Berliner Festspiele: Musikfest 2014. Nachgetragene Kommentare zu großer und weniger großer Neuer Musik. Peter Eötvös, Aribert Reimann, Wolfgang Rihm, Galina Ustwolskaja. Und einer mit „W“.

Es gibt zwei bedeutende Musikfestivals in Berlin, mit den Festtagen der Staatsoper zweieinachtel; bedeutend deswegen, weil man sich während erstens >>>> der Märzmusik sehr schnell und unkompliziert einen guten Überblick über gegenwärtige Tendenzen der musikästhetischen Entwicklung verschaffen kann. Dazu kommt noch >>>> das Berliner Jazzfest. Allerdings muß man für alles das ein Rentier sein, oder eine Rentière. Denn man braucht sehr viel Zeit, um festivalgemäß ein Konzert nach dem anderen zu hören; vollständig verarbeiten kann das imgrunde ohnedies nur, wessen Ohr schon darin ist. Das gilt für solche Ereignisse generell. Indessen ist die sozusagen Herbstmusik eben zweitens dieses >>>> Musikfest Berlin, das sich neben dem „klassischen“ Reißerrepertoire von Spätklassik bis Spätromantik, und zwar fünfmal rauf und runter, auch Stücken der Moderne öffnet, sofern sie sich bereits etabliert, es also „geschafft“ haben. Das ist aus anderem Grund interessant als die nach wie vor einem wenn auch lockeren Begriff von Avantgarde verschriebene Märzmusik. Denn deutlich spiegelt es gesellschaftliche Prozesse. Wenn ich an anderer Stelle schrieb, Musik sei die Sprache der Seele, berühre also die Anthropologie, läßt sich das mit der Herbstmusik spürbar belegen. Etwa wenn bei des 1973 geborenen Jörg Widmanns Stücken, typischerweise vorgeführt von einem US-amerikanischen Orchester, die Philharmonie beinahe voll ist und dann auch noch gejubelt wird.
Zwar insgesamt verzichtet erfolgreiche Neue Musik auf strenge Atonalität. Das ist einerseits befreiend, weil die ziemlich furchterregenden Dogmen der Darmstädter Schule weggefallen sind, andererseits steht nun jeglichem sich als irgendwie sinfonisch ausgebendem Kitsch ein Portal nach dem anderen offen.
Während Komponisten wie Peter Eötvös und Wolfgang Rihm, beide sind auch schon älter, überaus vorsichtig in die Neue Tonalität hineingetreten sind, gewissermaßen mit Skepsis, aber durchaus nicht ohne spürbare Lust, hat sich Widmann Tennisschuhe angezogen, weil er wohl meint, die sänken >>>> in den Schlamm nicht so ein. Wobei er sich, um zu wirken, obendrein leiht, was er braucht. Es sind nämlich nicht seine eigenen Schuhe, die er da trägt. Sie hatten sogar mit Tennis ursprünglich gar nichts zu tun. Aber was soll‘s? Man nimmt, Lied für Orchester von 2003/9, ein bißchen Mahler Zehn in der Cooke-Komplettierung (Barshais kennt er wahrscheinlich nicht), guckt für Flûte en suite von 2011 bei den Impressionisten nach, aber auch bei Richard Strauss, für Con brio von 2008/13 wiederum besonders bei Ravel (La Valse), und schließlich greift man beherzt nach einem bisserl Nibelungenring. Dann tonsetzt man’s zusammen.
Perfekt, das muß man sagen.
Und also rodelt man gemeinsam mit dem Publikum mitten hinein in den Kitsch. Da sind dann, wie bei Bruckner, alle Herzen offen, ohne allerdings seinen lieben Gott. An den glaubt ja eh keiner mehr. Und wenn einst von „wahrer Musik“ gesprochen worden ist, ist das erst recht von gestern. Die Mauer ist gefallen, da sind wir völlig offen. Und weil Leute, die Abos für Konzerte haben, großen Hunger auf noch größere Gefühle so lieben, die sie indessen nicht verpflichten, gibt man sie ihnen freien Herzens. Man würde für Applaus und also volle Kassen auch Wencke Myrrhe singen lassen. Wenn sie es denn noch könnte. Schade eigentlich. Das hätte der Sinfonik noch mal andere Schichten erschlossen. – Nein, ich glaube nicht, daß Widmann es böse meint. Wahrscheinlich ist er nicht einmal betriebspfiffig. Was es aber natürlich noch schlimmer machte.
