichen auch“, oder Goldman Sachs schickt um 22.00 Uhr eine Email und erwartete sofortige und umfassende Bearbeitung. Selbst wenn ich einmal „den Literaturbetrieb“ mit seinen Kritikern und Juroren beiseitelasse: Wir Leser, ab einer gewissen Grenze ist es „für uns“ kaum noch unterscheidbar, ob da einer wirres Zeugs schreibt, oder ob es sich doch um ernsthaft lesbare und lesenswerte Literatur handelt. Man hat dann vermutlich kaum eine andere Wahl, als zu vertrauen und die Unverständlichkeiten achselzuckend zu übergehen, um sich an Kommendem zu erfreuen – wenn man dann dabeibleibt. – Die Thetis-„Möglichkeiten“ liegen eben n i c h t BRAV nebeneinander. Sondern unbrav, man muss sie suchen, deuten.
Gute Literatur unterscheidet sich von schlechter unter anderem dadurch, dass sie nachwirkt. Da bin ich völlig Ihrer Meinung und ich werde das Raumschiff-Kapitel und die „Große Geologische Revision“ in meinem Leben nicht mehr vergessen. Und Deters wird immer in meiner Seele bleiben als einer, bei dem ich erst nachdenken muss, wo der sich gerade befindet, wenn er spricht und tut.
Also, ich jedenfalls freue mich, dass Sie „das Risiko eingehen“. Ich komme schon über meine Probleme hinweg.
Bei Melusine drüben lese ich gerade, dass ihr Freund BenHuRum dünne Bücher überhaupt nicht interessant fände. Das gälte dann für mich ähnlich.
Beste Grüße
NO
@Dr.No zur Überforderung. Wir sind überfordert und überblicken nicht.Dies wird sich nicht mehr ändern, sondern wird eher noch komplizierter werden. Ich mag aber nicht meine Leser:innen statt den Kopf in den Sand in ein Buch stecken lassen. Sondern versuche, einen Ausdruck zu finden, der die Situation poetisiert und auch, bisweilen, in Szenen, schön macht. Damit wir selbst die Unübersichtlichkeiten, wo sie‘s ergeben, genießen können. Nicht anders ist es doch mit den Schrecken auf dem Theater (im Kino), die uns solche Schauer machen.
Das ist die Bewegung. Ich habe sie unternommen, das Werkstück eingespannt, gegeben bislang, was ich konnte. Mag sein, das ist nicht genug. Ich glaube aber zugleich, daß er derzeit niemanden gibt, der, wofern mit einem Fuß noch so in der früheren Buchwelt wie ich, weiter als ich gegangen wäre. Ob ich darüber hinauskann oder nicht andere kommen werden, die es von mir übernehmen und zu einer, vielleicht, verständlichen Vollendung führen, weiß ich nicht zu sagen. Ich habe die Tendenz zu meinen; nein, darüber hinaus werde ich‘s nicht schaffen. Mein Blick, momentan, geht zurück. Für mich >>>> sind die Argonauten schon ausgefahren, und auch, wenn ein Herbst bei ihnen ist, bin nicht ich das; er, da, bleibt überdies allein, anders als die, die in Paaren stehen.
Ja, man könnte es einfache machen; auch Schmidt hätte es einfacher machen können, ebenso Joyce. Nur: Was treibt uns? Und wer ist das denn schon, ein Verkaufsschlager? Ist das erstrebenswert, es zu sein. Für unsere Wohlfahrt, persönlich, ganz sicher. Da gäb‘s aber andre Berufe, die das Erwünschte schneller bringen. In einem von denen bin ich gewesen. Es ist nicht schwierig, reich zu werden, wenn man, sofern man intelligent ist, das als Ziel hat. Der Umweg übers Bücherschreiben ist eben das: ein Umweg – und es steckt, rein kalkulatorisch, viel zu viel Zufall darin, ein Netz von Beziehungen und Gönnerschaften oder mehr als nur das Gefühl für ein „richtiges“ Thema, was dann eines wäre, das die Bedürfnisse erfaßt und erfüllt.
