In Schönheit sterben. Die Junge Deutsche Philharmonie spielt Mahler IX in den liebenden Händen Jonathan Notts. Ein Altes Europa im März des Jahres 2013: Erzählung aus der Berliner Philharmonie.

Es ist etwas Utopisches in den letzten dreiundfünfzig Takten dieser Sinfonie, die mit der berühmten, ersterbend überschriebenen Des-Terz allein in Geigen, Bratschen und Celli ins kaum mehr Hörbare hinüberklingt – nicht „negativ“ utopisch, wie Adorno formulierte, von dem die wahrscheinlich wichtigsten, auf jeden Fall wirkkräftigsten Interpretationen zu Mahlers Musiken stammen, sondern ganz im Gegenteil in blochschem Sinn hoffnungsvoll utopisch, nämlich insoweit der thematisierte Abschied vom Leben h i e r bei Mahler einer ist, der uns die Würde wahrt: Wir fließen hinüber, immer wieder stockend zwar, uns hie und da sammelnd, noch einmal zusammennehmend, was an Erinnerung war, aber doch ist‘s eine Levitation, die nicht grundlos von einem der Kindertotenlieder aufschwebt; Pierre Boulez schrieb, hier werde sich dem Unbekannten geöffnet. Daß es solch eines aber gebe nach dem zumal so milden Tod, das eben, beides, ist das Prinzip Hoffnung gerade dieser letzten Sinfonie Mahlers.
>>>> Jonathan Nott läßt die Junge Deutsche Philharmonie diese Takte, man kann‘s nicht anders sagen, zelebrieren. Sämtliche, für die Zeit der Sinfonie-Entstehung noch ungewöhnlichen, ja bizarren Klangfarben werden noch einmal, aber chamois überhaucht, zusammengenommen, jede für sich, und – metaphorisch gesprochen – erweicht, als schmeckten wir allem melancholisch nach, von dem wir uns nun trennen müssen – w i e endgültig, ist einem jeden spürbar, der den Bezug auf die Klänge der seinerzeitigen Volks- und Unterhaltungsmusiken mit einem auf heutige vergleicht, all die Gschrammerl- und Walzerseligkeiten, denen Mahler privat durchaus anhing, mit den Schlägen von, etwa, Techno und House, welches die heutigen, typischerweise weniger harmonie- als signifikant rhythmusfokussierten Referenzklänge wären. Mahler komponierte seine eben n i c h t karikierend gesetzten Hommagen, in denen manch Interpret bereits die Fratze des kommenden Weltkriegs zu sehen vermeinte, direkt an der Schwelle, auf dem der Siegeszug der modernen U-Musik, die unterdessen Pop wurde, stand: Die nachherigen, von Mahlers Ästhetik beeinflußten Komponisten bezogen sich bereits auf den Jazz, Ernst Krenek zum Beispiel. Nach Mahler kann von einer eigentlichen Volksmusik nirgendwo mehr gesprochen werden, sondern alle Unterhaltung wurde technisch und bald schon industriell. Insofern ist gerade Mahlers Neunte, völlig anders als die gern vergleichshalber herangezogene Tschaikowski VI, nicht n u r persönlich, sondern vor allem gesellschaftspolitisch konnotiert – etwas, das nahezu alle Musikdenker betont haben, die von dieser Musik berührt worden sind; dafür spielt es gar keine Rolle, ob man Mahler als Vollender, bzw. letzten Vertreter der spätromantischen Ästhetik begreift – was ohnedies eine ziemlich auf den deutschen Sprachraum begrenzte Ideologie ist und zum Beispiel die Entwicklung der englischen und nordischen Kunstmusik diskriminierend ausgrenzt – oder als Wegbereiter der Neuen Musik, und zwar dies letztere um so weniger, als deren Geschichte sehr lange eine eines bis ins bisweilen, etwa bei Zender, Esoterische reichenden, völlig publikumsfremden Elitismus gewesen ist. Das hätte Mahler ganz sicher nicht nahegelegen. Es kommt insofern nicht von ungefähr, daß ihn nicht etwa Boulez beerbt hat, auch – auf der ästhetischen Skala gegenüber – Henze nicht, nicht der hierfür gern proklamierte Schostakowitsch, noch gar Stockhausen und Rihm, sondern der bis heute Außenseiter >>>> Allan Pettersson, auf den immer wieder hinzuweisen ich ganz gewiß nie müde werden werde.
