[ICE 598 Ffm-Berlin, 16 Uhr
Stehend zwischen Fulda und Eisenach, „Arbeiten auf der Strecke“]
Bereits mit fünfzehn Minuten Verspätung aus Frankfurt-main weg, punkten wir momenten Verspätung für Verspätung hinzu – imgrunde logisch bei sehr enger Verkehrstaktung. Mit Verspätung ging es indes heute früh schon los: mit selbst „verschuldet“ eigener, nachdem ich bis nach Mitternacht noch Texte durchgesehen hatte, mir zwei für heute früh „aufbewahrte“, mit deren einem nur ich dann auch rechtzeitig fertig wurde. Den zweiten besprach ich vormittags persönlich mit Matusa, der oben im Sprung Dritten von links, als die anderen meine Lektoratsanmerkungen in ihren jeweils eigenen Texten nachgingen – egal, ob sie sie nun annahmen oder nicht.
Wobei, pünktlich das Seminar begannen wir durchaus, doch wurden überdies unter Druck gesetzt, weil die Saarländer Truppe früher als geplant heimwärts aufbrechen mußte. Der Umstand „kostete“ uns eine gute halbe Stunde. Aber auch das ist logisch, weil wir in unseren Kursen nicht weniger eng getaktet als die Deutsche Bahn sind.
Es gehört zur Kunst der Referent:inn:en, die Teilnehmer:inn:en davon nichts spüren zu lassen. Wenn ihnen die Zeit kurz wird, dann, weil sie die Arbeit spannend finden, und nicht, weil sie unter Druck stehn.
Ich liebe diese Arbeit. Unabhängig von, sagen wir locker, „Lehrplänen“ wird indessen allein, wer aus dem Vollen schöpfen kann, möglichst kultur-, bzw. ethnieübergreifend. Klassische Frage heute morgen, mit der ich auch Phyllis Kiehl schon nervte: Weshalb ehren die Christen den Sonntag? Die meisten Menschen, besonders auch Christen, antworten falsch, nämlich mosaisch. Und weshalb die Moslems den Freitag? Das wissen die meisten ebenfalls nicht.
Es ist, gebe ich zu, eine Jesuitenfrage, was bedeutet, daß mir ein Jesuit vor Jahren ganz dieselbe Falle stellte; ich trat zwar nicht rein, aber stolperte doch.
Aufgeschlossenheit. Was mir bei diesen jungen Menschen vor allem begegnet, ist Aufgeschlossenheit, Neugier – vor allem aber eine berückende Zärtlichkeit untereinander; dazu noch viel, zuweilen sogar eine ungewöhnlich große körperliche Schönheit. Wenn ich, was ich seit neuestem tu, in die ebenfalls von mir eingeführten Schweigephasen Scelsis Aión einspiele, ist keinerlei Abwehr zu spüren, allenfalls Irritation, der aber eben diese, die Abwehr, nicht folgt, sondern der sofortige Versuch, das bislang nie Gehörte semantisch aufzuschlüsseln und es in die eigene Arbeit zu integrieren, von der ich immer will, daß sie mit Lust verbunden ist, auch und gerade ihr anstrengender Aspekt. Denn am Ende dieses Prozesses steht – Freiheit, persönliche, charakterliche, denkerische. Nicht fremdgeleitet sein, sondern alleine nach eigenem Gewissen handeln – dann für die „Fehler“ freilich selbst einstehen nicht nur können, sondern auch wollen.
Wer gut schreibt, der denkt auch gut, und, selbstverständlich, die. Ohne zu schreiben, k ö n n e n wir gar nicht denken, nur Befehlen gehorchen. Um aber gut zu schreiben, müssen wir um unsere Emotionen wissen und sie, dieses vor allem, gestalten können. Erst dann haben wir sie, nicht sie uns. Daß wiederum zu diesen unsere Verletzungen gehören, vermittelt jeder wahrhaftige Text. Das Wunder ist, wie ich meinen Teilnehmer:inne:n erzählte, daß, gelingt er, diese Verwundungen in die Gestalt der ästhetischen Schönheit finden: andere hören die Trauermusik, und sie macht sie glücklich. So nehmen wir dem Schmerz das Innerste und kehren es als Schönheit gegen ihn um – mag sein, nicht für uns oder für uns nur in den Phasen unserer Arbeit, doch für andere, viele andere, einige andere, vielleicht auch nur zwei oder drei andere. Wie viele es sind, darauf kommt es nicht an.