Ob die 400 Seiten Kürzung, noch einmal anders argumentiert, die Qualität nicht gemildert hätten, steht ausgesprochen dahin: denn in diesen 400 Seiten könnte das prima movens auch der anderen 1200 gelegen und verborgen sein: das weiß oft nicht mal der Künstler.
Für wen ich schreibe, ist mir egal. Ich schreibe, was ich muß, weil ich es für poetisch notwendig halte. Ich habe keine Mission und überlege mir nicht, wer etwas davon haben könnte oder gar sollte. Wäre dem anders, jeder Text wäre bereits von mir zensiert – also zugespitzt und weggeschnitzt, was Leser irritieren könnte. Dazu ist auch dieses wichtig, sehr wichtig sogar:yWir Leser, ab einer gewissen Grenze ist es „für uns“ kaum noch unterscheidbar, ob da einer wirres Zeugs schreibt, oder ob es sich doch um ernsthaft lesbare und lesenswerte Literatur handelt. Und Sie schreiben selbst, dann müsse man vertrauen.
Das ist wahr. Aber es gibt Anhaltspunkte, die ein solches Vertrauen rechtfertigen. Von mir, lieber Dr. No, kennen Sie nun einiges, ja vieles, und vieles hat Ihnen gefallen – mehr noch, bei manchem haben Sie gestaunt, waren erschüttert oder begeistert. Ist das, um das Vertrauen zu geben, nicht genug? Sie wissen, wie ich arbeite, und können, glaube ich, unterdessen voraussetzen, daß ich die Fäden verknüpfe, so daß Sie sich, eben im Vertrauen darauf, aufs Wellenreiten einlassen können, das gerade die Anderswelt-Welt ist. Das Surfbrett wird nicht brechen.
Ihr
ANH, der jetzt zu der Lesung sich, radelnd, hinfortschwingt. Möge der Regen mich schonen!
Thetis ist ….. …..ein Spiel um Religion und Glaube.
Herr Deters und Frau Jaspers gehen essen. Sie bestellt Schläfe: „Hirschschläfen an rund geschälten Birnenkugeln.“ Dann nimmt die Jaspers den Deters mit auf eine Veranstaltung zur Auszeichnung der besten Verkäufer von Ungefuggers Unternehmen EWG.
Dieses Kapitel hat es in sich, zählt zu den besten des ganzen Buches bisher.
Es führt die obszöne Einpeitschung von Mitarbeitern eines Strukturvertriebs durch die angehimmelten Strukturvertriebschefs vor – und deren Belohnungssystem (man denke ruhig an die Bordellparty besonders erfolgreicher Versicherungsvertreter eines großen Konzerns vor einigen Jahren in einer Therme in Budapest).
Es führt vor die gottgleiche Verehrung, welche den berüchtigten Gründern solcher Systeme von den ferngesteuerten, ent-geisterten Jüngern entgegengebracht werden (man denke ruhig an „Bag-Wahn“ und an Scientology).
Diese Szene der Vertrieblerbelobigung ist eine Spiegelung der Maschinengottszene vorne im Raumschiffkapitel:
„Der Rechner liebt Dich, der Rechner will Dich, deswegen willst Du ihm folgen. Du sollst seine Liebe nicht zurückweisen dürfen“ — „ Lieber Rechner im Himmel …(Thetis.Anderswelt S. 191);
gegen:
„Ich will meinem Kunden dienen und will ihm treu sein, wie auch meiner Firma … Dies aber ist mein zweites Gebot: Du sollst Deine Firma nicht betrügen! Und sollst nicht übel Zeugnis reden wider sie!“ (Thetis.Anderswelt S. 627 f)
Chefverkäuferin Jaspers ist höhepunktsmäßig hin und weg, Deters ist abgetörnt und geht weg.
Was sonst noch passiert:
Auf einer Toilette trifft Deters sich selber, hineingehend stößt er mit dem herauskommenden Deters zusammen.
Deters trifft Borkenbrod als lispelnde Tunte in einem bordellähnlichen Club, in dem verbeamtete Bürger mit den Zähnen einen toten Pudel zerrreißen und sich eine Schwangere selbst befriedigt.
