Premiere. DER MÄCHTIGE ZAUBER DES ERINNERNS. Christoph Loys Falstaff von Verdi an der Deutschen Oper Berlin. Mit dem Feuer Donald Runnicles. 17. November 2013.

[Fotografien (©): >>>> Hans Jörg Michel
Foto im Saal: ANH/iPhone]



Erinnern ist nicht notwendigerweise eine Funktion des Schuldbewußtseins, sondern kann auch befreiend und dann heilend sein und uns, so die Botschaft, in eine Vergangenheit derart körperlich zurückversetzen, daß wir sie sowohl für neue Gegenwart halten möchten wie halten: ja, sie entfaltet im Zusammenspiel von erhalten gebliebenem Wissen, teils auch noch einstigen, sich unversehens aktualisierenden Fähigkeiten und der, besonders wenn vereint, menschlichen Imaginationskraft einen geradezu ungeheuren Zauber. Kommt dies alles zueinander, dann fällt es ihm leicht, sich durch welchen Mummenschanz auch immer auf auf das Publikum zu übertragen. >>>> Christoph Loys Falstaff ist ein wirkliches Meisterstück dieses Vorgang.
So tobte denn der große Saal der Deutschen Oper Berlin vor Freude, nachdem das Stück zuende war, dessen einzigen Wehmutstropfen der Umstand in die Begeisterung fallen ließ, daß man sie für den Sänger und Darsteller des Falstaffs nicht in gleichem Maße zeigen konnte wie für alle anderen. Es fehlte für Noul Bouley deutlich an Bravi. Das ist schon deshalb ein bißchen bitter, weil der junge Sänger, neuer Stipendiat des Hauses, kurzfristig für den erkrankten Markus Brück eingesprungen ist, aber auch, weil er gestalterisch einen ganz vorzüglichen Falstaff abgibt. Doch in der Tat fiel seine im übrigen ausgesprochen schöne, durchweg lyrische Stimme gegen die Präsenz der anderen spürbar ab. Normalerweise, wenn der anarchische Fettsack nachher vor den Vorhang tritt, brüllt der Saal vor Wollust. Doch die Ovationen gestern galten anderen. Etwa war ganz zweifellos der sangliche Star des Abends die junge Elena Tsallagova, die das Nanettchen sang, das in Loys Inszenierung zugleich die liebevolle Betreuerin der alten Leute ist, von denen das Stück sich selbst gegeben wird – wir sind da nur Besucher, nämlich der kurz „Casa Verdi“ genannten >>>> Casa di Riposo per Musicisti, die der alte Komponist und seine Gattin geplant haben und die in Mailand 1901, sozusagen testamentarisch, tatsächlich auch gegründet wurde und bis heute als letztes Heim altgewordener Musiker:innen besteht. Der Schweizer Filmemacher Daniel Schmid hat einen innigen Dokumentarfilm über das Haus gedreht, den, wer ihn jemals sah, niemals vergessen wird: >>>> Il bacio di Tosca.
So auch nicht Christoph Loy. Er muß deshalb Vistur Kairishs mit einer ganz ähnlichen Idee umgehende >>>> Inszenierung von Brittens Sommernachtstraum, v o r diesem Falstaff in der Komischen Oper Berlin, gar nicht gesehen haben, zumal bei ihm das leise Erschauern nicht da ist, das einen dort schließlich überkommt, sowieso fehlt das Überraschungsmoment, ja die Bewegung, nicht die Idee, ist anders: Loy geht es nicht um einen verklärenden Regreß, sondern ganz im Gegenteil um, scheint mir, Wieder-Selbstermächtigung. Denn kommen sie zusammen, die alten Leute – real, in der Casa Verdi – , dann wird nicht selten musiziert, und es wird von den alten Zeiten geschwärmt und gemeinsam geträumt.
Eben damit setzt Loys Inszenierung ein, und zwar vermittels eines selbstverständlich in Schwarzweiß nachgedrehten „Stumm“films, Musik aus dem Off, die Stimmen auf historisches Wachsplattenrauschen heruntergefahren. Eine Art Falstaff stopft Spaghetti in sich rein, derweil Noul-Bouley-als-alter-Mann mehr recht als schlecht noch einmal dessen Rolle gibt, und als sich die Leinwand hebt, also der Vorhang, sehen wir genau diese Szene auf der Bühne. Womit der Rahmen definiert wäre: Alle Protagonisten der Oper sitzen, alles alte Leute, im Salon und hören zu. Fortan werden sie bei jedem Szenewechsel, das ist rundweg genial, wieder alte Leute sein, die, sowie sie jeweils ihre Partien gestalten, die Maske ablegen, Kleidung, Perücken, Gehstöcke. um wieder schöne junge Menschen oder solche auf der Höhe ihres Lebens zu sein.
Das wird ganz offen gezeigt, diese improvisierte Verwandlung: uralte Tradition des allereinfachsten Theaters, und doch oder gerade deshalb fallen wir, das Publikum, m i t in die Illusion, die ein wirklich Utopisches, ein zutiefst Humanes in sich birgt: nämlich daß doch alledie noch immer eigentlich die sind, die sie einmal waren – ganz so, wie auch jeder Erwachsene weiterhin das Kind ist, das er einmal war. Er mag es verbergen, wie er will; spätestens beim Einschlafen steigt es, mit allen Kinderwünschen, wieder aus ihm hervor, sei man nun Bundeskanzlerin oder Straßenbahnschaffner, Lehrer oder Richterin, Friseurin oder Architekt.

