Skandale: „… und werde sehr praktisch und gewieft sein.“ Lolita 3 (Nabokov lesen 5), zur Rezeption. Als Arbeitsjournal des Dienstags, den 19. November 2019.

[Arbeitswohnung, 7.15 Uhr
Sofa Gubaidulina: „Stimmen … verstummen“
Sinfonie in zwölf Sätzen (Mitschnitt der UA,1986)]

Mal abgesehen davon, daß ich dauernd auf die Zeit vergesse, Freitage für Donnerstage halte und erst um ein Viertel vor vier aufbreche, wenn ich um drei verabredet bin, komme ich langsam wieder klar, nehme meine Arbeit(en) wieder auf und sehe die Situation dennoch so schaurig, wie sie ist. Entsprechend schrieb Nabokov am 13. Juni 1951 an seinen – wie ihn sein Interpret und deutscher Herausgeber Dieter E. Zimmer nennt – Freund Wilson: „Ich bin es leid, meine Bücher in Stillschweigen gehüllt zu sehen wie Edelsteine in Watte. Die Briefe, die ich von Privatpersonen bekomme, stehen mit ihrer heftigen Begeisterung in einem nachgerade lächerlichen Mißverhältnis zu dem mangelhaften Interesse, das“ in meinem Fall n i c h t „meine begriffsstutzigen Verleger für meine Bücher aufbringen“, sondern der weitgehenden Ignoranz der Kritik und der meisten Vermittlungsinstitutionen für Literatur, kurz: der Betrieb. „Das allgemeine Ergebnis meiner stolzen und desinteressierten, ja abschätzigen Haltung gegenüber den fata meiner Bücher hat nicht dazu geführt, daß Heldenmut und Ehrlichkeit – auf lange Sicht – über Mittelmaß und Billigkeit die Oberhand gewonnen haben. Im Gegenteil – ich bin vollkommen in der dèche, stecke in elenden finanziellen Schwierigkeiten, sehe keinen Ausweg aus der akademischen Plackerei (zudem noch schlecht bezahlt) und so weiter. Der New Yorker hat die, wie ich finde, beste Erzählung, die ich je geschrieben habe, abgelehnt, und ich habe keine Hoffnung, daß die, an der ich gerade schreibe, von irgendeiner Zeitschrift angenommen wird. Von nun an jedoch je vais me trémousser und werde sehr praktisch und gewieft sein.“ Wobei letztres wohl ernster genommen werden sollte, als Zimmer meint, der mit einem „obwohl“ daran anschließt. Zwar stimmt es, daß Nabokov fürchten mußte, die heikle Lolita werde nun erst recht nicht gedruckt werden; er konnte aber gut vor Augen haben, was geschähe, druckte man sie eben d o c h. – Und das auch geschah. Wobei, daß er, der polyglotte russische Emigrant, über Frankreich handeln konnte, also ein Ausland, eines der – literarisch gesehen – Glücksfälle war, die seinen späten Ruhm erst möglich machten. Hätte er wie ich, als ein Deutscher in Deutschland. poetisch allein in seiner Sprache festgesessen, zumal in den heutigen Zeiten, er wäre ein vergessener Mann und das Wunderwerk seiner Bücher schon lange Makulatur; bestenfalls läge es in Antiquariaten auf Halde.
Wobei Zimmer schlüssigst herausstellt, daß der „Skandal“, der Nabokov mit nahezu einem Schlag zur Weltberühmtheit machte, auch nur in einer sehr kurzen, aber entscheidenden historischen Situation derart wirken konnte: „als im ganzen Westen das Sexualtabu zerfiel“. Mein „Skandal“ hingegen, der Verbotsprozeß gegen das nun wieder freigewordene >>>> Meere, fand zu ungünstigem Zeitpunkt statt, als nämlich die erreichte – oder angeblich erreichte und in der Werbung verdinglichte – Sexualität wieder gebunden werden, das heißt, das ihr inneliegende anarchistische Potential leitbar gemacht werden sollte und insgesamt der Moralismus neu erblühte. Genau deshalb, obwohl die angeblich strittigen „Stellen“ gar nicht Inhalt des Verfahrens waren (es waren vielmehr von mir aus Ungeschick kenntlich gelassene familiäre, eben private Gegebenheiten), schoß sich die halbe Presse bis hin zu Iris Radischs so grob sexualfeindlicher wie häßlicher Sottise auf sie ein, ich veröffentlichte „noch die intimste Analfalte“ der Geliebten, wobei es sich schon über diese Formulierung und das Unglück, das ihr inneliegt, streiten lassen nicht nur könnte, sondern müßte. Für mein Buch schrieben nur wenige, und das waren Literaturwissenschaftler, nicht etwa Kritiker, geschweige Kritikerinnen. Ebenso wenig wurde in den Blick genommen, daß der genau eine Woche dauernde, dann kam die einstweilige Verfügung, ziemlich große Verkaufserfolg des Buches namentlich durch Frauenzeitschriften ausgelöst wurde, die den Roman bis zu seinem Erscheinen nämlich ausgesprochen gefeatured hatten. Sie alle, sowie der Verbotsprozeß begann, ruderten sofort zurück. Denis Scheck, damals sogar der (nicht sehr gute) L e k t o r meines Buches, verstummte nahezu völlig. Es war, als hätte jeder Angst um seine Karriere bekommen – im Literaturbetrieb, nicht etwa in den poetologischen Wissenschaften. Anders als bei Nabokov haben sich in meinem Fall schon gar nicht Kolleginnen und Kollegen für das Buch verwendet, eher im Gegenteil. Der deutsche PEN sogar verweigerte mir Unterstützung, und zwar für lange Zeit – bis er von juristischer Seite zu einer Stellungnahme aufgefordert wurde. Bis heute überlege ich deshalb immer wieder, diesen „Verein“ zu verlassen.
Bei „Lolita“ war es anders. Hier lieferten sich namhafte Gegner und Fürsprecher G e f e c h t e, und zwar eben international. Schon daß das englischsprachige Buch in Paris erschienen war und sogar, obwohl wie eben deshalb, bei der nicht ganz seriösen Olympia Press — einem Verlag, der ein bißchen die Rolle spielte, die, da aber nur innerhalb des deutschen Sprachraums, heute Claudia Gehrkes Konkursbuchverlag innehat — hatte die quasi-Vorzensur schlichtweg unterlaufen, die in den Köpfen all der zuvor das Buch ablehnenden US-amerikanischen Verleger bereits stattgefunden hatte. „Wahrscheinlich in keinem anderen Fall“, schreibt Zimmer, „läßt sich so genau wie an der Publikations- und frühen Rezeptionsgeschichte von Lolita demonstrieren, wie unerläßlich der Skandal war — und daß dieser nur von einer kleinen Kette von Zufällen ausgelöst wurde, von denen jeder auch leicht hätte ausbleiben können“ und bei mir ausgeblieben eben i s t. „Das Schicksal von Lolita und ihres Autors hing wirklich an einem dünnen papierenen Faden. (…) Es fochten ein paar Leute mit unkonventionellen Ansichten gegen die Übermacht der gesellschaftlichen Autoritäten, und gerade weil es ernst war, konnten sich auch Allianzen bilden, die sonst eher unwahrscheinlich gewesen wären, konnte ein Nabokov sich auf einen Girodias stützen und dieser auf ein paar pornographische Schmierfinken. Ihre Zwecke und ihre Mittel waren höchst verschieden, aber für den Moment einte sie die gemeinsame Bedrohung.“
Was Zimmer weiter schreibt – ich zitiere das Nachwort >>>> der mir vorliegenden Ausgabe und kann gar nicht anders, als mich zu identifizieren – wirkt wie eine Beschreibung meines eigenen poetischen Ansatzes: „Es gibt eine Art von Literatur, die nicht, jedenfalls nicht in erster Linie der Veranschaulichung (politischer, philosophischer, ästhetischer) Ideen dient und auch nicht in ihrer Abbildungsfunktion aufgeht, sondern sich erst in den konkreten Details der Ausführung realisiert. Nabokovs Werk gehört dazu. Sie erfordert eine andere Art des Lesens. Er ist genau der Autor, der heutzutage nicht den Nobelpreis erhielte“ – und auch keine a n d e r e Förderung mehr.