Borkenbrod führt zusammen mit Odysseus Holomorfe und Amazonen gegen Landshut, das moderne Troja.
Borkenbrod weiß angeblich etwas von Levkas, dem Paradies: „Es soll eine Insel auf dem Thetismeer sein. Aber vielleicht …vielleicht ist es eine Insel in uns – schreib alles auf, was Du weißt! … was Du Dir wünschst, was Du erträumst … wovor Du Dich fürchtest …“ (Befehl von der Mongolin).
Zum Aufschreiben bekommt Borkenbrod von der Mongolin, der Amazonen-Chefin, der Mandschu, der Frau Lykomedite Zollstein Spraydosen geschenkt. Aufschreiben heißt: An die Wände sprayen. Die ganzen berlintypischen Graffitis, die hier in Deters Berlin (abe auch in meinem eigenen Jetzt-Berlin) – und eben auch in Buenos Aires – an die Wände gesprüht werden schon den ganzen Roman lang, die sind hier von Borkenbrod! Hätte man wissen können: Ganz am Romananfang in der Exposition (ich habe zurück geblättert) heißt es gleich auf der zweiten Seite: „Achilles Borkenbrod, immer eine Sprühdose bei sich, verlässt seinen Unterschlupf …“
Borkenbrod ist halb Reptil, halb Gott, „also ein Mensch“. Und ist aus einem Ei geschlüpft, deswegen trägt er den ganzen Roman schon mit sich, als Glücksbringer, ein Stück Eierschale, aussehend wie eine Muschel, hart wie Perlmutt, und ein Messer, mit dem er sich seiner Zeit aus dem Ei gekämpft hatte.
Erstaunlich, wie der Roman mit dieser Wendung an mein oben zitiertes „Ei“-Gedicht von Günter Grass heranrauscht.
Beste Grüße
NO
WUMMMMS!, @Dr.No. Dachte ich eben. WUMMMMS – und : erfaßt!
Monotheismus, Zentralismus, Akkumulation des Kapitals, Faschismus: Das ist e i n Zusammenhang, und er ist nicht abgebrochen, sondern erhalten – zumindest latent. Das Erschreckende daran ist, daß es so auch gewollt ist. Von den meisten jedenfalls, auch solchen, die darunter leiden. Deswegen funktionieren autoritäre Systeme, zu denen auch auktoriale Erzählsysteme gehören.
Die große Szene dieses Einschwörungstreffens habe ich übrigens erlebt; mein Lektor wollte sie ursprünglich streichen, weil er sie nicht glaubhaft fand. Ich mußte sie verteidigen, was ihr schließlich – poetologisch und handwerklich – sehr gut getan hat. Deshalb arbeite ich lieber mit Lektoren, die nicht sowieso meiner Meinung sind. (Aus gleichem Grund lehnte Ernst Bloch, übrigens, damals eine Berufung an die Bremer Uni ab, und wieder aus gleichem Grund hat mein Stiefvater, ein höchst konservativer Völkerrechtler – ehemals Studentenführer in Genf, von den Alliierten bestallter Anwalt bei den Nürnberger Prozessen, später ein reiner Hochwirtschaftsanwalt, der am liebsten lateinische Bücher, auf Latein nämlich, las – als Tageszeitungen mit Vorliebe linke gelesen: „Da w e i ß ich wenigstens, wo man mich belügt“, soll er meiner Mutter das erklärt haben.
