Was wir nie vergessen sollten. Das Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 11. September 2013. (In)offiziell erster Erscheinungstag von Argo.Anderswelt,

was seinen Grund darin hat, daß sich thematisch die Erste Abteilung des Romans selbstverständlich auf Ground Zero bezieht, besonders aber, nämlich formal, die Zweite, „Zwölfjahreshalber“ genannte Abteilung, deren Titel wiederum inhaltlich darauf anspielt, daß ich die Arbeit an dem Buch vor zwölf Jahren begonnen habe, gleich nach dem, bei >>>> Marebuch, Erscheinen von >>>> Meere; im Verlag liegen von der Originalausgabe noch immer um die 2000 Bücher und warten auf ihre Erlösung, die wohl erst der Tod aller ehemaligen Prozeßparteien bringen wird. Er, immerhin, wird unvermeidlich kommen eines hoffentlich aber noch sehr fernen Tages. Ach, Irene Adhanari! (>>>> Toller Fund, übrigens, im Netz.) Wiederum entspricht es meiner Art, nach Erscheinen eines neuen fertigen Romans sofort mit dem nächsten anzufangen. Wie ich’s grad mit Traumschiff wieder tu. Man kann beinah von Routine sprechen. Wobei das selbstverständlich nicht Schlag auf Schlag geht, sondern Die Dschungel zeigt ganz gut, wie zwischendurch, während der Arbeit an ganz anderem, die Ideen entstehen, erste Skizzen hingeworfen, teils auch verworfen, schon aber immer wieder aufgenommen werden; es ist eine gewisse Bissigkeit dabei, etwas Zähes, das nicht nachläßt, auch wenn es bisweilen mal erlahmt und wie ins Vergessenwerden rutscht; spätestens aber, ist das neue Buch erschienen, schiebe ich das aufs Neue gefallene Laub entschieden beiseite und beginne. Seit ich sechsundzwanzig war, ist das so, man kann von mehr als einem halben, also bisherigen, Leben sprechen. Und es trifft sich heute, an diesem 11. September, auf nicht unbizarre Weise, daß ich nun statt >>>> Argo, für das es schon geschehen, den >>>> Giacomo Joyce als erschienen annoncieren darf: Gestern schrieb mir >>>> der Verleger, er werde nun doch schon v o r seinem Urlaubsantritt ausliefern können. Also werde ich mich gleich ans Formatieren machen. (Nachtrag, 8.29 Uhr: erledigt; siehe Link.)

6.37 Uhr:
[Arbeitswohnung. Jarrett et al., Ruta and Datiya (1973).]
Ich habe eine Zeit lang auch gerne Peter Gordon gehört und Moto Totemist Guide, die Brecker Brothers und Irène Schweizer, außerdem, na sowieso, Michael Mantler; mit >>>> Elvira Plenar war ich sogar ein wenig befreundet. Alles in den Achtzigern, bevor ich nach Berlin ging, alles während der intensivsten Arbeitsphasen am >>>> Wolpertinger. Und dennoch werde ich nachher, die Platten liegen seit >>>> dem da hier bereit, zu Pfitzners meistersingerscher Klangwelt Palestrinas übergehen; mich umkreisen – hörbar nur meinem inneren Ohr – seit Tagen Themenfragmente daraus; jetzt wollen sie real erstehen.
Erster Latte macchiato, erste Morgenpfeife.

