Wie eine Offenbarung klingenden Lichts

Kopatchinskaja-Petrenkos Violinkonzert von Schönberg der Berliner Philharmoniker des 9. März 2019


[Live gesehen und gehört in der
Digitalen Konzerthalle der Berliner Philharmonie]

 

 

 

 

Das, ja, beinahe Wunder dieses Abends war nicht, mit welcher Innigkeit und Leidenschaft Kirill Petrenko, designierter neuer Chef der Berliner Philharmoniker Pjotr Tschaikowskis ihm ausweislich nahe Fünfte dirigierte – sondern mehr, viel mehr noch, weil genau dieses Stück, nach des Komponisten Klavierkonzert in b-moll gerade auch für mich selbst, nachdem ich es ungefähr mit vierzehn zum ersten Mal gehört hatte, so prägend wurde, daß ich heute sagen muß, daß, wenn ich als Junge mich überhaupt für die Literatur entschieden hätte, es ohne diesen damals über Monate nahezu täglich und täglich mehrfach wiederholten, ja, Hörrausch ganz sicher a n d e r s getan hätte. Imgrunde wäre ich – a l s ich – ohne das gar nicht gewesen. Zur Qual fast aller mir damals Nahen, übrigens. Mein Zimmer vibrierte, w o g t e von dieser Musik; mehrfach pochte meine Mutter, deren Praxis gleich nebenan, gegen die Wände; es gab auch wütende Brüllereien. Aber ich surfte auf, tauchte in Tschaikowskis sinfonischer Musik, vor allem eben dieser, fast nur dieser, und wenn gesagt wird – auch Petrenko sagte es gestern im Interview -, Tschaikowsi habe ihr sein Verständnis von „Fatum“ eingeschrieben, so werde ich deshalb früh schon einem Bewußtsein von Tragik nicht innegewesen sein, nein, das wäre gewiß zu viel behauptet, doch es tief in meinem Innern besessen haben – Tragik nicht im landläufigen, sondern scharf-antiken Verständnis.
In späteren Jahren habe ich noch viele Aufnahmen dieser Sinfonie kennengelernt, teils auch in Konzerten erlebt, prägend blieb diese erste mir bekannte auf einer unter dem Labelnamen GLORIA billig gepreßten Scheibe der Electrola-Gesellschaft der später Sechziger Jahre: Artur Rodziński dirigiert das Phiharmonic Orchestra of London. Wobei seine Interpretation bereits viel früher aufgenommen worden sein muß, da er bereits 1958 gestorben war. So erklärt sich auch der damals mit fünf Mark für diese LP sehr niedrige Preis, der aber eben einem Jungen meines Alters vom Taschengeld erschwinglich war.
In meiner Schallplattensammlung trägt sie die Archivnummer „LP 5“ (von unterdessen knapp 1000 LPs – – „LP 1“ ist das b-moll-Konzert, Svjatoslav Richter, Berliner Phiharmoniker, Herbert von Karajan.)

Dies also war das Wunder des gestrigen Abends n i c h t, wiewohl es unterstrichen davon wird. Es bestand vielmehr darin, daß Kopatchinskajas, Petrenkos und der Berliner Philharmoniker Interpretation des mir bis da stets fremd gebliebenen Schönberg-Violinkonzerts alle persönliche Verbundenheit und Liebe zu der Tschaikowski-Sinfonie ü b e r s t r a h l t e, und dies, obwohl sie als sowieso Publikumsrenner den zweiten Teil des Abends füllte, also als Finale fungierte.
Es war nahezu unfaßbar, Freundin. Machen Sie sich bitte klar, daß das von der Geigerin selbst „rätselhaft“ genannte Konzert strikte 12-Ton-Musik ist, abgesehen von den nachfolgenden seriellen Exerzitien z.B. der Darmstädter Schule das ungefähr unbeliebtesteste, weil – gerade seiner mathematischen Strenge wegen – noch über hundert Jahre später fürs Gehör, sagen wir, schwergängigste akustische Erleben, dem sich die Musikenthusiasten weltweit ausgesetzt fühlten und fühlen.
Was aber gestern abend geschah, was sich erfüllte, war der pure, innerst ergreifende Wohlklang. So kannte ich es bislang entweder nur von Dallapiccola, aber auch da für Hörungeübte „schwergängig“ oft noch genug, oder aber von Alban Bergs Violinkonzert, dessen Erfassen und Erfolg, indessen, einerseits eine Legende beisprang und immer noch beispringt, nämlich der Titel „Dem Andenken eines Engels“ (also die Widmung für Manon); andererseits bürgt der das Stück beendende Bachchoral für die einem Publikum nötige Wiedererkennbarkeit und insofern zugeneigte Bereitschaft. (Übrigens kenne ich keine andere vergleichbar intensive – ja, Bekenntniseinspielung wie die Isaac Sterns mit den New York Philharmonic unter Leonard Bernstein aus dem Jahr 1962).
Schönbergs Konzert hingegen muß o h n e eine Geschichte auskommen, schon gar ohne eine solche.