Das Problem ist, daß es sich bei seiner Musik – jedenfalls den vier Stücken, die ich hörte – um replikantes Entertainment handelt, Musik für Replikanten. Meine Begleiterin, nach tatsächlich auch ihrer ersten wirklichen Rührung, während ich mit geballten Fäusten dasaß, brachte es schließlich auf den Punkt. „Imitierte Gefühle“, sagte sie.
Tatsächlich ist der Bezug auf Mahler und immer wieder Mahler, wie wenn ein heutiger Dichter von Kafka besetzt ist, oder auf dem Theater von Beckett. Man kann kein zweites Endspiel schreiben.
Mahlers Musik ist fast immer Abschied. Er hatte das mährische Volkstum in sich. Soldatenklänge versprachen sogar noch Erlösung. Doch damit war es vorbei. Er wußte das. Auch mit Lehar war es vorbei (Almschis und Gustls Lieblingwalzer, Sinfonie Nr. 7). Mahler selbst, kompositorisch, zerschlägt es, weil es keinen Bestand mehr hat. Das kam dann schließlich auch alles. Erster Weltkrieg. Zweiter Weltkrieg, Hiroshima und Nagasaki. Koloniale Befreiungskriege. Koreakrieg, Vietnamkrieg. Die Golfkriege. Die Terrorismuskriege. Die übrigens weiter anhalten. Tschetschenien ebenfalls. Wurscht, denkt der Herr Widmann dazu. Sofern er denkt. Und erinnert sich an die Süße, mit der sich Mahler an eine Süße erinnerte, die zu seiner Zeit wenigstens noch war. Ach Sirup der Verluste!
Nein, es ist gegen, sagen wir, Erinnerungsmusik, nichts einzuwenden, auch nicht gegen tonale. Aber man sollte schon selbst gekannt haben, was man da betrauert. Nicht nur vom Sagenhören. Widmanns süße Traurigkeiten sind alle aus mindestens achtzehnter Hand, derart abgegriffen schon.
Am lautesten klatschten dann die, die am replikantesten aussahen. Junge Rechte, hätt’ ich mal gesagt. Direkt vor mir, sehen Sie sie? Pomadetes Paar in Feinzwirn, sagen wir, ungefähr zehn pro Monat, also in Tausend. Seien wir freundlich und sagen wir fünf. Aber dafür jeder. ‘s ist ja auch wahr, daß man sich freut, wenn man Anspielungen sogar in der Musik versteht. Nur müssen sie natürlich genügend prall dazu sein. Das hat der Herr Widmann voll kapiert. Um es deutlich zu machen, was ich meine: Er kann nichts dafür, sondern ist dahin sozialisiert worden. Er mag einfach den Konsens. Sonst würde er, so als Außenseiter, von früh bis spätnachts weinen. Oder an den Nägeln knabbern.
Musikalisch betrachtet, ist Widmann deshalb vor allem gesellschaftspolitisches Symptom. Mit der Tonalität hat das gar nichts zu tun. Ich kann nur immer wieder auf >>>> Allan Pettersson verweisen, der nach wie vor auf unseren Podien quasi nicht vorkommt. Statt dessen dieser, verzeihen Sie, überzuckerte Schlick.
†††

Nun aber:
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Die Tendenz aber, das stimmt schon, geht insgesamt, sofern sie akzeptiert wird, in die, sagen wir, Mittonalität. Daran ist mehr Wahres, was Nötiges meint, als Adorno zugelassen und >>>> Heinz-Klaus Metzger sich jemals hätte vorstellen können.
