III, 416 – Zeckenwirtschaft

Heute morgen schwamm etwas Weißes im Teewasser, das ich zum Kochen aufgesetzt. Es hatte nicht die Konsistenz der sich vom Boden wieder mal absetzenden Kalkablagerungen (das Wasser hier ist sehr kalkhaltig), sondern hatte etwas Körperhaftes mir faserigen Auswucherungen an einem Ende. Meine sofortige Assoziation: eine Zecke. Die Dinger sind mir wohlbekannt vom Landleben. Regelmäßig mußten sie entgegen dem Uhrzeigersinn aus den Fellen der Haustiere mit der Pinzette herausgedreht werden.
Also diese idée fixe. Aber woher? Als Ziegelstein- und Pflastersteintreter klingt so etwas sehr unwahrscheinlich (Asphalt derzeit ein eher seltenes Thema, doch ebenso wenig geeignet, Zecken hervorzubringen). Vielleicht liegt es, wie es meine Mutter genannt hätte, an der “polnischen Wirtschaft” hier. Selbst aber von der sehr hohen Decke könnte nichts herabgefallen sein. Die Spinnweben sind vor drei Monaten entfernt worden, und Zecken haben mit Spinnweben sowieso nichts zu tun.
Sofort natürlich dachte ich an meinen Rücken, den wieder so eine Winternesselsucht plagt, wenngleich in einem geringeren Maß als sonst. Harlekinsmäntel (Egger)-Winterzeit, “Ballhörner, Tuten und ebenbildlich Blasen”. Fingernägel (unghie), nachts. Heute lange gesuchtes Wort: “unghiatura” : “Gehrung”. Gehrung der Gedanken mit der Zeckenvorstellung, damit’s orthogonal recht winkelig wird und: paßt, wackelt, hat Luft (Sprüche der Maurer, denen ich als Jungspund in den Ferien mal handlangerte).
Heute abend, weil ich Reis kochen wollte, holte ich das Relikt von morgens mit einem Teelöffel aus dem Abflußsieb wieder heraus. Es waren keine Kopffühler mehr zu sehen, erinnerte eher an ein Reiskorn. Und konnte somit Frieden mit meiner “polnischen Wirtschaft” machen: “Geringe Wohnung dagegen, wie dieses schlechte Zimmer, worin wir sind, ein wenig unordentlich ordentlich, ein wenig zigeunerhaft, ist für mich das Rechte”: Goethe zu Eckermann (für mich kämen seine Einschränkungen allerdings nicht in Frage (es müßte auf mich bezogen heißen: “dieses rechte Zimmer”, “unordentlich, ordentlich ein wenig”, “zigeunerhaft” ohne “ein wenig”), den ich mir derzeit happenweise antue. Und zurückschrecken bei jedem “Liebes Kind”, mit dem Goethe gegenüber ihm, Eckermann, anhebt. Entspricht fast der hiesigen, zumeist belehrenden Anrede: “figlio mio” bzw. “figlia mia”, um dann fortzufahren mit einem “ich sage dir”.
Das Gespräch mit Ninno, das eben das Schreiben unterbrach, in die Unfertigkeit mit einem “grazie, caro” entlassen (derzeit mit Taschenlampe, da keine Hofbeleuchtung vorhanden) in die Menschlichkeit, die ihm nachweht. Als Pfand die Damigiana. Kein Wind, Nachtfrost nur.
E sempre linguaggi, e sempre nuovi:

L’erba era fradicia, fittissima e passo-resistente, la facciata della casa pareva warp and shrink proprio nel terrore del loro avvento, e sul sottofondo dello sweeping fruscio del fiume, il cane di guardia scattò a latrare. [Das Gras war durchnäßt, sehr dicht und trittfest, die Fassade des Hauses warped and shrinked im Entsetzen vor ihrem Kommen, und sweeping im Hintergrund das Rauschen des Flusses, hub an der Wachhund zu bellen.]

Beppe Fenoglio, Il partigiano Johnny
Fast schon vergessen die Zecken.

III, 415 – L’urgenza della sera

3 thoughts on “III, 416 – Zeckenwirtschaft

  1. Ich habe hier vor ein paar Jahren (es mögen fünf sein an der Zahl), wie soll ich sagen? : – mitgemacht. Heute habe ich mich an diesen Blog erinnern müssen; denn in einem Gespräch über Literaten im Netz wurde ‘die Dschungel’ erwähnt. Am Abend dann rief ich die nämliche Seite auf. Ohne ein Wissen um die aktuellen Themen und Diskussionen in (oder auf) dieser PLATTFORM ist mir aufgefallen, dass Herbst, um den es hier geht und der hier schreibt, jetzt erfrischend resolut schreibt, als hätte er etwas abgeschuettelt, etwas hinter sich gebracht.

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