Und doch! Wie es schon mit den ersten Takten losging! Welch ein Samt sich hier in den Konzertraum legte! Die Tongrenzen waren komplett weich, ja flüssig – so ineinander verfließend, daß ich einmal den freien Klangraum aus Karol Szymanowskis 1. Violinkonzert, nein, nicht heraushörte, sondern er schwebte fast schockierend „normal“ im Raum. Und wenn jemand hätte weiterhin von „Kopfmusik“ sprechen wollen, die von Kopatchinskaja aus ihrem Instrument hervorgestreichelten melodischen Seufzer hätten ihn Lügen oder der Grobheit gestraft: zärtliche, am Ohr die Wange streichende, gestreichelt zu werden bittende, manchmal fast rührend-kindliche Gesten. Wie das hören, ohne daß einem die Tränen kommen?  Völlig unmöglich! Und dennoch: ebenso völlig ohne Kitsch. Statt dessen immer wieder tappende, tapsende Volkstanzmotive der Zeit, gar nicht unähnlich Mahler, der auch präsent in anderen, sagen wir, Nostalgiegesten ist, dazu, verblüffend in ihrer Vielheit, melodische Inseln, wie wir sie von Allan Pettersson kennen – freilich hier knapper, Schönberg läßt, daß wir dauerhaft schwelgen, nicht zu. In diesem Konzert ist Wahrheit wie bei Walter Benjamin: sie schießt auf – hier glimmt sie oder schimmert – und ist schon vorbei. Aber allein wie die Flatterzungen der Bläser zu den bogengeschlagenen Saiten passen! Dann wieder Stellen, bei denen ich – fälschlich, doch verstehbar – geradezu von „klassisch“ sprechen wollte.

Ich war sprachlos, konnte nichts als hören.

Kurze Pause zwischen den Sätzen.

Da steigt ein wirklicher Trauergesang auf. Schon aber kehren die Volkstanzrhythmen des vorigen Satzes wieder. Dann erneut fast der Mahler tambourschlagender, in die Anfangsgesten des Stückes zurückführender Versprechen auf, märchenhaft, Erlösung. Du meine Seele! wie sich darunter die Klarinette schmiegt – Andreas Ottensamers, der später mehr als zurecht Sonderapplause bekam … Welch ein Ton! Und unversehens bricht über uns die gesamte emotionale Ladung herein – stärker, überwältigend, als später der gesamte Tschaikowski, er möge  mir verzeihen, zusammen – bevor eine zweite, sehr kurze Geigenkadenz erneut tapsend, tappend privat, nein intim wird, knapp danach vom Xylophon assistiert. Und dann dieser Übergang ins Tutti! Gleißende, gleißende, gleißende Flächen … Und der abrupte Schluß.

Wie?! Es soll schon vorbei sein? Es soll wirklich schon vorbei sein?

Es hätte geschehen müssen, wie Mengelberg Mahler IV einmal aufgeführt hat. Erster Teil des Konzertes: Mahler IV. PAUSE. Zweiter Teil des Konzertes: Mahler IV.

***

Geschah nicht. Es ist ein Jammer. Doch wo Gefahr, das Rettende auch: Sie werden, Freundin, das Konzert „nachhören“ können. Denn es wird in den nächsten Tagen im Archiv der Digitalen Konzerthalle aufgenommen worden sein. Wenn sich, deshalb, überhaupt je ein Abonnement wirklich gelohnt hat, dann >>>> dieses. Und was das Konzert-selbst noch einmal angeht: Daß die Wahl Kirill Petrenkos zum neuen Chef der Berliner Philharmoniker als Nachfolger Simon Rattles mehr als nur „richtig“ war, hat sich mit dieser gnadenlos schönen Schönberg-Interpretation unabweisbar bestätigt – als nämlich ein Glück, das Seligkeit verspricht.

Danke. Ich bin noch jetzt erfüllt.

ANH, 10.3.2019
Berlin

***

P.S.: Ich schneide normalerweise Konzerte mit, die ich bespreche, und höre sie danach noch vier- bis fünfmal an, um meine Rezension zu schreiben, schaue dazu auch in die Partituren (direkt „mitlesen“ hingegen tue ich nie, um nicht einen Filter zwischen mich und das Erleben zu schieben). Gestern versagte die Aufnahme leider, so daß ich auf die Notizen angewiesen bin, die ich mir während des Erlebens machte. Verfolgt man ein Konzert am Computer, sind diese leichter zu fertigen als in einem Konzertsaal, wo überdies Rücksicht auf die Nachbarn zu nehmen ist. Um dennoch, obwohl man nicht „wirklich“ dabei ist, mit Recht schreiben zu dürfen, bedarf es selbstverständlich einer Tonanlage, die es mit einem Konzertsaal (ungefähr) aufnehmen kann. Da meine Arbeitswohnung zugleich Tonstudio ist, ist diese Notwendigkeit erfüllt – ich gebe allerdings zu, zum Nachteil, doch vielleicht auch zum Vorteil meiner Nachbarn.
Eine weitere Notwendigkeit ist die Sensibilität und künstlerische Perfektion der an der Übertragung beteiligten Ton- und Bildingenieure, von denen sofort zu spüren ist, ob sie auch bei den Proben waren. Im Fall der Digitalen Konzerthalle ist diese Voraussetzung evident erfüllt und wird von den nachträglichen Bearbeitungen für das Archiv stets noch einmal mehr als nur bestätigt. Leider habe ich gestern nacht die Namen aufzuschreiben vergessen. Ich werde sie nachträglich nennen, sowie das Konzert im Archiv der DCH abrufbar ist.

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