Die Postmoderne, die einerseits Symptome wie Widmann hervorgebracht hat, hat andrerseits den Eisernen Vorhang zwischen Publikum und Neuer Musik niedergerissen. Um so wichtiger ist es, daß nicht nur die Widmanns in die von den Diktaturen nun freien Länder hineinströmen wie die Tausende Immobilien-Investoren und die sich neue Märkte nicht etwa erschließenden, sondern jeden einheimischen Konkurrenten wegkaufenden Multis. Sondern auch Komponisten von wirklichem Rang. Etwa Peter Eötvös, der aus solch einem dikaturgeschüttelten Land auch stammt und also weiß, was er tut. >>>> Sein zweites, nicht unironisch DoReMi betiteltes Violinkonzert ist ein Prachtbeispiel für das, was nach der Postmoderne wieder möglich ist: zugleich hinreißende, leidenschaftliche Musik zu schreiben, die dennoch die Moderne nicht verrät. Dabei greift er, wie sein berühmter Landsmann Bartók tat, seinerseits auf Volksmusik zurück, doch ohne ihren Verlust zu betrauern. Vielmehr gibt er ihr einen ganz eigenen Eötvös-Klang, überführt sie als eine eben nicht gestorbene, um die er jammert, in die Gegenwart. Daß ihm dazu mit Patricia Kopatchinskaja nicht nur eine begnadete Geigerin zur Seite stand, sondern zugleich eine quirlige Clownin, war ein aber ganz gewiß nicht „zufälliger“ Umstand. Tatsächlich spielt sie ihren Part, was meint: nicht nur auf der Geige, sondern in vorgebeugten, manchmal ruppig-frechen Bewegungen, die das ohnedies temporeiche Geschehen noch anheizen. Das ging bis in Blicke, die sich Eötvös und seine Koboldin zuwarfen, die sie aber auch ins Orchester schmiß. Man kann sagen, daß sie ihre Geige dabei zückte. So daß das stille Duo mit Máté Szücs’ Viola, das dieses Konzert fast abschloß, von ungeheurer, ja, Rührkraft war. Zumal es mit einem in seiner Kürze enorm eleganten Arpeggio vom Orchester abgenommen wird. Daß Geige und Bratsche sich nachher umarmten, konnte gar nicht anders sein. Ich meine die beiden Menschen. Sie hatten es doch vorher schon getan. Das galt nun dem Publikum nicht, nur den zweien.
Es ist dies ohnehin ein Geheimnis aller Kunst: daß, wenn sie geschieht, an die Rezipienten nicht gedacht wird. Gregor Lanmeister drückt das so aus: „Musik spielt ein Instrument nur für sich.” Sie will nicht gefallen. Gefällt sie dennoch, ist es freilich gut. Dann ist es sogar richtig gut.

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Daß Kopatchinskaja eine andere Seite als ihre innere Clowin hat, zeigte >>>> das Nachtkonzert, das aus Gründen unseres selbstgewollten DieEigeneSpracheVerlierens selbstverständlich „Late Night“ benannt worden war. Ich schlage deshalb vor, insgesamt zum Beispiel das Wort „geöffnet“ durch „open“ zu ersetzen. Die meisten unserer Bäckerein, die längst auch Backshops heißen, haben die Zeichen der Zeit verstanden. Ganz genau wir Widmann, der in denen auch seine ersten Brötchen kaufen war, Verzeihung, „Rolls“. Nein, das ist keine andere Diskussion.
Egal.
Während der Begriff „Event“ natürlich, und zwar in bester kritischer Tradition, seine Berechtigung hat. Anders als „Ereignis“ preist er ein Ereignis an, das von Unterhaltungsindustriellen auf den Mehrwert zugeschnitten, um ihn sich in die Taschen zu stecken. „Event“ kommt also als Vokabel zu „Ereignis“ hinzu. So wissen wir immer sofort, mit was wir es zu tun haben. Mithin bereichert es die deutsche, französische, meinethalben auch persische bzw. iranische Sprache, also das Farsi.
Egal, egal.
Konzentration.
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>>>> Wirkliche Konzentration.
Links auf dem Podium ein Sessel, rechts auf dem Podium ein Sessel. Halblinks, etwas nach hinten versetzt, der Flügel. Davor Kopatchinskajas Notenständer. Rechts zwischen Flügel und Sessel ein Tisch. Darauf Barockgeige und Gambe. Die warten noch ein wenig.
Die drei Musiker treten auf. Applaus aus der leider nicht sehr gefüllten großen Philharmonie. Der Raum ist falsch gewählt; man hätte nebenan den Kammermusiksaal nehmen sollen. Der hat überdies die berückendste Akustik sämtlicher Häuser, so weit ich sie kenne, der Welt. Aber auch dies: egal.