Das wirklich Interessante an Mahlers Musik und besonders seiner Neunten, ist tatsächlich sein Verhältnis zur Unterhaltungsmusik; ähnlich wie Schubert das Volkslied in den Kunstgesang gehoben, hob er den Schund in die Sinfonik und lud ihn, wie jener dieses, auf – am radikalsten wahrscheinlich im Zweiten und Dritten Satz, der Burleske, welche letztre Nott die jungen Philharmoniker in einem geradezu rasenden Tempo spielen läßt, was sie mit staunenmachender Virtuosität auch hinbekommen, und zwar, ohne daß die Durchsichtigkeit der Musik litte; im Gegenteil, das Keckern und Quäken, Knarren und Quarren querdurch Klarinetten, Baßklarinetten, die Fagotte, das Kontrafagott, darüber immer wieder der wie stehendes Sonnenlicht schwirrende, schwebende Querflötenklang, bekommen durch die Raserei, aus der sie gleichsam herausplatzen, enorme, w e i l eben flüchtige Markanz. Imgrunde nehmen Ländler und Burleske Maurice Ravels berühmte, schreckliche La Valse um ganze elf Jahre voraus; anders aber als der Franzose konnte Mahler noch gar keine Vorstellung von dem Ersten Weltkrieg haben, deren Reflex La Valse ist. Insofern liegt es, aber aus späterer Perspektive billig, nahe, dem Komponisten etwas Prophetisches anzudichten. Dann freilich wäre die Verklärung, die aus den letzten fünfzig Takten der Neunten herausklingt, ja, die sie sind, nur um den Preis des falschen Scheines, eines – weil ja hochdifferenziert auskomponiert – bewußt gemachten falschen Scheines, zu erklären, der, aus selber Richtung argumentiert, die Grundlage der Verblendungsindustrie ist. Doch die Gleichung, derzufolge Verklärung Verblendung eben sei, geht nicht auf. Vielmehr ist sie ein notwendiges Element des menschlichen Daseins überhaupt, insofern dieses mit dem Nichtbegreifbaren bewußt konfrontiert ist, und zwar, bei durchgebildeten Menschen, zu jeder Zeit: mit seinem eigenen Tod. Das denkende und zugleich fühlende Geschöpf braucht sie, will es nicht seelisch vor die Hunde gehn.
Edelstes Medium solcher Verklärung ist die Kunst, die aber zugleich eine sein muß, die hinsieht; ihr praktischstes dagegen – und darum mißbrauchbarstes – die Religion, zu der auch die politischen Ideologien, gleich welcher Richtung, gehören. Musikphilosophisch besteht Gustav Mahlers Bedeutung vor allem darin, daß seine Sinfonik ökumenisch ist, christlich und pagan zugleich, jüdisch und volksmythologisch, ja – im Lied von der Erde – sogar fernöstlich konnotiert und übers, vom Jugendstil vermittelt, Arabeske der Behandlung mancher Themen auch islamisch. Immer wieder ist Erlösung – Erlösung durch Hingabe – das musikgewordene Thema. D e m entspricht in dieser Sinfonik die Auflösung der tradierten Formen, also des, christlich gesprochen, Katechismus, ebenso wie der (europäisch) klassischen Harmonik; von hieraus erklärt sich, und nicht, weil nun die Apokalypse komme, bzw. vorausgeahnt sei, Mahlers Ästhetik. Genau aber darum kann hier von falschem Schein keine Rede sein. Sondern das wirklich Naive, sagen wir: Volksnahe, dem „einfachen“ Menschen Nahe, ist innig mit dem hohen Intellekt verbunden – eine in der Musikgeschichte nahezu einzigartige Synthese.