Als wir dann zusammenkamen, alle drei Gruppen, und jeweils drei junge Leute ihre Arbeiten quasi öffentlich vortrugen, war genau dies zu spüren. Bei Mohamads Prosa zog Phyllis hörbar die Luft zwischen ihre Zähne, und ein ganz Unbeteiligter, der als Gast zugegen war, erzählte, einige Male sei ihm eine Gänsehaut über die Arme gelaufen. Er, Mohamad, springt oben von allen am höchsten. Es gibt in seiner Arbeit – AN ALLE VERRÄTER ist sie benannt – die folgenden ungeheuren Sätze:
Während ich euch diesen Brief schreibe, verstecke ich mich hinter meiner Brille und versuche, die Stürme in meinen Augen nicht zu zeigen. (…) Opa, Cousin und alle anderen Verräter, ich vermisse euch wie eine Mutter ihre Kinder vermisst, die sie seit Jahren nicht gesehen.
Und Lan-Anh erzählt uns leise-intensiv von
der Maske, der ich jeden Tag zu entkommen versuche (…), da ich diese Maske nicht nur für mich, sondern auch für Dich, Ihn, Uns, Sie, für euch alle trage, um euch meine vermeintliche Wahrheit zu präsentieren. Inmitten aller Geschehnisse stehe ich im Rausch meiner selbst.
Phyllis, in ihrer kleinen Rede danach, nannte es eine Ehre, für diese jungen Leute, und mit ihnen, gearbeitet zu haben. Das ist es in der Tat, nämlich vor allem, weil sie uns ihr Vertrauen schenken, obwohl viele Belange, die wir in unserer Arbeit berühren (Dichtung, immer, deckt auf), hochpersönliche sind und bisweilen mit einem Schmerz behaftet, den wir auch vor uns selbst nicht gerne, doch quasi aus Notwehr verleugnen – in der verständlichen, doch falschen Annahme, er sei dann verschwunden. Bei diesen jungen Menschen kommt oft der Schmerz über den Verlust von Heimat, Vertrauten, nicht selten den Eltern und Geschwistern, ja Geschwisterchen hinzu und einer – je der eignen – ganzen Kultur. Zu den inneren Nöten und Lüsten, die jede und jeder andere junge Erwachsene ohnedies hat, auch ohne einen Migrationshintergrund.
Nicht seltsam, nein, sondern bezeichnend, daß ich es immer wieder erlebte, wie Hindernisse, die wir schaffend überstanden, die Sensibilität von Menschen eher fördern, als daß sie sie abschleifen würden. Abgeschliffen werden wir von Rahmen, Regulationen und ununterbrochenem Gleichmaß, ob’s nun ein glückliches oder ob ohne Glück ist. Persönlichkeit braucht Wellen, Wogen, Gischt. Und dann das Türkis eines ruhenden Meeres, durch das der dunkle Grund sich diesmal lächelnd nur ahnt:
„Ach“, sagte er zu sich selbst, „erscheinen uns denn eben die schönsten Farben nur auf dunklem Grunde? Und müssen Tropfen fallen, wenn wir entzückt werden sollen?“
Goethe, Wilhelm Meister
Jetzt indessen nachhause und an meinen Schreibtisch wieder, an die letzten Thetisfahnen, an den Familienroman der Contessa, auch an die neuen Gedichte, die am Ende dieses Monats meiner Lektorin vorliegen sollten. Wobei es noch einmal – ein letztes Mal in diesem Jahr – mit START weitergehen wird: in Halberstadt bereits am nächsten Wochenende.