Laurence Dreyfus begibt sich in den rechten Sessel. Um zuzuhören. Auch das ist für den Musikalltag neu. Wir erleben eine intensive Inszenierung, indem jemand nur zuhört. Zuhört, wie die beiden anderen, die zuvorige Koboldin an der Geige und Markus Hinterhäuser am Klavier, >>>> Galina Ustwolskaja spielen, in ihrer metaphyischen Radikalität die Außenseiterin der zeitgenössischen russischen Musik. Wiewohl Schostakowitschs Meisterschülerin, hat es lange, sehr lange gedauert, bis sie Akzeptanz fand. Jetzt wird ihre erste Sonate für Violine und Klavier gespielt, ruhig, beharrend, drängend. Der Streit, ob tonal, ob seriell, ist völlig abgefallen: müßig weltlich.
Nach dem Stück wird geklatscht. Fast ärgerlich winkt Kopatchinskaja, Kobold nicht im entferntesten mehr, das weg. Man könnte von einem kleinen heiligen Ernst sprechen. Das Publikum kapiert aber nicht. Die Widmanns dieser Erde haben es ihm beigebracht, daß man auch nach Requien klatschen darf. – Ich habe einmal Bernstein erlebt, wie er, ohne sich umzuwenden, nur die Arme zur Seite streckte, mit den Handflächen nach hinten. Sofort erstarb der für eine Totenmesse tatsächlich unstatthafte Applaus. Schweigend, das war erschütternd, verließ der da schon vergleichsweise alte Dirigent das Podium. Und schweigend ging das ganze Orchester. Wir blieben wie vor den Kopf geschlagen zurück, tausend, zweitausend Leute. So ist das mit dem Tod.
Es gibt enorme Nähen zwischen Neuer, die das auch ist, und sehr alter Musik. Vielleicht, weil beide am Anfang von etwas stehen, das sie noch nicht kennen. Beide schauen deshalb voraus, nicht zurück. Da ähneln sich sogar Klänge und Phrasierungen. Als wären die Jahrhunderte zwischen ihnen gar nie geschehen.
Darauf legte dieser Abend die Hand. Und öffnete sie mit Barockgeige und Gambe, damit wir das spüren. Das Alleluia aus dem Winchester Tropareinem >>>> mittelalterlichen Gesangsbuch – ist eintausend Jahre alt. Sie schauern da nicht? Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Thomas Mann. Sie wissen schon. Wenn wir von unten draus hinaufschaun zu uns selbst. Öffnen Sie nur die Ohren!
Damit wir das aber können, begibt sich nunmehr Markus Hinterhäuser in den Sessel, aber den linken. Kopatchinskaja und Dreyfus nehmen ihre Instrumente von dem Tisch, auf dem die moderne Geige abgelegt wird, für nachher Ustwolskaja noch einmal.
Das Nachtkonzert dauert fast genau eine Stunde. Es war der zugleich schlichteste und, Herr Metzger, “wahrste” Abend dieser meiner fünf Konzerte. Und der schönste.
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Beschämend freilich der Besuch, also sein Mangel, beim Sonntagsmorgenkonzert. Dabei gehört auch Aribert Reimann, er war selbst da, nicht zu denjenigen Komponisten, die sich den metzgerschen und sonstig Darmstädter Adornismen jemals gebeugt haben. Allerdings soll nicht unerwähnt bleiben, daß Adorno und Metzger durchaus ihre ideologischen Streitigkeiten hatten; Ideologen waren sie beide gleichwohl. Ich hätte keinen von ihnen gerne als Bundeskanzler gehabt, nicht einmal als >>>> Bundespräsidenten. Da wären unsere Panzer noch schneller gerollt.
Ich mußte richtig schlucken, als ich in der viertelleeren Philharmonie saß. Immerhin ist Reimann nicht nur einer der auf den Openbühnen meistgespielten zeitgenössischen Komponisten, sondern auch als Liedkomponist berühmt. Dazu hat sicher nicht nur wenig Fischer-Dieskau beigetragen. Aber der ist jetzt ja auch tot. Wie fast schon gesagt, es kann auch Wencke Myrrhe singen, sagen wir Anna Netrebko. Die Leute finden’s toll.
Wie viele Egals stehen schon in dem Text?
Singen tat >>>> Reimanns Lieder auf Gedichte Edgar Allan Poes Laura Aikin; ihretwegen war ich besonders gespannt. Denn ich kenne sie noch aus meinen ersten Berliner Jahren. Da brachte sie das Kunststück fertig, aus der am wenigsten interessanten Figur des Rosenkavaliers die mir allernächste zu machen. Und zwar aufgrund eines einzigen Tones, der so hoch und rein von ihr gesungen wurde, unfaßbar rein und hoch, daß mir die Tränen in die Augen schossen. Nicht wegen der szenischen Semantik, sondern alleine seines Klanges halber. Niemand sonst, die und den ich jemals nachher gehört habe, hat das wieder zuwegegebracht.