Daraus resultieren kompositorische, sagen wir, Ruppigkeiten, die auf keinen Fall zivilisiert werden dürfen; man kommt Mahlers Intention wahrscheinlich viel näher, wenn man die Härten noch betont, auch den Kitsch, der mit dieser Musik bisweilen – im Spätwerk kurz immer nur – einhergeht, und wenn man sie, vor allem, n i c h t analytisch spielt – Analyse ist immer auch Abwehr -, sondern mit dem heißen Atem der Jugend, der den Klang der Jungen Deutschen Philharmoniker so geradezu beispielgebend macht; ein unendlicher Glücksfall, wenn sich damit in der Instrumentenbeherrschung Perfektion verbinden kann. Zudem ist jungen Menschen – schon, vielleicht, weil er noch fern ist – der Umgang mit dem Tod sehr vertraut; in unserer Pubertät haben wir alle geflirtet mit ihm, bevor wir dann selbst neues Leben schufen.

Und wir alle wollten die Welt politisch verbessern und glaubten heißer Herzen, daß das geht. Das ist für diese Musiker so lange noch nicht her wie für uns meiste, die wir ihnen zuhören: Nicht zuletzt das, Annahme und Hingabe, gab der Aufführung gestern abend solch eine Seele.
Dirigenten, die mit diesem Orchester arbeiten dürfen – sie werden eingeladen; es ist, in der Tat, ein Privileg -, wissen das gewiß. Und Jonathan Nott ist ein Glücksfall, wiederum, für das Orchester. Beglückend, wie das harmonierte, auch sozial zu erkennen, wie er beim Schlußapplaus in das Orchester zurücktrat, Stimme unter Stimmen, die sich nur unglücklich verbeugte, wenn es die andren nicht ebenfalls taten, Kapellmeister aber eben doch; das Dirigat – mitunter an >>>> Böhlers Schattenrisse des Komponisten-selbst erinnernd

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aus dem Kopf, fast emphatisch in die Instrumentengruppen fallend und über ihnen schwebend, kaum sehbar sein Taktschlag, statt dessen ein Formen, Herausformen, mit den Händen, unmetronomisch, möchte ich sagen, auf den Ausdruck aus, die Möglichkeiten von Ausdruck, jetzt, hier, unter diesen Bedingungen bis in die Teilung der (vom Publikum aus gesehen) Violinenmassen rechts und ersten Violinen links und ganz links die Kontrabässe, bedacht also auf eine die Klangmitten hebende Balance, damit die Sinfonie nicht „kippt“, was vor allem aber die Hinwendung zu den einzelnen Gruppen sehr erleichtert – unabdingbar bei diesem Stück, in dem die solistischen Parts sehr oft von Instrument zu Instrument direkt in den Linien weiterwandern; so leicht wie bei den nebeneinandersitzenden Flöte und Klarinette ist das nicht immer zu lösen; nicht nur als „übrigens“, übrigens, verdienen diese beiden für die Aufführung vorgestern abend eine absolute Sondernennung; ebenso die erste Bratsche. Der Violaton insgesamt wurde extrem herausgearbeitet, diese dunkle, wie hohle FreundHeinhaftigkeit, zu der das Quäken – auch gleich zu Anfang schon, im ersten Satz, der gestopften Trompete – und das Keckern der Bläser geradezu unheimlich kontrastierte. Gerade in ihren „gemütlichen“ Themen ist diese Musik alles andre als gemütlich. Dazu addiert sich Mahlers berühmter Naturklang, für den man sich aber darüber klarsein muß, daß wir „Natur“ wahrscheinlich gar nicht drin hören, sondern eine Vorstellung von Natur, die wir negativ aus unseren Hörgewohnheiten imaginieren: solchen, die mit dem permanenten Rauschen und Brummen und Knattern und Dröhnen des städtischen Verkehrs vertraut sind, nicht aber mit dem, wie auch immer klischierten, „Rufen des Waldes“. Definitiv können wir Heutigen nicht mehr vernehmen, was sicherlich Gustav Mahler noch vernahm. Er hingegen hätte sich die Lautstärken nicht vorstellen können, mit denen wir längst achselzuckend, weil permanent umgehn.