Doch zu Borkenbrods Ei. Denken Sie noch einmal an die große beschwörende Szene, in der Eris dem damals noch jungen alten Präsidenten, als der Präsident noch nicht war, von Peleus‘ Überfahrt erzählt, S. 354-356. Dann wird ihnen der hier durchlaufende mythische Strang absolut klar werden. Aus dem resultieren auch, fast notwendigerweise, einige der Zeitverschleifungen, die Ihnen offenbar Mühe machten. Im Wolpertinger wird das einmal diskutiert: daß im Mythos die Genealogien springen: was der Vater nicht vollenden konnte, ist dem Sohn aufgetragen; vollendet er‘s, dann ist das dem ganz genau gleich, als hätte der Vater es selbst getan. So funktioniert auch, bis heute, die Vendetta. Wenn einer jemanden „Mutter“ nennt, kann er auch seine Ur- und Ururgroßmutter meinen. Die strikte, sezierende Scheidung gehört ins westliche Denken; fast ganz Asien kennt sie nicht, auch Afrika oft nicht. Und: Ins westliche Denken – nicht aber unbedingt genau so ins kollektive Unbewußte, mit dem der Mythos umgeht. – Dies waren ein paar Überlegungen, die mich geleitet haben. Von hier aus auch die Überleitung, die Verbindung, zu und mit Bhagvan und Scientology, übrigens auch zu >>>> Jim Jones, was alles direkt in eine Logik der genannten Mitarbeiterversammlung hineinführt, die einen religiösen, zumindest sektischen Kongreßcharakter hat -. deshalb funktioniert das ja auch so, tatsächlich, immer noch, und mitten unter uns. Mit einem sehr viel banaleren Niveau, oder auf kaum höherem, finden sogar die großen Parteitage unserer bürgerlichen Parteien statt. Zwei davon habe ich ebenfalls erlebt und bin jedesmal angewidert gegangen. Der eine war von der SPD, der andere von der CDU. Man muß nur auf die Musik hören, na ja, „Musik“, die dort zur Unterhaltung gespielt wird.
In einem gehen Sie irr: Es ist nicht Borkenbrod, den Deters im Boudoir als Kellner trifft, sondern der Transvistit heißt Manfred Begin. Es wird später noch auf ihn eingegangen, wohl aber erst in Buenos Aires und dann wieder in Argo, und jeweils nur kurz. Borkenbrod aber bleibt immer Borkenbrod – nur daß er zugleich auch Achill ist, spaltet ihn, aber eben kein zornender, wirklich kein Krieger, sondern ein Träumer, der imgrunde sein Ende vorhersehnt – Leuke. Und, um Ihnen einen Tip zu geben: Er kann da nicht alleine hin. Wenn dieser Mythos sich erfüllen soll, braucht er noch eine andere bestimmte Person an seiner Seite. Ganz am Ende von Buenos Aires wird dieser Vereinigung erzählt, und in Argo weit vorne kommt es zu ihrem Abschluß.
So ganz nebenbei: Wer Thetis wirklich las, wird sich wahrscheinlich über keinen Griffito mehr erregen, sondern eine andere Lesart haben, eine verträumte vielleicht, wenigstens eine lächelnde. Ein jeder Graffito ist – Palimpsest.
Thetis ist ….. …..auch Gewöhnung.
Ganz souverän lese ich eine Szene über mindestens 3 Ebenen:
Deters ist mit einer Prostituierten, Mata Hari, bürgerlich Ellie Greinert, beinahe verheiratete Hertzfeld, auf dem Zimmer. Es wird aber nur geredet. Über ihr Kind unter anderem, Vater ist Achilles Hertzfeld, genannt Chill (wie Borkenbrod, der ist es aber wohl nicht!?). Deters bezahlt natürlich. Sie reden, sie mit breiten Berliner Slang. Es geht um Goltz, der ist unten im Lokal, Deters will, dass sie ihn anzeigt, sie will nicht: „Zwei Schritte zu`n Bulln, und se killn mich“. „Und das Kind?“ – geht es weiter, gefolgt von: „Daidameia sah auf ihre Fingernägel. Ich werde es zu Freunden geben.“
Anderswelt. Der Spiegel ist gekippt. Mitten im Absatz. Deters unterhält sich nämlich gleichzeitig mit einer Deidameia in deren Separee, auch über deren Kind und über Goltz, aber auf einer ganz anderen, einer mythischen Ebene. Und die Dame fragt Deters, was denn auf der Diskette sei. Ja, sagt Deters zu sich im Samhain, schaut auf die Diskette, ist in der Kneipe, allein, und sagt zu sich, was ist denn drauf auf dir? Und dann geht es zurück zu Ellie und Deters spricht (versehentlich?) zu ihr wie zu Deidameia: „Man zahlt in Buenos Aires nicht mehr mit Geld.“ – „Wat is?“ kreischt die. Brüllend komisch!!!