Wir hatten kurz Kontakt. Sie ging dann nach Mailand.
Und war jetzt wieder da.
Gereift, fülliger auch. Nicht das Sophiechen mehr, dem >>>> die Marschallin von ihrem Mündchen das aufgeregte Plappern nimmt. Sondern Marschallin schon eigentlich selbst. Das wirkt auf die Stimme zurück. Dennoch, sie erreicht die Höhen noch immer. Aber sie sind fraulicher, vollweibhafter.
Dunkle Stücke auch, wie bei Poe zu erwarten. Die Streicher dräuen, es gibt keine wirkliche Melodik. Alles ist Ausdruck. Die Hände werden einem naß, ich wische sie ständig an den Hosenbeinen ab. Obendrüber ruft die Flöte, klagend, aber auch zum Licht. Ganz hoch die Piccoloflöte wie fast ein Tinnitus, haltend, haltend, eins in eins mit den Streichern: To the weak human eye unclosed. Und so wird von der Seele dies Land/nur durch verdunkelte Gläser erkannt.
Die Kontrabässe laufen gegen Ende des Liedes wie die Basis einer Chaconne durch. Warum singt der Mensch? fragt das Programmheft. Da ruft schon, exzellent aus dem Orchester der Deutschen Oper, das Horn.
Daß in der zweiten Konzerthälfte Brahms gespielt wurde, war eine Sünde.
Sowieso. Sie hatten es alle mit Brahms. Er mag kompositorisch ein Vorbild sein und zu seiner Zeit auch von, sagen wir, stabilisierender Bedeutung. Das nimmt der Ödnis seiner Themen aber nichts, von heute aus zurückgelauscht. Wie denn auch anders? Er ist nie in seinem Leben in einem Technoclub gewesen. – Ich habe mich bei jedem Brahms gelangweilt, da ich doch Reimann hören und Aikin zuhören durfte, und Eötvos und, kommt gleich noch, Rihm. Bei Widmann allerdings hätte ich ihn erlösend gefunden.

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Rihm.
Wolfgang Rihm.
Er saß in jedem Konzert mit drin. Schwer geworden ist er. Ein bißchen viel weniger, dachte ich, essen. – Seine Musik schlug mir aufs Lästermaul, und zwar gleich. Schon bei der „In-Schrift“ vor Eötvös. Nun aber erst, >>>> das Quintett für Bläser von 2003! Besonders José Vicente Castellós Horn hatte es mir angetan, übrigens auch bei dem zuvorgegangenen Wiedermalbrahms.
Rihms Quintett ist von ungemeiner Klugheit im Umgang mit romantischen Gesten und dem von ihnen evozierten Klangraum. Wie Dallapiccola, von dem Sie längst wissen, wie ich ihn liebe, erreicht Rihm unterdessen eine fast nicht mehr faßbare Schönheit.
Ich höre ihn seit Jahren, tat das schon in meinen Frankfurter Jahren, als er noch nicht der Beethoven der Gegenwart war. >>>> Stockhausen, dagegen, ist zum Beispiel der Wagner gewesen, und Hans Zender bleibt der Zelter. Nur daß man Rihm nicht vorhält, daß er taub sei und deshalb nicht mehr wisse, was er tue.
Um etwas zu begreifen, nein, ganz falsch, um zu fühlen, wie sinnvoll und sinnlich Rihm mit Traditionen umgeht, hören Sie sich nur einmal die ersten zehn Takte des Moderatos an. Da zitiert er, ohne es aber tatsächlich zu tun, eine Sekunden lang den Tristan-Akkord. Um aber nicht darauf herumzureiten wie Widmann, als seine eigene Idee, sondern es ist eine vorantreibende und ergänzende Klangwelt fern jeglicher Zitiererei. Die Brahmsnähe ist freilich hier klar: Das Primat gilt der kompositorischen Durcharbeitung, sowohl der Motivverschlingungen als auch, bisweilen besonders, der Rhythmik. Etwa in dem in seiner Kürze vielleicht nur Webern vergleichbaren dritten Satz, „Fetzen“. Es ist dies eben nicht nur „Fragment“.