Wir haben, liebste Freundin, unterdessen eine Verspätung von knapp einer Stunde eingefahren. Es schert mich nicht. Ich sitze hier, denke, träume, habe manch ein Gesicht, manch ein Lächeln vor Augen, auch mal die Rundung einer Schulter und gleich zweimal zwei Reihen blitzendster Zähne: „Es schadet nichts, wenn ihr von Zeit zu Zeit mit euren Händen mal den Boden berührt“, sagte ich meinen Teilnehmer:inne:n. „Es schadet nicht nur nicht, sondern es ist wichtig.“ Und also tat ich es. Der Geist dagegen ist billig zu haben; für ihn braucht es nichts als das bißchen Intelligenz, das Lan-Anh in ihrer kleinen, oben zitierten Prosa ‚Rationalität‘ genannt und ganz zurecht mit Entfremdung konnotiert hat.
Ihr ANH,
den sein schweres Winterschuhwerk heut leider sehr am Boden hielt – und dennoch sprang er m i t:
[Geschrieben bis zum Halt in Leipzig,
18.04 Uhr
Ach ja, und heute folgte auf einen letzten Schnee ein Frühling.
Er ließ uns bereits ohne Mantel in der Sonne sitzen.
Mehr braucht’s nicht für dieses Arbeitsjournales Titel.]
Für Sie, lieber Autor, wäre es wohl eher nicht spannend, aber ach!, wie sehr wünsche ich es mir: ein Schreibseminar fürs dritte Lebensalter.
Liebe Frau Strasser,
weshalb nicht? Phyllis Kiehl gibt auch für andere „Zielgruppen“ solche Seminare; indes hängt so etwas meist von Auftraggebern ab, die alleine kosten- aber auch organisationshalber in aller Regel Stiftungen sind. Fänden sich allerdings genügend private Teilnehmer, wäre auch für mich gegen eines in privatem Rahmen überhaupt nichts einzuwenden. Für nicht-Jugendliche führt auch die Schwäbische Akademie Irsee, die über geeignete sowohl Seminarräume als auch Zimmer zur Unterbringung verfügt, einmal jährlich solche Seminare durch, zu denen als Referent:in stets eine Autorin oder ein Autor engagiert werden. Auch ich habe da schon gelehrt und seinerzeit >>>> dort auch eine Reihe von Arbeitsjournalen geschrieben. Direkt für die Teilnehmer:innen hatte ich zudem >>>> einen gesonderten Blog angelegt. Dennoch hat wohl meine, sagen wir, „Art“ einigen Damen nicht sehr gefallen.
Lieber Autor,
danke für Ihre Erläuterungen, ich bleibe mal dran …
Was kostet ein dreitägiges Seminar abgesehen von Reise- und Hotelkosten, üblicherweise so ungefähr ? Ich habe nämlich überhaupt keine Vorstellung.
Dankeschön, liebe Tulpi!
Hallo Herr Herbst,
Ich wolle Ihnen für das tolle Seminar danken und das, was ich alles bei Ihnen lernen konnte in der kurzen Zeit. Bleiben Sie so, wie Sie sind, denn Ihre motivierende Art ist ansteckend!
Zum Schluss noch ein Gedankenanstoß für die restlichen Nichtleser: „Lebst du dein Leben oder atmest du bloß?“
Beste Grüße aus Frankfurt
Liebe Sanaa,
wie schön, von Ihnen/Dir zu hören, lächelt. Unterdessen fand ja bereits das nächste Seminar statt, das für mich letzte in diesem Jahr, jedenfalls soweit ich sehen kann. Da haben wir ein ganz neues Experiment gestartet, das – ohne daß ich es beabsichtigt häte, es ergab sich einfach – von den Bildern fortführte. Vielleicht haben Sie das Ergebnis eben schon gesehen. (In diesem Fall war es unproblematisch, auch mal einen der von den Teilnehmer:inn:en verfaßten Texte einzustellen, weil er eben einer der gesamten Gruppe ist. Ansonsten entschiede ich mich für ein oder zwei Ergebnise, und dann sind möglicherweise die nicht „Erwählten“ verletzt.)
Übrigens, nebenbei, ist es ja schon viel, wenn die Menschen tatsächlich atmen. Lacht.