Arbeitsjournal. Gerichtsvollzieher (12). Dienstag, den 19. Februar 2013: neu anfangen, mit kindlicher Metaphysik.

Alt
Ich habe übertreten die zehen Gebot;
Ich gehe und weine ja bitterlich,
Ach komm und erbarme dich über mich.

Frauenchor
Hast du denn übertreten die zehen Gebot,
So all auf die Knie und bete zu Gott!
Liebe nur Gott in alle Zeit,
So wirst du erlangen die himmlische Freud!

9.10 Uhr:
[Arbeitswohnung. Mahler, Zehnte (in der Komplettierung von Rudolf Barshai).]
Ich weiß gar nicht, ob sonst noch jemand, außer mir, diese Aufnahme besitzt. Selbstverständlich werde ich sie für die Funkarbeit nicht benutzen können. Aber John Barbirollis Einspielungen, von dem ich, sehen Sie mal, eine ganz wunderbare Fotografie habe – eines genialen Dirigenten, der beim Cellospielen raucht:

Aus Ablagebox
Leider ist in dem Booklet der Fotograf nicht angegeben, so daß ich keinen Copyright-Vermerk anbringen kann. Pardon, bitte, dafür. Das Bild trägt für mich eine starke Utopie: Erfüllt zu sein von dem, was man tut, so sehr darin sein, daß man sich nicht ablenken muß. Einig mit sich sein. Deshalb steht es hier als ein Gegenbild zu allem, was Thema des Gerichtsvollzieher-Härstücks ist oder doch sein sollte. Vielleicht versteht das jemand unter Ihnen, vielleicht verstehen wir es eigentlich alle.

Also werde ich wieder ganz frei beginnen; noch bin ich mir nicht klar, welches Mahler-Stück ich verwenden werde; die gewisse Naivetät muß doch deutlich werden, die säkular vermeint, das Ewige Paradiesische Leben im konsumierenden Wohlstand schon mal vorholen zu können; die Glücksverheißung jedenfalls ist die gleiche. Es soll aber auch das Leid in der Musik mitbeschrieben sein, von dem niemand recht gesprochen hat, das Leid des Kleinseins, das der Flitter zu erlösen verspricht.

Gerichtsvollzieher 11 <<<<

Daß ich verschlafen habe, jedenfalls zu spät aufgestanden bin, muß ich, glaube ich, gar nicht mehr schreiben: derart normal ist das unterdessen geworden. Eine Art Kraftlosigkeit, die sich in meine Rigidität einschleicht, bzw. schon darin eingeschlichen hat und sie vielleicht aushöhlt; vielleicht ist es aber auch wirklich nur eine Erholungsphase, die nun nur etwas länger andauert, als ich das gewohnt bin. Erstaunlicherweise neige ich ihretwegen aber nicht mehr zu Schuldgefühlen, sie mißhagt mir nicht einmal, sondern ich lasse es laufen. Vielleicht ist es auch so, daß mein Hirn Denkphasen braucht, die sich von meinem gezielten Ich unabhängig gemacht haben, und daß es sich sie nimmt: daß es Lösungen sucht, sie sich sozusagen erschläft, denn es arbeitet im Schlaf ja weiter; das Hirn ist ein Hai und kennt keine Ruhe, sondern nur einen Wechsel der, sagen wir, Aggregatzustände seiner Tätigkeiten. Wiederum kann es auch etwas mit anhebendem Alter zu tun haben. Da ich alle Dinge extrem tue, nähme es kein Wunder, wenn ich auch hier so reagierte (wenn es auch hier so reagierte).
Erster Latte macchiato, also, aber schon die zweite Morgenpfeife. Ich rief gleich nach dem Erwachen die Löwin an, wir sprachen aber nur kurz, weil ich noch nackt im Zimmer stand und es vom weit offenen Oberlicht kalt hereinwehte: Es hat wieder geschneit in Berlin; das Dach gegenüber ist ganz weiß; auch für morgen ist Schnee angesagt.

Wieder beginnen. Die Tonspuren neu anlegen. Ich werde nunmehr fast ohne Typoskript arbeiten, nur dem Gehör folgend. Bevor ich das aber tu, will ich noch auf >>>> Iris‘ Vorschläge zu dem Gedicht eingehen, das ich gestern geschrieben habe.
Guten Morgen.

16.30 Uhr:
Extrem tiefer Mittagsschlaf, zweidrei kleine Pornos vorher, wie meistens, wenn ich mich auf Tour bringen muß. Andre nehmen statt dessen Koks. – Verschachtelt geträumt, dann hoch, bewußt einen Cockring umgelegt, um den Bauch, auf den der Kopf zentriert ist, auf den Schwanz zu zentrieren und dessen Energie wieder hoch in den Kopf zu kriegen, mich angezogen, jetzt in Anzug und Weste – und nun, endlich nun, werde ich die neue Montage anlegen, auch wenn ich noch auf den Anruf meiner Redakteurin warte, weil in dem, was ich nunmehr vorhabe, ein ganz anderes, leider objektives, Problem steckt: eine Rechteproblem, über das ich, um nicht die Nilpferde wild zu machen, öffentlich nichts sagen will.

2 thoughts on “Arbeitsjournal. Gerichtsvollzieher (12). Dienstag, den 19. Februar 2013: neu anfangen, mit kindlicher Metaphysik.

  1. zu John Barbirolli. Gab es eben bei Facebook eine so schöne Kommentarfolge, daß ich sie hier zitieren möchte:

    >>>> Esther Ackermann:
    Hätte den tollen John Barbirolli nicht erkannt. Aber falls die Zigarette brennt, finde ich Ihre ‘Lesart’ des Fotos sehr speziell: “Erfüllt zu sein von dem, was man tut, so sehr darin sein, daß man sich nicht ablenken muß”…
    ANH:
    Ja, die brennt. Ein Raucher lenkt sich nicht ab, wenn er raucht, sondern führt sich Energie zu oder kanalisiert Energieüberschüsse. Denken Sie an Bernstein, dessen Frau ihm in jeder Konzertpause, wenn er, um das klitschnasse Hemd zu wechseln; nach hinten stürmte. die bereits angezündete Zigarette hinhielt. Meist stand auch ein Glas Whiskey bereit. Süchte können für sehr produktive Menschen Treibstoff sein. (Ich hätte aber Angst um mein Cello, zugegeben, und würde beim Spielen deshalb lieber Pfeife rauchen – was Pablo Casals, ein weiteres Übrigens, so getan hat. Eines Tages werden wir davon nichts mehr wissen, weil die Cleanness all das zum Verschwinden gebracht haben wird. Und wir werden uns schließlich fragen, wie das denn überhaupt gewesen sein kann, daß es so leidenschaftliche Menschen gab. Wir werden sie nicht mehr verstehen. Brave New World.)

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