Hatten wir auch mal, die Ideologisierung des Fagmentarischen.
Sondern eine vollständige Komposition innerhalb der Komposition. Und dann der „Valse lente“, wirklich ein Walzer! Sogar tanzen ließe sich nach dem, wenn auch langsam und, hätte Mahler das genannt, schattenhaft.
Das Cantabile singt übrigens wirklich.
Und tolles Orchester, nebenbei bemerkt, dieses Mahler Chamber Orchestra. So, nur so, stelle ich mir Globalisierung vor, als eine nämlich erfüllte.
Aus ihm kamen die fünf Musiker denn uch.
Dann aber alle zusammen.
Rihms Konzert für Horn und Orchester ist eine große durchgehende sinfonische Fantasie. Auch in ihr herrscht Sanglichkeit, insbesondere in dem Zusammenspiel mit der Harfe. Vom ersten Moment an ist zu spüren, daß hier keineswegs mehr „experimentiert“ wird, sondern die Musik generiert ihre eigene – dabei fast modern-romantische – Klassizität. Hier wird tatsächlich Zeit aufgenommen, etwa in an Freejazz erinnernden Passagen des quasi zweiten Satzes. Ich habe die Noten nicht hier, sonst würde ich nachsehen. Da es in dem etwas mehr als zwanzigminütigen Stück Sätze nicht eigentlich gibt, stammen die Zuordnungen, die ich zu leisten versuche, alleine aus dem Höreindruck. Wirklich interessant ist, daß es sich um erzählerischeMusik handelt. Aber die Erzählung findet allein im inneren Raum des Hörers statt. In jedem von uns. Doch unabdingbar, wenn man zuhört. So hat man tatsächlich, dachte ich, erstmals die Sinfonien Beethovens, später Schumanns und all der anderen gehört. Die wir heute immer nur, auch in den Originalfassungen, als ihre eigenen Zitate hören können. Ich meine, daß sie neu gewesen sind, jedenfalls in ihren Reifephasen. Der junge Beethoven klingt noch nach spätem Mozart. Mit der Dritten hört das auf. Der junge Wagner klang nach Weber, ohne „n“, ein bißchen auch der Holländer noch. Ab dem Rheingold klingt Wagner nur nach Wagner. Und so weiter.
Rihm klingt nach Rihm. Deshalb hat er die unterdessen Weltgeltung völlig zurecht. Wie Ligeti sie hatte, Stockhausen sie hatte; hingegen der gerühmte Boulez klingt immer noch nach Webern.
Es ist berauschend, wie Rihm in die Erzählung gefunden hat, das narrative Äquivalent der Melodie. Er faßt sie neu und setzt sie dadurch fort. Es war ein Jammer, daß ich nicht noch drei Tage später in die Uraufführung seines neuen Stückes gehen konnte. Karten hatte man für mich. Aber da war Elternabend. Und Kinder, wenn man sie hat, gehen vor. Denn es gilt für sie unbedingt: auf keinen Fall ein Thomas Mann sein. Völlig zurecht bringen sie einen später sonst um. Anstatt sich selbst.

Rihm kommt nach der Deutschen Erstaufführung
seines Hornkonzertes auf das Podium, um seinen
Hornisten, Stefan Dohr, zu umarmen.
Berliner Philharmonie, Kammermusiksaal.
14. September 2014.




Und insgesamt? Was für eine Stadt! Also Berlin. Denn zeitgleich zu dem Musikfest lief das >>>> Internationale Literaturfestival. Auch das war alles anderes als ein „Event“. Sondern ein Ereignis. Das ebenfalls, abgesehen von Ulrich Schreiber, den Berliner Festspielen mitzuverdanken ist. Aber man kann von ihm nicht absehn. Weshalb auch?
Also Berlin. Welche Stadt ist so reich? Wobei wir mit dem langen Winter zahlen müssen. Ich habe diesen Satz meiner Mutter immer gehaßt, aber alles hat seinen Preis


3 thoughts on “Berliner Festspiele: Musikfest 2014. Nachgetragene Kommentare zu großer und weniger großer Neuer Musik. Peter Eötvös, Aribert Reimann, Wolfgang Rihm, Galina Ustwolskaja. Und einer mit „W“.