Loy baut aber noch eine inverse Kippe ein: nämlich wenn sich der Falstaff als Falstaff immer wieder mal seinen Monsterbauch abschnallt, aber auch wieder anschnallt, so, als wäre der bereits im Stück nur Verkleidung gewesen. „In Wirklichkeit, da bin ich mager!“ ruft >>>> im Wolpertinger der unsäglich fette Dr. Lipom. Da kommt man dann ins Denken, weil der so sichere, feste Inszenierungsrahmen sich seinerseits als trügerisch erweist.
Im übrigen wird das Stück wie ein nicht selten anrührendes, durchaus aber auch derbes Volksstück inszeniert, mit falschen Türen, durch die eingetreten und der Raum verlassen wird, und einem „Themse“kanal, den statt Wasser nur noch Müll füllt. Dahinein, bekanntlich, wird der Falstaff aus dem Wäschekorb gekippt. Dieser bis zum Austrocknen geschundene Kanal wird unversehens zum überhaupt stärksten Bild der Inszenierung; es ist Johannes Leiacker zu verdanken. Da steht nämlich, Beginn Akt III, Falstaffs Bett aus dem Altersheim auf dem ökologisch vernichteten Kanalboden, vielleicht zwei Meter vom Müll umgebene Enge, und hinter ihr erhebt sich die cleane hochbürgerliche Fassade der Repräsentanz, mit fest verschlossener Tür. Man kann da als Armer nur durch die spiegelnden Scheiben sehen, auf den Luxus, der sich vor einem glänzend verschließt, lauter Zwanzigerjahrefrisuren dahinter, und als sich der nasse Falstaff aufrappelt und hineinwill, macht ihm keiner auf. Genau so leben bei uns die meisten alten Leute: ausgesperrt. Vergeblich ihr Klopfen, vergeblich Falstaffs, das zu einem ganz verzweifelten Pochen wird. Großartig. Beklemmend, ja schockierend, weil unversehens in das Volksspiel die schärfste Kritik an den sozialen Verhältnissen drängt, durch die man sich, wenn man denn gut leben will, tatsächlich nur so schummeln und lavieren kann, wie es der Falstaff bislang tat. Ob die fast durchweg reichen, zumindest wohlbegüterten Menschen, die gestern abend diese Inszenierung sahen, das gemerkt haben werden, sei dahingestellt; sie haben, als sie jubelten, sicher auch nicht wirklich das „Tutti gabbati!“ beklatscht, das diese Oper beschließt und sie und mich auch selbst zweifellos mitmeint:

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Es gibt mehrere solcher gleichsam indirekten Botschaften in der Inszenierung, etwa wenn die schöne Meg sich als durchaus nicht so puritanisch-bürgerlich zeigt, wie das von einer Frau dieses Standes zu ihrer Zeit erwartet wurde; anders als Alice, die zuhause zwar deutlich die Stiefel anhat, nicht nur die Gamaschen, aber zugleich den Schein der guten Ehe wahrt, läßt sie im Dritten Akt ziemlich locker ihre erotischen Reize wirken und spielt sie nicht nur einem Einzigen gegenüber aus, sondern nimmt recht deutlich mit, was an männlicher, sagen wir, Wohlfahrt sich erheimsen läßt: eine auf meinen überraschten Hinblick Kokotte, die im Keller die Leichen ihrer Liebhaber stapelt, also deren von ihr vergessenen, immer schnell mit neuen „Lovern“ überschriebenen Überreste. So daß Falstaff an seiner wirklich großen Stelle, kurz vor der großen Ensemble-Fuge, schon recht hat, wenn er sich höchst selbstbewußt das Salz in der Lebenssuppe der anderen nennt: Gedanke eines eigentlich sehr süditalienischen Gauners, der die Obrigkeiten unterläuft, wo immer das nur geht. Ohne einen Falstaff würde jeder Widerstand zum Zentralkomitee.

Und herrlich, wie Runnicles das alles aufheizt. Daß er an die Deutsche Oper kam, erweist sich für ihr Orchester als eine ähnliche Glücksfügung, wie es Barenboim, der Interimsnachbar – wirklich nur paar Meter nebenan – für die Staatskapelle Berlin gewesen ist und bleibt. Er, Runnicles, läßt Klangmomente ausmodellieren, die ich im Falstaff noch nirgendwo anders gehört habe, etwa die Insistenz des beinahe warnenden Pfeifens bei der Geistererzählung. Forsch fast durchweg die Tempi, frech, wie es dem Stück zukommt, manchmal wie bei Carlos Kleiber 1965, zugleich ohne jede Scheu vor der italienischen Sentimentalität, ihrem Unvoreingenommenen gegen sich selbst; Selbstbewußtsein ist ja überhaupt ein Thema des Abends: sich nicht abfinden, sondern alle Fantasie, über die wir verfügen, sich aufbäumen und uns – zumindest doch in i h r – (wieder) reichwerden lassen, prall, glühend – beneidenswert der Künstler, der sein Lebenswerk mit etwas solchem gekrönt hat, und wie befreiend, daß am Ende n i c h t ein „Alles ist eitel“ und schon gar nicht Depression steht, sondern – ob moralisch oder nicht – die pure Lebenslust! Was denn sonst wär es wert, es unsern Kindern zu hinterlassen. Denn auch für sie wurden diese Zeilen geschrieben: Tutto nel mondo è burla. Wobei das letzte Wort – anders, als der Obertitel-Übersetzer meinte – n i c h t ein beliebiges „Spiel“ meint, sondern einen rüden Spaß: Sie dürfen gern auch „Rüdenspaß“ dazu sagen und jenen, den eine jede Füchsin hat:

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Giuseppe Verdi
F  A  L  S  T  A  F  F

Commedia lirica in tre atti.
Libretto von Arrigo Boito nach William Shakespeares „The Merry Wifes of Windsor“
und „Henry IV“.

Inszenierung Christof Loy – Bühne Johannes Leiacker – Kostüme Ursula Renzenbrink
Chöre William Spaulding – Choreographie Thomas Wilhelm – Licht Bernd Purkrabek
Dramaturgie Dorothea Hartmann

Noel Bouley – Michael Nagy – Joel Prieto – Thomas Blondelle – Gideon Poppe
Marko Mimica – Barbara Haveman – Elena Tsallagova – Jana Kurucová
Dana Beth Miller – Julian Bleymehl – Rudolf Giglberger – Raffael Hinterhäuser
Guido Kleineidam – Spyridon Makropoulos – Douglas V. Brown

Orchester und Chor der Deutschen Oper Berlin
Musikalische Leitung: Sir Donald Runnicles

Die nächsten Vorstellungen:
22., und 29 November 2013
5., 7. und 30. Dezember 2013
4. Januar 2014
Jeweils um 19.30 Uhr

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