Es ist schon blöde, sich durchzuringen, um kurz nach halb sechs aufzustehen, sich was überzuwerfen, schnell in der Küche einen Espresso zu nehmen, das Badezeug zusammenzurollen und zum Frühschwimmen loszupesen, und dann steht man am Eingang der kleinen Halle vor verschlossenen Glastüren, weil man zwar mitbekommen hat, daß es ab dem Herbst neue Öffnungszeiten gibt, von denen hat man aber nur notiert, was einem selbst in den Kram paßt, nicht hingegen, daß mittwochs erst ab zehn geöffnet wird. Man war sowieso schon verwundert, daß niemand sonst draußen stand, anders als gewöhnlich, da schon immer, kommt man angerast auf die letzte Minute, die alten Leute warten. Nur eine untersetzte Frau mittleren Alters, die ich deshalb erkannte, weil sie einen auffällig schräggelegten Schwimmstil hat und im Wasser wie eine sehr große, auf der Seite schwimmende Robbe aussieht, – nur die also stand ebenfalls da und studierte den Aushang für die neuen Zeiten, schob wortlos ab, so daß ich mich meinerseits ans Studieren machen mußte.
Jetzt sitz ich wieder her. Die Nacht war etwas mühsam. Den ganzen Tag lang, gestern, hatte ich bis zum Abend nichts gegessen, dann mit meinem Sohn zusammen das Abendbrot eingenommen, er einen Döner, ich eine Riesenportion, eine ganze Schüssel voll, Magerquark mit selbst gewürfelten frischen Früchten und Haselnüssen; das hat der Magen offenbar als Zumutung empfunden und verweigerte ganz offenbar die Verdauung – bekanntlich, aber, reagiere ich, wenn ich etwas verdränge, mit Magenproblemen: Das so dringend erwartete Geld ist noch immer nicht da. Mein Zustand mochte also auch von damit verbundenen Befürchtungen verursacht worden sein, die ich in meinem Bewußtsein nicht zulasse. Auch dies ist ein Grund dafür, daß ich es mir seit meiner Jugend angewöhnt habe, keinerlei Kränkung zu schlucken, sondern immer direkt zu reagieren, und sowieso: Wut zuzulassen und zu zeigen. Womit ich in keiner Weise klarkomme, ist Hilflosigkeit. Jedenfalls blähte sich mein Magen schmerzhaft auf, bis ich, da war es kurz nach drei, auf die Idee kam, heißes Wasser zu trinken, ein ganzes Glas voll. Das, tatsächlich, half. Irgendwann war ich endlich eingeschlafen, aber empfand dann den Wecker um halb sechs als Zumutung. Diszplin war gefragt, ist wieder gefragt. Dachte ich noch und wurde vor der Schwimmhalle eines anderen, das durchaus n i c h t besser ist, belehrt. Weshalb ich nun, anstatt im Wasser meine Bahnen zu ziehen, bereits am Schreibtisch sitze. Also Krafttraining heute, nachher, im Park; hoffen Sie mit mir aufs Wetter. Immerhin hat mich heute nacht der wehe Zahn in Ruhe gelassen. Aber, fiel mir an der Pavoni auf, die Tagebücher von Autoren eines gewissen, besser ungewissen Alters sind voller Verdauungsprobleme. Das ist echt auffällig. Besonders John Cowper Powys’, doch auch Thomas Manns. Der Stoffwechsel ist eine Verarbeitungsmechanerie wie das poetische Handwerk. Vielleicht also deshalb.

[Moto Totemist Guide, Shapuno zoo (1987).]
Eine sehr sehr schöne Plattenhülle, rauher Karton:

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Dann fragte ich mich, weshalb man überhaupt darüber schreibt. Was so wichtig daran ist. Nun ja, es bestimmt das Gemüt, und es zu nennen, bannt es. Es wirkt, glaube ich, der Zauber des Namens. Daß man seine Formeln aber schriftlich spricht, meist sogar in Tagebüchern, die erst die Nachwelt lesen wird, liegt schlichtweg daran, daß Gespräche über die Verdauung nicht recht sexy sind. Zwischen dem geschriebenen und dem persönlich gesprochenen Wort von Autor:inn:en gibt es aber Differenzen, die sie persönlich schließlich unangetastet lassen: zwischen mir als ANH und mir als einer persönlichen Begegnung besteht ein ebenso kardinaler Unterschied wie daß niemand seinen Durst mit einem Glas Wasser löschen kann, von dem er in einem Buch liest. Auch das Internet ist ein Buch, wir sollten das niemals vergessen.

Bin gestern ganz gut mit dem Exposé zum Europaprojekt weitergekommen und werde daran gleich weiterschreiben, bzw. -denken. Übermorgen soll es stehen, dann will ich’s überarbeiten und pünktlich am Sonntag abgeben. Bis dahin wird sich auch die Kreuzfahrt-Angelegenheit geklärt haben, ob ich also am Montag bereits auf dem Meer sein werde oder mir ein anderes Schiff, bzw. eine andere Seereise für den Sterberoman und das Hörstück finden muß. Davon wiederum hängen die Sprechertermine für das Neapel-Hörstück ab. Sollte ich hierbleiben, werde ich auch die >>>> Mauergedichte endlich fortsetzen können, die jetzt genauso ins Stocken geraten sind wie die Aufzeichnungen der >>>> Yüe-Ling-Erzählung. Nein, auch sie habe ich nicht vergessen. Ich vergesse überhaupt wenig, bin ein, Monsieur, Elefant, dessen Schädel gestopft voll offener Rechnungen ist.

Zweiter Latte macchiato.

2 thoughts on “Was wir nie vergessen sollten. Das Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 11. September 2013. (In)offiziell erster Erscheinungstag von Argo.Anderswelt,

  1. Magerquark mit Früchten und Nüssen, eine Riesenportion! Nachdem Sie den ganzen Tag nichts aßen? Und da wundern Sie sich über Magenprobleme, lieber ANH? Wenn das Internet ein Buch ist, dann ist der Magen aber auch ein Freund, den man besser gut behandeln sollte, andernfalls er eben verstimmt, wütend reagiert, ganz unabhängig von Geldsorgen.

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