Ellies Kind übrigens, ihr Sohn, heißt Jason. Jah-sohn. Nicht „Dscheeissen“ wie Jason King damals in „Department S“. Jason, wie der aus der griechischen Argonautensage. Dieser Hertzfeld-Sohn wird also im Fortgang mit Gefährten zu einem Ziel segeln, ist zu vermuten, weswegen der 3. Band der Anderswelt-Triologie vermutlich auch „Argo“ heißt.
Beste Grüße
NO
Lächelnd@Dr.No. Doch, das ist er: Deidameias und Borkenbrods Sohn – auf der einen Ebene (der der mythischen Erzählung):
Thetis, S.302.
Noch als Tip zu später „Argo“ und Jason. Auf Thetis S.859 steht:
Was die Souveränität anbelangt: ja, ich bin überzeugt, daß sich eine Haltung zu Literaturen ebenso entwickelt wie zu Neuer Musik oder Zeitgenössischer Kunst; wir alle lernen sie, und wie sonst, als durch Erfahrung? Vielleicht werden Sie irgendwann mal sauer auf mich sein, weil ich Sie für plane Erzählungen ein bißchen verdorben habe. Aber das ist, verzeihen Sie bitte, ein anmaßender Gedanke. Er gefällt mir, aber steht mir nicht zu gegenüber dem, was es da eben auch gibt.
Thetis ist ….. ….. in Dallas.
Es gibt den Eintageskrieg (diese Bezeichnung ist, fürchte ich, eine negative Anspielung auf den von Israel gewonnenen 6-Tage-Krieg 1967). Hier in Buenos Aires jedoch greift Geheimdienstchef Goltz mit Hilfe der an Ungefugger privatisierten Armee holomorphe und frauliche Rebellen an. Die Führer der Aufständischen, Achill, also Achilles Borkenbrod, und Odysseus, machen ihre Sache gut, ihre Truppen werden aber abgeschlachtet.
Für Ungefugger ein Triumpf. Ungefugger überlegen. Ungefugger hatte den Präsidenten des Westens in die Tasche gesteckt und war selber, durch entsprechende Medienhilfe, zum Chef gewählt. Er ist zwar leicht irritiert, weil sein oberster Sicherheitschef Jensen während des Eintageskriegs verschwunden scheint (und deswegen mit dem Aufstand in Verbindung gebracht wird), aber zur Feier des Tages macht er einen Triumpfzug durch die Stadt, in der offenen Limosine mit Elena Jaspers-Goltz an seiner Seite. Die schöne Helena, die hat aber ein falsches, weil weißes, nicht rosafarbenes, Kostüm an. Präsident und Quasi-Gattin fahren an einem Schulbuchdepots-Gebäude vorbei und das Geschehen dann dort berühren berühmte Ereignisse und berüchtigte, damit in Zusammenhang stehende Fragstellungen: Ein altes Gewehr, die ballistische Kurve einer Kugel, einer oder mehrere, Kuba oder Geheimdienst, tot oder nicht, wahre Presseberichterstattung oder nein, war was mit Marilynn Monroe oder nicht.
Herr Drehmann spielt eine aktive Rolle dort, weiß aber gar nicht wie er da hingekommen ist. Und wenn Elena Jensen seine Nichte sein soll, dann muss Dr. Jaspers der Bruder sein von Drehmann, also ein Roboter? Ich steige da nicht durch.
Ungeachtet dessen: Das ist außerordentlich gut gemacht, lieber Jim ANH Garrison, diese Verschränkung von Roman mit historischer Wirklichkeit, mit vermeintlicher Historie, denn noch immer Wirklichkeit, ich habe das wirklich gern gelesen.
