Der Schlüpfer im Nichtwind: Nave onirica, amerina (2). PP213, 20. August 2014: Mittwoch. Am Abend Mah Jongg und die Seelen von Guf: Spatzen.

Nachts wurde er eingeholt

und morgens wieder gehißt.



13.03 Uhr, Kaminraum.
Amelia.
Verehrte Freundin,
die drei Gedichte habe ich nach allem Zaudern >>>> nun doch eingestellt, weil sich nämlich gestern nacht, nachdem ich sie, zugegeben angetrunken, vorgelesen, der Freund fast unmittelbar von seinem Stuhl erhob und nicht nur klatschte, nein, er verbeugte sich sogar – eine Geste, die meine Eitelkeit zutiefst bewegt hat. “Jetzt sprichst endlich du!” rief er, doch leise, aus und ließ mich durch all sein Zugestimmes ein Mißtrauen gegen mein Formalistisches spüren. Man hätte den Eindruck haben können, daß sein Applaus einer kleinen Befreiung galt, denn wirklich besonders sind diese Verse wohl kaum.
Ich las, um meinen Eindruck zu überprüfen, noch ein andres Gedicht hinterher, aus Neapel, und wieder applaudierte er, wenngleich nun dieses streng metrisch gebaut war, was aber mein Vortrag listig übertünchte. In jedem Fall hat es aber eine Veränderung gegeben, das spüre auch ich.
Doch nicht von den Gedichten, eigentlich, will ich Ihnen schreiben. Sondern davon, daß die – so nannte ich‘s vorhin in dem Antwortbrief an eine Leserin – „Rechnung“ aufgegangen sei, und das am allerersten Tag schon. Zwar erwachte ich gestern mit der Idee eines Katers, es war kein wirklicher, aber im Blut kreiste noch immer der Grappa, und stand auch um eine Stunde später als vorgehabt auf. Doch immerhin, von sieben Uhr morgens bis abends halb sechs schrieb ich am Traumschiff und geriet unversehens auf eine Spur, die ich überhaupt noch niemals gedacht hatte, um von bedacht zu schweigen. Es war eine Art Erkenntnis von der Wucht einer leisen, freilich etwas unheimlichen Erleuchtung: derjenigen einer Möglichkeit, den Roman zu interpretieren.
Ich lege jetzt die ersten Fährten direkt, muß sehen, ob es sich auch als Konstruktion erfüllt, deshalb erkläre ich mich besser noch nicht, nicht hier und gleich in Der Dschungel. Doch etwas, das ich vorher noch nicht auszubalanzieren wußte, steht nun horizontal. Es steht aber nicht, sondern schwebt. So daß das „onirica“ wahrwird.
Nahezu sechs einzeilige Typoskriptseiten bekam ich bis zum Abend zuwege, das sind im Buch etwa zwölf. Für einen ersten Tag nach derart viel Pausieren ist das glückhaft zufriedenstellend. Vor allem aber klingt nun Lanmeisters Stimme in mir. Um die hatte ich bislang nur getastet. Wie also gut, daß ich >>>> den Bart wieder abnahm! Und heute morgen bin ich mit >>>> Google Earth unterwegs und beginne, die Route festzulegen, die das Traumschiff nimmt. Und die erste Begegnung mit M. Bayoun wird geschildert. Wahrscheinlich können Sie schon morgen früh einen ersten Auszug in Der Dschungel lesen, heute bleibe es beim Gedicht – abgesehen vom >>>> PP, das ich hier in Umbrien aber immer erst zum Mittag schreiben will, einfach, um als allererstes nach dem Aufstehn den Klangraum des Traumschiffs in mich zu rufen. Nicht also, wie früher in Amelia stets, morgendliches >>>> Lesen auf den zwei hohen Stufen zum Cortile, und auch kein in des Nachmittags Sonne Draußenliegen. Um Urlaub zu machen, bin ich nicht hier, sondern, dank dem Freund ist sie möglich, in der Klausur des Erzählers.
Geblieben sind die Rituale, die den Arbeitstag schließen und die langen Gesprächsnächte öffnen. Fast genau um fünf, jedesmal, wird der erste Wein eingeschenkt. Nicht von mir, aber auch für mich. Die ersten beiden Gläser, jeweils, werden geleert. Dann wird eingekauft, und ich, meistens, koche. Meistens zuviel, so daß wir für zwei Tage haben:

Schulze ist da bestimmter, hat für Mengen den besseren Blick. Heute verzehren wir also noch einmal, was es schon gestern gab. Morgen indessen wird ein Risotto gereicht, con Funghi – auch dafür ist der Freund ausgesucht, ich aber werde lernen – , und übermorgen Fisch. Dann werde ich nur noch dreimal schlafen müssen, und die Löwin kommt her. Also übe ich, was sowieso nur ich hier tue, auch für sie schon mal vor. Ich übe das jedes Jahr mindestens einmal, nicht nur Sie, liebe Freundin, wissen das. Und weil ich es jedes Jahr mindestens einmal dokumentiere, wollte ich auch gestern ein Bild davon haben:

Nachdem es aufgenommen war, kam, wie dann meistens, Musik dran, und fast immer folgen dazu Gedichte. Aber nicht Montale hat sie gestern geschrieben, sondern Sylvia Plath. Die deutschen Übersetzungen, die da Laut wurden, stammen von Schulze selbst, niedergeschrieben finden Sie sie >>>> dort bei parallalie (da auch, für weitere, „Sylvia Plath“ in die Suchmaske tippen).

Aber dann, liebe Freundin! Sie werden es nicht fassen. Ich habe meine Cigarillos in Berlin gelassen, konstatierte das selbst völlig verständnislos. Also kam der Freund mit Havannas, die er aus Jamaica mitgebracht bekommen hatte: ehrliche Zigarren, Alltagszigarren, kommod gefertigt, weder das betonfest gestopfte noch ein zu „Cohibas“ hochgechicktes Zeug, sondern solche, denen man die Oberschenkel noch ansieht, auf denen sie gerollt wurden; die Unebenheiten des Deckblatts haben ihre Cellulitis konserviert wie ein Schweißtuch. Tatsächlich kann man diesen, den Schweiß, doch wirklich nur beim ersten Zug, auch mitschmecken, der während der Arbeit in der tropischen Hitze von der naßbeperlten Stirn auf das vegane Werkstück tropfte. Ich mag das, Freundin, wie Sie wissen. Und mir fällt ein, daß auch Lanmeister Zigarrenraucher ist, aber seines Herzens wegen aufgehört hat. Drei Zigarren indes, für seine letzten Stunden, hält er in seiner Kabine verwahrt. Von denen er aber nicht weiß, wann, nur eben, d a ß sie anbrechen werden, und bald. Außerdem habe ich im Netz >>>> Traumstadt aufgetrieben; urheberrechtlich ist das bedenklich, aber ich bin zu gespannt, ob meine Erinnerung hält. Tut sie das, würde ich versuchen, das Drehbuch zu bekommen und nachdrücklich-leise zweidrei Zitate im Roman plazieren, als Hommage. Selbstverständlich muß das Sterbebuch dafür erst einmal fertig sein; man tut dergleichen bei einer Überarbeitung. Ist auch nur für Eingeweihte, als, sagen wir, Boni.

Jetzt möchte ich gern weiterschreiben, soeben war ich in Tanger und sah aus Lanmeisters Augen zur Kasbah hoch. Deshalb grüß ich Sie gleichfalls von dort, innig Ihnen gewogen.

Per ora amerino:
ANH

***

(19.50 Uhr.)

Und die nächste Traumschiffsspur:
Das „chinesische Domino“, Mah Jongg, besteht aus 144 Steinen. „Mah Jongg“ bedeutet „Sperlingsspiel“. Sperlinge sind es, die die aus >>>> Guf heruntergerufenen Seelen sehen können, die in die neuen Empfangenen fahren. Vielleicht bringen sie die gestorbenen auch wieder hinauf. Das wäre ein Austausch, der ohne Erlöser auskommt. Lanmeister: „Es gibt in der See keine Seele. Sondern sie ist sie.“

Abendessen. Erneut ein guter Tag.

*

2 thoughts on “Der Schlüpfer im Nichtwind: Nave onirica, amerina (2). PP213, 20. August 2014: Mittwoch. Am Abend Mah Jongg und die Seelen von Guf: Spatzen.

  1. zigarren zwar sind die meisten Kuba-flüchtlinge in Florida gelandet, aber einige verschlug es doch auch nach Jamaica, möglicherweise auch nach Port Antonio, wohin es meinen gewährsmann verschlagen hatte, als er sich durch die Karibik las und diese drei zigarren (bauchbinde mit der aufschrift Bauzá) bei sich hatte, als er wieder auftauchte und – selbst ein nichtraucher – mich fragte, ob ich… klar! dann verschwand er wieder, und die schlingpflanzen vor seiner wohnung bedeckten schon die fenster der vorderfront, so daß ich dachte: was für ein dornröschen! inzwischen ist er ab und zu wieder aufgetaucht, und auch die fenster sind wieder frei, hinter denen allerdings nie ein licht zu sehen ist. aber das sind so lokale geschichtchen. in Port Antonio starb 2011 der Jamaikaner >> Peter Paul Zahl, den man – erfolglos – aus der bundesrepublik hatte >> ausbürgern wollen. so viel zu zigarren und jamaika und schlingpflanzen.

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