Um so bitterer, für mich, Zimmers Conclusio: „Da war irgendein Roman, vergraben von einer anrüchigen Serie (…), nämlich den stumpfgrünen Paperback-Bänden der Pariser Olympia Press, die dazu bestimmt waren, englischsprachige Herren verstohlen nach Hause zu begleiten. Zwar enthielt die Reihe durchaus einiges an seriöser Literatur (…), aber das meiste war pure pseudonyme Pornographie. (…) Kein Mensch hätte unter diesem notorischen Ramsch nach einem verkannten Meisterwerk fahnden müssen. Die nächste Saison hätte die nächste Ernte pornographischer Auftragsfabrikate gebracht, und das wäre Lolitas Ende gewesen. Auch ein anderer Hergang ist noch vorstellbar: daß Nabokov mit Rücksicht auf seine Universität und weil ja sowieso kein ordentlicher Verlag etwas von seinem Roman wissen wollte, das Manuskript erst einmal weggeschlossen hätte. Zehn Jahre später hätte er es vielleicht wieder vorgeholt und jetzt auch prompt einen Verleger gefunden, aber kein Mensch wäre mehr bereit gewesen, sich darüber aufzuregen.“ So ist es, mit Meere, heute. Das Buch ist (wieder) da, aber irgendwie auch nicht, die intensive Obsessionspoetik verloren, die so sehr um die Schönheit ringt.
Ich will noch weitergehen: Ohne Lolitas schließlichen Erfolg wäre wahrscheinlich ein Jahrhundertwerk wie Nabokovs Ada or Ador nie erschienen, das bis heute ähnlich kontrovers betrachtet wird wie meine Anderswelttrilogie, allerdings, anders als sie, von Entscheidungträgern öffentlich diskutiert – aber ja selbst bei Pale Fire – von vielen für Nabokovs besten Roman gehalten – hätte ich Zweifel.