  1. @ANH Danke für Ihren ausführlichen und sehr lesenswerten Festivalbericht! Ich selbst war nur bei besagtem Widmann-Abend, außerdem bei Haas` “Concerto grosso No.1” und den Horntrios von Brahms/Ligeti (beides überaus lohnenswerte Konzerte übrigens). In puncto Widmann haben Sie mir einige wertvolle Gedankenstöße geliefert, wiewohl manchen Ihrer Ausführungen eigentlich entschieden widersprochen werden müsste. Etwa gilt das Cleveland Orchestra gemeinhin als das “europäischste” unter den amerikanischen Spitzenorchester und verfügte (mit Ausnahme von Maazel) in den letzten hundert Jahren auch ausschließlich über europäische Chefdirigenten. Zumal Sie in Ihrem Amerikanismus-Vorwurf Welser-Möst verschweigen. Und wenn man mit Pomade und Feinzwirn (was immer das ist) heutzutage schon als junger Rechter gilt, dann ist die Neue Rechte wohl unlängst in der Mitte der Gesellschaft angekommen bzw. kurz davor, ihre linken Ränder zu infiltrieren. Aber was hat das mit Widmann zu tun? Dessen Ästhetik erinnert mich in erster Linie an die seinerzeit unter musikideologischen Aspekten äußerst gewagten kammermusikalischen Konzeptionen George Rochbergs, der Ihnen vielleicht ein Begriff ist. Ich bilde mir sogar ein, dass zwischen Widmanns zweitem Streichquartett und dem Kopfsatz aus Rochbergs berühmtem dritten gewisse thematische Ähnlichkeiten bestehen – vielleicht wollen Sie das einmal nachhören. Auch die Polystilistik etwa der „Flûte en suite“ gemahnt deutlich an den musikalischen Eklektizismus des Amerikaners. Gleichwohl existieren von Widmann auch vollständig atonale Kompositionen, wie die 5 Bruchstücke für Klavier und Klarinette, die „Elegie“ für Klarinette und Orchester oder (wenn ich mich recht entsinne) auch dieses eigentlich wirklich wunderbare Stück für Glasharmonika. Hier ließe sich vermutlich weniger leichtfertig von „imitierten Gefühlen“ sprechen, wenngleich auch diese Werke von gewissen „populistischen“ Techniken Gebrauch machen, die sich aber im Grunde bei Rihm und Konsorten genauso finden.
    Und ja, ich möchte nicht unverschämt erscheinen, aber diese kleine Fehlleistung sollte dann doch korrigiert werden: Beim Winchester Tropar handelt es sich um ein mittelalterliches Gesangbuch, eben ein Tropar, das aus der Stadt Winchester stammt, und nicht etwa um einen Komponisten, wie man anhand ihrer missverständlichen Genitiv-Formulierung vermuten könnte.

    1. @Schaakej ad Widmann, zur Erwiderung. Vorweg, wo Sie rechthaben:
      – “Tropar” als Gesangbuch wußte ich nicht; auf dem Programmzettel ist “Winchester Tropar” in genau gleicher Reihe wie die dort genannten Komponisten aufgeführt; weniger mißverständlich wäre etwa “Anonymos, Winchester Tropar” gewesen.
      dann ist die Neue Rechte wohl unlängst in der Mitte der Gesellschaft angekommen bzw. kurz davor, ihre linken Ränder zu infiltrieren: Sofern Sie unter “Neue Rechte” Replikanten verstehen, entspricht Ihr Satz meiner Meinung.

      Nun zur, eben, Erwiderung:
      – Welster-Möst ist nicht der einzige Dirigent, den ich nicht nannte; eigentlich habe ich gar keinen genannt, auch nicht den wunderbar geschmeidigen Harding. Aber Ihr Instinkt spürt etwas Richtiges: Ich mochte Welser-Möst nicht. Nur kann ich nicht genau bestimmen, weshalb nicht; deshalb schrieb ich über keinen der Dirigenten, eben, um nicht allzu ungerecht zu sein. (Auch Maazel, übrigens, habe ich nie sehr gemocht, aus mir ebenfalls unbestimmbaren Gründen; sie mögen etwas mit der Erscheinung mancher Menschen zu tun haben). Ob etwas nun aber als europäisch gilt, muß mich nicht sehr interessieren. Ich hätte das Adjektiv, ebenfalls instinktiv, auf Soltis Chicagoer angewendet, wenn überhaupt, auf Bernsteins New Yorker wohl ebenfalls, die, so weit ich weiß, eine Gründung für Gustav Mahler gewesen sind, im Wortsinn “ursprünglich”. Und mein “Amerikanismus”-Vorwurf ist, wenn er durchklingt, ein US-Amerikanismus-Vorwurf. Ich halte diese Unterscheidung für wesentlich, auch wenn sie immer noch nicht allgemein getroffen wird. Sie unterschlägt “gut” sprachimperialistisch Canada, vor allem aber Mexiko. Vergessen Sie nicht, daß es in Nordamerika einen geradezu limeshaften Zaun gibt, an dem auch schon mal, wie an unserer Mauer einst, geschossen wird.