Was auf ein kleines Problem der Aufführung hinweist. Die Pianissimi waren, dem Raum der Philharmonie ist das gedankt, so still wie irgend nur möglich; die Fortissimi aber erreichten die von der Komposition imaginierte Kraft beinah nie. Man fuhr nie wirklich zusammen; die Beschwörung von Unheil, die diese Sinfonie hier und da durchzieht, war wie gezähmt: also wirkte das Unheil selbst schon gezähmt. Freilich kann man sich darüber streiten, ob genau das vielleicht intendiert war, um nicht die Durchsichtigkeit zu gefährden, die für dieses höchst komplexe Stück rigoros notwendig ist, einerseits, weil Komplexion nicht mehr in den akustischen Mainstream gehört, andererseits, um >>>> Sergiu Celebidaches harrschem Urteil zu begegnen, Mahler habe keinerlei Formgefühl besessen; daß Form von ihm nur anders begriffen wurde, notwendig anders, darum ringt nahezu jede Mahler-Aufführung von Rang. Etwa werden bei Mahler die Farben zu Themen viel mehr als Melodielinien; sie, die Klangfarben, erfahren die thematische Verarbeitung. Semantisch verstanden, sind Klangfarben „Stimmungen“. Dabei „ringen“ die Jungen Deutschen Philharmoniker nicht, sondern, unter Nott, tanzen, und dies mit einer Leichtigkeit, und dennoch beharrend, mitunter bohrend, daß ich zuweilen meinte, in einem von Pan selbst choreografierten akustischen Ballett zu sitzen, bis dann, im letzten Satz, die Tür zum Hades aufging, und zum Paradies, aus der es kühl herausweht: von unten u n d von oben. Daß man daran nicht irre wird, auch das erreicht Verklärung.
Nott arbeitet die Gegensätze in der Sinfonie heraus, die in Adornos negativer Dialektik als „Risse“ bezeichneten Widersprüche, ohne daß er aber, oder allenfalls gelegentlich, die Streicher arpeggioartig aufseufzen ließe , wie man das bei >>>> Barbirolli hören kann, der die – für mich – “idealste“ Sechste eingespielt hat, jedenfalls bislang. Notts Auffassung ist, sozusagen, jünger; sein Zugriff ähnelt >>>> Wyn Morris‘ oder, soweit ich mich erinnern kann, des in Deutschland nahezu unbekannt gebliebenen >>>> Kazimir Kords, unter dem ich als ganz junger Mann einmal eine Mahler V gehört habe, daß ich dachte, mir fallen gleich die Ohren ab; das war in den Siebzigern; die „Brahms-Fraktion“ meines damaligen Umgangs rümpfte nur die Nasen, derart radikal – nämlich durchaus nicht „schön“, also eben nicht ausgewogen, vornehm, und schon gar nicht analytisch sezierend – packte er das musikalische Material an. Um es derb auszudrücken, hat er mit der Sinfonie gefickt: berauschend für die Philharmoniker – k e i n Starorchester, gewiß nicht, diese Bremer -, berauschend für ihn selbst, berauschend für einige Hörer:inne:n wie mich. Es gibt Konzerte, die man noch vierzig Jahre später nicht vergessen hat; durchaus möglich, daß der Jungen Deutschen Philharmonie und Jonathan Notts Mahler IX fortan, für mich selbstverständlich, dazugehört.
Es sei gänzlich unmöglich, formulierte einmal Bernstein, aus einer Mahlersinfonie nicht bis in die Tiefen gereinigt herauszukommen. Auf diesen Zustand von Katharsis legte Nott es mit den Jungen Deutschen Philharmonikern an. Wäre das Konzert wiederholt worden, ich wär noch ein zweites und auch drittes Mal, in möglichst direkter Folge, hineingegangen. Dabei hatte ich befürchtet, auch aus Mahler unterdessen >>>> hinausgewachsen zu sein. Statt dessen hat dies mich nun aber – Größeres läßt sich über keine Aufführung sagen – privilegiert: indem es mich lehrte, „meinen“ Mahler n e u zu hören: fast wie zum ersten Mal, doch mit dem Wissen, drinnen, um alle andren Male.



Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 9 D-Dur
Junge Deutsche Philharmonie
Jonathan Nott

Die nächsten Aufführungen:
21. März Heidelberg Stadthalle. >>>> Karten.
22. März Interlaken Konzerthalle. >>>> Karten.
24. März Köln Philharmonie. >>>> Karten.

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