 

>>>> Nabokov lesen 6
Nabokov lesen 4 (Lolita 2) <<<<

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Aber ich muß los, habe um elf ein Rundfunkgesprächespräch im rbb, mit Manuela Reichart, die eine Sendung zum Thema „belastete Namen“ vorbereitet. Ein wenig überlegt habe ich schon, ob ich mich darauf einlasse, den Ribbentrop zu thematisieren. Aber es ist vielleicht an der Zeit, tatsächlich, so kurz bevor ich „in Rente gehe“. (Wenn ich weiß, wann die Sendung ausgestrahlt werden wird, SWR2 Matinee, werde ich auf sie verlinken.)

ANH,

der gleich danach hinüber zu den Zwillingskindlein muß, und auch will, weil der Bub grippal sehr erkrankt ist und die Betreuung eines seiner Väter braucht. Die Mama ist beruflich heute gebunden. 

9 thoughts on “Skandale: „… und werde sehr praktisch und gewieft sein.“ Lolita 3 (Nabokov lesen 5), zur Rezeption. Als Arbeitsjournal des Dienstags, den 19. November 2019.

  1. „Wobei, daß er, der polyglotte russische Emigrant, über Frankreich handeln konnte, also ein Ausland, eines der – literarisch gesehen – Glücksfälle war, die seinen späten Ruhm erst möglich machten. Hätte er wie ich, als ein Deutscher in Deutschland, poetisch allein in seiner Sprache festgesessen, zumal in den heutigen Zeiten, er wäre ein vergessener Mann und das Wunderwerk seiner Bücher schon lange Makulatur; bestenfalls läge es in Antiquariaten auf Halde.“ Deutschland ist ein Hindernis, das stimmt. Ich erlebe es nur dann als befreiend, wenn ich den Betrieb verlasse, also mit Naturkundemuseen, Wissenschaft u a Künsten kollaboriere. Oder aus dem Ausland heraus agiere, ja. Vielleicht musst Du einfach mal raus für länger, aber auch das müsste finanziert werden, klar. Aber im Ausland wird man nicht in den heimischen Kontexten gesehen, in denen man sich zu sehr auch selber wähnt und sich vergleicht, das hilft schon viel. Meere und auch das Traumschiff, was ich davon kenne, hätten für einen größeren Erfolg ‚reichen‘ müssen, ja. Falsche Zeit, falscher Ort, das kann es durchaus sein. Übersetzungen anstreben, andere Orte suchen, vielleicht ist das das Geheimnis dabei. Ist Meere übersetzt worden?

  2. weißt du, was ich glaube, es ist nicht der fehlende stallgeruch, es ist eine bestimmte betriebschoreographie, die eingehalten werden muss, dazu gehört fleiß (kein mangel bei dir), klappe halten (nicht deine art), also, sich nicht wehren im falle von ungerechtigkeit, weil konsens ist, dass es ja keine fragen von gerechtigkeit sind und, last but not least, die suche aller dabei, was denn wohl leser*innen anlocken könnte. ich glaube, man kommt nur pragmatisch da raus, in deinem fall ganz besonders. wenn ich mir die lage anschaue, würde ich immer denken, der mann kann durchhalten, den kann man auf jedes podium setzen und es wird nie langweilig, sprich, wenn man dich lässt, kannst du die dinge ganz aus eigener kraft am laufen halten, aber, das ist unter umständen eben gar nicht gewünscht, weil man doch lieber abhängigere hätte und dann wird einem schon mal gezeigt, wie abhängig man eben doch noch ist. check, wissen wir längst, aber umgekehrt könnten alle anderen mal checken, ganz unabhängig sind sie von den autor*innen auch nicht, und erst recht nicht von solchen, die sich selbst im gespräch zu halten wissen. es ist wie beim boxen, die wirklichen siege entscheiden die nehmerqualitäten, was kannst du einstecken, nicht, welchen ring eröffnet man dir. ich kenne so einige, die mussten wenig einstecken, sie strahlen kurz hell, aber ihr stern ist bereits im sinken. so kommt es mir auch schon mal vor.