      – George Rochberg kenne ich nicht. Da werde ich mich kundig machen. Sofern >>>> wikipedia recht hat, wird er mich wahrscheinlich nicht sehr interessieren. Aber ich mag mich irren. Jedenfalls hat meine Aversion gegen Widmann nichts mit tonalem Komponieren zu tun, auch nicht mit meinem in der Tat wirkenden Anti-US-Amerikanismus, der, wohlgemerkt, von der US-Politik und US-Kulturindustrie bewirkt ist und durchaus nicht von den generell US-Amerikanern, vor allem nicht generell US-Künsten. Dazu bin ich viel zu sehr vom Jazz geprägt, von US-amerkanischer Literatur (Poe, Faulkner, Nabokov, Pynchon usw.) und auch anderer US-Sinfonik, etwa dem nach wie vor grandiosen Cellokonzert Meyer Kupfermans, worin die E-Gitarre eine bedeutende Rolle spielt; im übrigen wären Lukas Foss, Morton Feldman und andere zu nennen.
      Es mag also sein, daß Widman mit den, schreiben Sie, “unter musikideologischen Aspekten” gewagten kammermusikalischen Konzeptionen George Rochbergs etwas zu tun hat, Kitsch, über weite Strecken, bleibt seine “Musik” dennoch. Und, ja, Eklektizismus – Sie selbst verwenden dieses Wort, das ich für meinen Teil, wenn ich es positiv meine, “Synkretismus” nenne; meine eigene literarische Arbeit hat damit sehr viel zu tun. Ich bin auch nur in meinen Mitzwanzigern ein Anhänger streng serieller Konzeptionen gewesen, Also es geht mir überhaupt nicht um die Frage Tonalität oder Atonalität; ich glaube sogar, daß die strenge Serialität die E-Musik an den Rand eines auch nur irgend noch relevanten Wahrgenommenwerdens gebracht hat. Indem dadurch verhindert wurde, daß die Menschen zu hören weiterlernten, hat sie dem Pop imgrunde den Boden mitbereitet. Adorno travestierend, möchte ich sagen, sie trägt eine negative Schuld an der Totalität der wirkenden Kunst- und Musik- und mittlerweise auch Literaturindustrie; das meint Europa fast ganz mit.
      – Widmanns Bruchstücke für Klavier und Klarinette, die „Elegie“ für Klarinette und Orchester usw. kenne ich nicht; deshalb kann ich dazu nichts sagen. Ich hörte aber einen ganzen Abend lang perfekt komponierten Widmann-Kitsch. Sein “Populismus” war da geradezu extremistisch restaurativ; dieses Wort im metternichschen Sinne. Es sind, anders als bei Rihm, eben nicht nur “Tendenzen”. – Wen übrigens meinen Sie mit “Konsorten”? Der Wortgebrauch irritiert mich stark; von zum Beispiel “Welser-Möst und Konsorten” würde ich niemals schreiben, auch schon deshalb nicht, weil genau diese Art nichtgenannter moralischer Aburteilung ziemlich schlimm-europäische Traditionen hat, etwa den Antisemitismus. Das Wort “Konsorten” braucht also ein Erklärung, um die ich Sie hiermit bitte. Daß ich auf so etwas allergisch reagiere, hat genau etwas mit dem Populismus zu tun. Anders als >>>> Petterssons in der Tat vorhandenes Pathos ist Widmanns radikal populistisch. Daher seine, lassen Sie es mich so sagen, Geschmacklosigkeit. Jedes Hollywood, auch Bollywood, läßt sich damit prima tunen.

      P.S.:
      Winchester Tropar korrigiere ich oben im Text – mit Link auf Ihre Entgegnung. Danke noch einmal für den Hinweis.

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