Ebenso gern wie den Rausschmiss eines Börsenhändlers, der nicht mehr arbeiten kann, weil er, wenn er aus dem Fenster sieht, nicht die Frankfurter Bankentürme sieht, sondern den Laserzaun von Buenos Aires. Schreiben wie Atmen, ich scheibe, denn ich kann nicht anders. Dann: Hire and Fire, wie in Dallas, die Serie, auf dem Ball der Ölbarone im Cattlemen`s Club. Karriere vorbei.
„Vorbei“ – muss dann aber heißen: „ein dummes Wort“!
Beste Grüße
NO
Nichten@Dr. No. Thetis, S. 67:Hatte nicht Gisela Jaspers, Herrn Drehmanns virtuelle Schwester, ihre Tochter ganz zu Recht eine widerliche Karrieristin geschimpft? – Freilich war sie nicht wirklich mit ihm verwandt. Holomorfe haben Angehörige nur im Paß.
Herrn Drehmanns Schwager – sein Reiter – hieß Dr. Kurt Jaspers, war pensioniert und hatte, seit es sein Maultier gab, die Wohnung nicht mehr verlassen. Dafür hatte der Holomorfe alles Verständnis. So war Herrn Drehmanns Programm auch erstellt: Dr. Jaspers zu ersetzen, ihn sich ruhigstellen zu lassen, ohne daß darum der Output geschmälert würde.Es gibt weitere Stellen, die das „Nichte“ erklären. Diese hier aus den ersten Kapitels genüge aber; ich müßte suchen.
Rosa statt weiß: Allegorien, ich habe das in den theoretischen Texten oft ausgeführt, es spielt dann in Argo eine entscheidende Rolle – Allegorien verwirklichen sich nie identisch, sondern immer „nur“ ähnlich. So wie auch etwas für etwas anderes stehen kann, es aber deshalb nicht ist, also eben nicht identisch ist. Doch das M u s t er ist gleich, – Durchaus möglich, daß schon andere Menschen das gedacht haben; für mich selbst ist es ein eigener Gedanke, seit ich ihn zum ersten Mal hatte und zu gestalten versucht habe.
Thetis ist ….. …..Sterben.
In Samhain werden wir`s gewahr! Endlich erläuternde Rückblenden:
Polizeichef Markus Goltz untersucht das mysteriöse Verschwinden von Jensen, dem jungen Jensen, dem Ungefugger-Vertrauten und obersten Sicherheitschef, dem Sohn des alten Jensen, dem Ziehkind des alten Gerling, der Jensen, der beim Eintageskrieg nicht erreichbar gewesen war. Goltz geht auf Jensens Ranch, die jener einst vom Präsidenten erworben hatte. Die Ranch, der Ort, wo man Sonnenuntergang und Naturwiesen drum herum, Gärtner und schwarze Bedienungen, Blumen, Vögel, Himmel und Duft an- und abschalten kann wie das Licht mit dem Schalter: Alles künstlich in der Welt des Thetis-Westens, alles Kulisse, nichts echt, nichts aus Fleisch und Blut, alles holomorphe Technik, alles Schein, alles Betrug – Selbstbetrug. So ähnlich wie „im wahren Leben“ in den Luxushotels der Welt, die nicht in Europa und den USA stehen: Kaum geht man um die nächste Ecke, steht man in Dreck, Geröll und Ruinen.
Erinnert sich noch jemand an dieses alte Plattencover von Supertramp: „Crisis? What Crisis?“, auf dem die Jungs von der Band in Badehosen auf gleißend heißen Liegestühlen liegen und hinter ihnen die Städte in einer Technik-Trümmerwüste? Der Herr Herbst hat hier genauso elendig gut dargestellt, als wie künstlich, als wie von medialen Täuschungen durchdrungen er unsere heutige (westliche) Welt sieht. Die Kultur stirbt.
Aber auch Jensen stirbt. Und Odysseus.
