Die mentale Vorbereitung darauf, den sicheren Parkplatz aufzugeben und doch noch zu Peter Stein (dort kann ich mehr mit ihm “anfangen”… so spricht er hier nicht) oder zu dem Ort, der für viele hier der Ort ist, der Peter Stein ist bzw. umgekehrt (im Unterschied zu den Hiesigen bei mir immerhin zwei Erinnerungen an sein Theater: noch immer im Elternhaus zu später Stunde mit dem schnarchenden Vater auf dem Sessel auf NDR3 ‘Torquato Tasso’ mit einem sich seltsam gebärdenden Bruno Ganz, der den vielleicht 18jährigen damals durchaus faszinierte, dieses Anderssein; dann im deutschen Herbst 77 Olympiastadion Berlin “Wie ich unter die Deutschen kam”, mehr nicht… und natürlich die vielen Besprechungen seiner Schaubühne-Aufführungen am Lehniner Platz; nur einmal war ich in der Schaubühne als “Heinzelmännchen”, so hieß die Arbeitsvermittlung für Studenten an der FU: irgendwas von hierhin nach dorthin tragen) zu fahren, brauchte einen ganzen Nachmittag und war tatsächlich diktiert von einem neunmalklugen Häkchen hinter dem üblichen “Kenn’ ich, weiß ich, war ich schon”. Es war nichts anderes. Ich kam, als er vor ziemlich zahlreichem Publikum ein bißchen über seine Bleibe, ein “Borgo” (also Komplex mit mehreren Gebäuden, aber eben kein Dorf), erzählte, errichtet zu Beginn des 18. Jahrhunderts von einem Archileggi, da horchte ich natürlich auf, die Gasse, in der ich lebe, trägt gerade diesen Namen.
Als alles vorbei, stand er allein an einem Tisch, und ich fragte ihn danach. Er wußte sonst nichts weiter, er verwies mich auf eine Inschrift gegenüber dem freien Wiesenplatz. Worauf er mich überdies hinwies, nämlich, hier sei alles mal Kirchenstaat gewesen, war mir nichts Neues.
Was ich mich aber erst seit heute nachmittag frage: Warum habe ich ihn auf italienisch angesprochen? Sicher lag’s auch daran, daß die anderen Male, wo ich es auf deutsch versuchte, einfach von ihm abglitten. Wahrscheinlich wollte ich diesen neutralen Boden. Er wird mir fremd bleiben. Wie auch das ganze Drumherum der hiesigen “Verehrung” mich alles andere als anheimelt, die nichts als den Namen meint. Alt sei er, hörte ich ihn einmal sagen auf italienisch zu einer ihn begleitenden Frau, als er auf einem belebten Rathausplatz zufällig in meine Hörnähe gekommen war.
Vor dem Film rezitierte seine Frau zwei Leopardi-Gedichte, u.a. L’infinito. Und Film ab: Big Sick. Ein paar Lacher gelegentlich, auch meinerseits, die Abseitsposition genossen auf einem verwaisten Stuhl außerhalb der sonst aufgereiht sitzenden Zuschauer an einer Mauerecke, um die der Wind fächelte, gelegentliche Blicke zum Mond, der langsam nach Südwesten zog mit einem Riesenhalo über einer langgezogenen Wolkentusche. Aber ich mußte mich dafür schon umdrehen. Am Ende überraschend viele bekannte Gesichter.
Aber was mich nicht wärmt, das macht mich kalt. “Outlandish”, ich glaub’, zum ersten Mal gesehen dieses Wort bei Sylvia Plath. Und die Frage, die sich im Anschluß an das Anrede-”Problem” ebenfalls am Nachmittag stellte, ob es möglich sei, in sich selbst sich selbst zum Ausländer zu werden, erübrigt sich im “Infinito” (hinter dem Link verbirgt sich keine Übersetzung!).
Denn wenn gleichzeitig Leopardi heimelt und auch Schulze: was will man mehr? Gemeint ist Ernst Schulze, ooch so ein Jungverstorbener, über dessen Grab sogar einer der britisch-hannoverschen Könige in Personalunion (heißt das so?) mit Namen Georg bzw. George seine Tränen vergoß, dessen Tagebücher und Briefe der Wallstein-Verlag herausgebracht und die Süddeutsche in ihre Empfehlungen für die Sommerlektüre aufgenommen hat: “Schulze lebt!”
Nu ja, wenn man schon so heißt. Ich ja nicht oder eben doch nur mittelbar. Aber immerhin.
So trieb der rasche Wahn ihn immer weiter fort,
Indeß sich wilder stets der öde Pfad verwirrte;
Wie oft ein Wanderer, der sich im Hain verirrte,
Dem leichten Flämmchen folgt, das täuschend hier und dort
In dunkler Ferne hüpft.
Ernst Schulze, Cäcilie, X, 4 (Leipzig 1821, Bd. 2 der hier stehenden Ausgabe). Die Sache scheint ungeschickt gemacht, denn er verirrt sich in einem Hain, einer ziemlich begrenzten Bewaldung, vielleicht sollte es eher heißen “der öde Pfad verirrte” und “sich im Hain verwirrte”. Ansonsten sehr nordische Anklänge, ich fürchte Fouqué-Einfluß. Tatsächlich mal lesen? Hm. Die dunkle Ferne schenk’ ich ihm: I’ve seen the moon get red n’ redder and at the end a shooting star passed by. Jedenfalls so der Moment der Mondfinsternis neulich auf der Domterrasse.
Und dann im Dunkeln Feuerknechte, besorgt um Fleischspieße für die Taverna, dieser zweiwöchigen Massenverköstigung, deren Tische in diesem Jahr – wie schön für mich – auf dem Rathausplatz und nicht wie sonst unter meinen Fenstern stehen.