  3. „Klappe halten“, ja, liebe Xo, das ist ganz sicher einer der Gründe: daß ich es eben nicht tue noch tat. Wichtig ist mir dabei, daß ich es nicht nur pro domo nicht tat, sondern auch für andere Autorinnen und Autoren, die unfair oder sogar ungerecht grausam behandelt werden und wurden. Wer sich meine Arbeiten zu anderer Literaturen anschaut (würd es denn getan), merkt es sofort. Wobei ich manchmal, besonders für junge Autorinnen und Autoren, zu verstummen gebeten wurde, weil ein Wort von m i r ihnen mehr schade als helfe. Derart, ich sag mal, „pervers“ wurde es irgendwann. – Was aber so gut wie nie mitgedacht wird, ist, daß sich mein nicht-die-Klappe-halten aus einer familiären Schuldverstrickung in den Nationalsozialismus herleitet, ich nämlich nicht nur das Gefühl habe, sondern in mir den Imperativ spüre, auf keinen Fall zum Mitläufer, geschweige denn, und sei es durch Stillschweigen, -täter zu werden. Ich bin gegen Unrecht, angetan besonders durch Mächtige sowie jeglichen Gruppen-, bzw. Corps“geist“, seit meiner Kindheit extrem sensibel. (Mein Sohn, übrigens, hat das ge“erbt“, und auch ihn hat es nicht beliebt gemacht, vor allem nicht bei Lehrern.)
    Aufgrund dieser meine Hochempfindlichkeit fängt für mich Korruption bereits da an, wo andere pfiffig noch meinen, auf kluge Weise pragmatisch zu sein. Es ist mir völlig klar, daß solch eine Haltung auch in anderen Betrieben als denen der Kunst als unangenehme registriert würde – und entsprechend darauf reagiert.

    1. Nachtrag: „Ist Meere übersetzt worden?“ – Nein. Obwohl in Frankreich Gallimard (!) Interesse hatte. Es zerschlug sich nach einem höchst, ich sage einmal, „eigenartigen“ Gutachten. Ich habe es irgendwo noch, vielleicht zitiere ich gelegentlich daraus. – Andere französische Verlage, bei denen angefragt wurde, schüttelten wohl auch deshalb den Kopf, weil Anträge bei deutschen Übersetzungsförderungsinstitutionen abschlägig beschieden wurden. Man darf belustigt raten, wer in deren Juries saß (und sitzt).
      Daß überhaupt Interesse in Frankreich bestand, ist meinem Übersetzer Raymond Prunier zu verdanken, der wirklich jahrelang gegen verschlossene Türen rannte. Was er aus gesundheitlichen Gründen klugerweise aufgeben mußte. Alleine, ständig 72 kg Herbst mit sich zu schleppen, fordert auch ohne solche Türen dem täglichen Training einiges ab.

      Weitere Länder bekundeten nie ein Interesse.

      1. klappern gehört zum handwerk, der englische sprachraum ist wichtig, versuch es dort, spitz mare an. mit pragmatik meine ich jetzt nicht, klappe halten, sondern, dein pfund herausstellen, mit dem du wuchern kannst, neben einigen anderen, die auch mal abstoßen können, aber die hat jede/r. wärst du in einem anderen metier, als der kultur, einem weniger bürgerlichen, wäre das ohnehin alles kein so ein großes ding. ranklotzen und durchhalten können, ist aber das, was du kannst und das können längst noch nicht alle. viele ziehen sich auch auf den erbsenstatus zurück. wenn ich aber die xte absage von herrn oder frau unpässlich erhalten habe, dann weiß ich doch als verleger*in und veranstalter*in, auf wen ich zugreife beim nächsten mal. zum jagen tragen tut einen keiner. es wird nicht die schönste person supermodel, sondern die, die schön ist und pünktlich am set. so viel anders ist das auch nicht bei uns. nun klotzen natürlich einige ran, klar. die bücher schreiben ist das eine, aber dann beginnt die arbeit erst und die nehmen einem verlage ja schon lange nicht mehr ab. man ist sein eigener sandwichman. auch mein guter rat an so einige kolleg*innen, beleidigt sein und solidaritätsclübchen gründen, nutzt null, nicht nur raushauen, worunter man selbst gerade leidet, ein interesse für die außenwelt entwickeln, dann kanns was werden. so kommt es mir eher vor, aber viele wege führen nach rom und noch ganz woanders hin.

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