Goltz entdeckt auf dem Jensen-Anwesen eine Art Käfig-Labor. Hier hatte einst der Präsident einen fahrenden Sänger gefangen gehalten, der ihm vom Heiligen Kind erzählte, welches kommt die Welt zu retten. Dieses Christkind gibt es ja in diesem Roman wirklich, Liam Goldenhaar, Borkenbrods und der Mongolin Tochter. Jensen hatte jenes heilige Kind hier eingesperrt. Und wo hatte er das her? Vom Heerführer und Rebellenchef Odysseus. Der hatte es von der Mongolin, denn bei deren amazonischen Frauenvolk hatte es sich ja vor der Mutter versteckt. Odysseus hatte sie eingetauscht gegen Wasser, was er wiederum in einem geheimen Deal von Jensen hatte, dem er dafür menschliche Organe schickte, genauer: kleine Kinder schickte, die auf Kinderfarmen geharvestet werden, damit die Organe immer frisch bleiben, wie in jenem ganz großartigen Roman „Alles, Was Wir Geben Mussten“ von dem grandiosen Ishiguro.
Aber Odysseus wird von Liam Goldenhaar gebissen. Die Kleine ist, wie Borkenbrod, halb Reptil. Odysseus Arm wird schwarz. Von dieser Wunde erholt er sich nicht mehr. Während Borkenbrod am Ende des Romans immer noch lebt. Lieber Herr Hebst, da haben Sie aber die Illias falsch in Erinnerung, es ist ja genau anders herum!
Auch der junge Jensen wird von Liam Goldenhaar gebissen. Jensens Am wird schwarz. Aber von der Wunde stirbt er nicht. Jensen hatte seine Technokratie abgestreift, als er vom Christkind hörte. Seine alte Natur bricht durch. Schließlich ist auch er Halbasiate. Er ist der damals zurück gelassene Sohn der Mongolin, als der alte Gerling der asiatischen Frau des alten Jensen (der Vaters dieses jungen Jensen hier) und ihrer Tochter zur Flucht über die Grenze in den Osten verhalf. Der junge Jensen ist der Bruder Liam Goldenhaars. Und er ist fasziniert von ihr. Liebe? Trieb! Thetis ist auch Inzest. Der Bruder lässt die Schwester ausziehen, betrachtet sie nackt, begehrt sie. Und geht, als sie ihn lockt, wissend in den Käfig, wo sie sich nach Häutung aufklappt zu riesiger Größe wie dieses hässliche, von der Alien-Mutter geborene, braune Killerbabymonster in dem Film „Alien IV“. Jensen wird zerrissen und sein Fleisch, sein Blut, über den Käfigboden verschmiert. Goltz findet nur noch Fetzen, das Monster ist weg.
Und Roboter Drehmann, der daneben saß, warum auch immer und wie auch immer er in den Käfig gekommen ist, wird nach dem Verhör durch Goltz abgeschaltet. Tod eines Roboters.
Soweit dies technisch möglich ist, stirbt also auch Drehmann.
Mit den Kindern schickte Odysseus übrigens auch Prostituierte rüber. Jensen hatte es geduldet, dafür war ihm Liam Goldenhaar versprochen. Unter den Prostituierten, immer noch in Frauenkleidern wie damals Achill, Achilles Borkenbrod, dem die Amazonen allein vertrauen, und der deswegen in dieser Tarnung hinüber geschmuggelt wird, um die Frauenkrieger im Eintageskrieg anzuführen. Dieser Schmuggel von Borkenbrod im Lastwagen nach Buenos Aires ist wie der getarnte Einzug der Griechen nach Troja im hölzernen Pferd. Hier geht die Illias auf. Der Krieg aber wird verloren, viele Frauen, viele andere Kämpfer, Schänderpriester und heilige Frauen, sterben. Die Verbindung zu den Bosnien-Kriegen sehe ich nicht recht, aber immerhin:
Viele Kriegstote!
Diese Niederlage im Eintageskrieg war angeblich eine strategische, geplante, um den Westen in Sicherhit zu wiegen, bis das Thetsimeer die Mauer unterspült, das Land überschwemmt und so einen zweiten, und dann siegreichen Aufstand deckt und flankiert. In irgendeinem Kapitel geht das Meer unter der Mauer durch und überschwemmt Thetis tatsächlich den mit Kindern gefüllten Graben. Aber, so mein Verständnis, die Welt bleibt. Die Mutter Liam Goldenhaars jedoch, die Frau des Borkenbrod, die Mandschu, überlebt den Eintageskrieg nicht lange:
Die Mongolin, die Königin der Amazonen, die Tochter der Frau des alten Jensen, die Kriegsverliererin, verfault
Alles sehr spannend, gut geschrieben, hat Spaß gemacht soweit!
Beste Grüße
NO
Lieber Dr. No,
Aber, was noch einmal „Parallelen“ angeht – „Muster“ will ich sie nennen, weil das deutlicher ist –Lieber Herr Hebst, da haben Sie aber die Illias falsch in Erinnerung, es ist ja genau anders herum!
Ihr
ANH
Uhren Zufall? Novemberzeit des Zufalls? Ja.
Aber Celan sagt „Köln, Am Hof“:
Ihr Dome ungesehen
ihr Ströme unbelauscht
ihr Uhren tief in uns.
Thetis ist ….. ….. zu Ende.
Borkenbrod ist nun nicht nach Levkas gekommen. Aber immerhin auch nicht tot. Das Christkind Niam Goldenhaar hat keine Erlösung gebracht, ist aber noch da. Ungefugger und Goltz beherrschen die Welt. Der Präsident ist in einem Spielzeugschiffchen auf See.
Das alles ist geschrieben in einem schönen, warmen Abgesang, einer hübschen, ruhigen Passage, die mir gut gefällt.
Und Deters wird in seiner Kneipe wieder nüchtern.
Eine sehr blonde Dame erscheint.
Aber Deters kehrt auch per Auto in das Wolpertinger zurück und wird im Keller des Hotels (wir sind soeben von „Thetis.Anderswelt“ weg in einen anderen Roman getreten) von einem Nazi überfallen. Diese Deters-Schleife ist mir fast wieder ein Schlenker zu viel nach dem schönen Abgesang. Deters wacht aus Bewusstlosigkeit auf, findet den Nazi zerrissen, dessen Körper und Blut verschmiert über den Kellerboden, wie unlängst der von Niam Goldenhaar zerrissene und verschmierte von Jensen im Gefängnis-Labor.
Trifft Deters die blonde Frau nun, mit der er sich verabredet hatte am Anfang des Thetis-Buches? Eine sehr blonde Dame erscheint ja immerhin. Ist es Niam Goldenhaar? Ist es das Reptil aus dem Keller des Wolpertinger? Beides? Also beide zugleich und doch in anderen Welten, anderswelt-gekippt? Oder doch weder die eine, noch das andere, sondern ein Drittes?
Man weiß es nicht, manches bleibt offen, aber es gibt ja auch noch 2 Folgebände dieses opus magnum. Niam Goldenhaar mag Borkenbrods Hoffnung auf das Paradies ja noch erfüllen. Ich hatte während der Lektüre des Romans nie nachgeschlagen, wenn ich etwas oder eine Anspielung nicht verstanden hatte oder nicht kannte, weil meines Erachtens ein Roman sich auch ohne totales Verständnis tragen muss, aber jetzt habe ich es bei Niam getan, es ist irisch, keltisch:
„My name,“ she said, „is Niam of the Golden Hair. I am the daughter of the King of the Land of Youth…
Delightful is the land beyond all dreams,
Fairer than anything your eyes have ever seen.
There all the year the fruit is on the tree,
And all the year the bloom is on the flower.
„There with wild honey drip the forest trees;
The stores of wine and mead shall never fail.
Nor pain nor sickness knows the dweller there,
Death and decay come near him never more…”
Sehr schön.
Aber “Thetis” ist zu Ende.
„Und der Rheingraben hält noch.“
Beste Grüße
NO
Nachdem mich. Der Defätismus >>>> wieder, um mich zu schütteln, packte (um 9.28 Uhr im Link), schrieb Dr. No noch einmal >>>> dort. Dort auch werde auch ich mich noch äußern.
(Dies, um den Zusammenhang der Thetis-Gespräche zu wahren).