[Arbeitswohnung, 9.27 Uhr
[Tschaikowski, Пиковая дама]
Gestern Geburtstag der Zwillinge, am Abend noch ein Treffen mit Uwe Schütte, dessen auf Englisch erschienenes, man muß sagen, Standardwerk zu Kraftwerk bei Penguin mittlerweile zum Sachbuch-Bestseller avanciert und der ein längeres Feuilleton zu den – nein, nicht Nabokovs, sondern → meinen „eigenen“ Erzählungen vorbereitet; nachts — einigermaßen, ich sag mal, beseelt — heimgeradelt und vorhin viel zu spät auf. Gleich wieder die „Pique Dame“ laufen lassen, die aus mir nicht recht klaren Gründen deutlich stärker auf mich wirkt, seit je, als Tschaikowskis Onegin. Den ich heute aber auch noch einmal hören will.
Tschaikowski ist eigenartig. Kein Komponist sonst hat in meiner Jugend auf mich auch nur ähnlich stark gewirkt. Bis Gustav Mahler kam, der „Titan“ nach Jean Pauls so genanntem Roman — ein LP-„Probefund“ auf dem Grabbeltisch in einem Braunschweiger Kaufhaus. Der löste Tschaikowski fast völlig ab. Womit aber eben auch Jean Paul in meinen inneren Kosmos hinein-, muß ich sagen, –kometete.
Allerdings kamen mir Tschaikowskis Opern, speziell sie, niemals nahe. Was sicherlich damit zusammenhängt, daß ich zu slawischen Sprachen kaum je eine innere, hörende eben, Verbindung gefunden habe, auch nicht zum Tschechischen — was sich erst sehr viel später mit Janáček änderte; da war ich bereits weit über vierzig. Obwohl auch das eben nicht ganz stimmt, eben nicht bei der Pique Dame. Die ging auch damals an mich ran. Nämlich fand ich in der zweiten Reihe des Schallplattenschrankes meiner Großeltern eine sogenannte Schallplattenfassung – ein Produktionsformat, das es meines Wissens schon lange nicht mehr gibt. In den Fünfziger-/Sechzigerjahren waren dies im Gegensatz zu den gräßlichen, aber damals n o c h gräßlicher-beliebten Opernquerschnitten – wie ein „Album“ als „Song“-Nummern getrennte „Schöne Stellen“ – zwar auf Vinyllänge gekürzte, aber doch gleichsam durchkomponierte Hearer’s Digests ohne Pausen. Damals meist noch in Mono.
Wie also kam ich jetzt auf Tschaikowski zurück? Nicht „nur“, denke ich, weil dieser Komponist in meiner später von mir selbst als „op.1“ benannten Kark-Jonas Erzählung eine derart zentrale Rolle spielt, daß ich sie, allerdings umgebaut und leicht erweitert, als „Blumenstück“ in den Wolpertinger-Roman integrierte; im ersten Band der Septime-Ausgabe der Erzählungen finden Sie sie auf die Urfassung wieder zurückbearbeitet. Sondern weil in einem Gespräch mit meinem Sohn die Erinnerungsrede auf Tschaikowskis b-moll-Konzert kam, Svjatoslav Richters Interpretation mit Herbert von Karajan, ohne das ich, als ich fünfzehn/sechzehn war, tatsächlich nicht einmal mehr einschlafen konnte.
Mein Pathos, bis heute, speist sich, glaube ich, aus genau dieser Quelle:
Dagegen hörten meine, soweit ich sie hatte, Freunde jener Jahre Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich, manche auch die Rolling Stones und fast alle die Beatles, meine Mutter Esther und Abi Ofarim sowie Daliah Lavi, hingegen zuhause keine Klassik, wiewohl sie eine kleine Sammlung besonders von Beethoven-Aufnahmen hatte. Zum Musikhören daheim ließ ihr ihre Praxis objektiv auch gar keine Zeit, oder kaum; an den Wochenenden traf sie sich lieber mit Freundinnen. Dafür hatte sie ein Abonnement der „klassischen“ Konzerte in der Braunschweiger Stadthalle; zu Gastkonzerten Karajans pilgerte sie geradezu und nahm mich manchmal dahin mit. Da war ich ungefähr vierzehn, hingegen mein jüngerer Bruder diese Art Musik scharf ablehnte.
Wie auch immer.
Tschaikowski also, von dem, daß er homosexuell war, ich erst Jahre später mitbekam. Es hätte aber auch zuvor keine Rolle gespielt; ich war in der Hinsicht seit je völlig offen, ganz unabhängig von meiner eigenen, nachdrücklich heterosexuellen Ausrichtung. (Als ich mit Dreißig Britten kennen und eben tief zu lieben lernte, war mir seine Disposition von Anfang an bekannt, ebenso bei Henze).
Bon.
Ich legte vorgestern zu des Sohnes und Vaters Musikabend das b-moll-Konzert also auf — und fiel am nächsten Morgen komplett in die Musikwelt meiner Jugend zurück. Übrigens ist Tschaikowskis Violinkonzert das Lieblingsstück meines Vaters gewesen. Insofern muß es für meine Mutter s c h o n etwas unheimlich gewesen sein, daß ihr Vierzehnjähriger ausgerechnet von diesem Komponisten wie besessen war. Ich machte ihr das Leben in keiner Weise leicht. Tagsüber, wenn sie in der kleinen Praxis nebenan über die Füße oder Gesichter ihrer Kundinnen gebeugt saß oder stand, brüllte aus meinem Zimmer der Tschaikowski in Konzerthauslautstärke; manchmal stürmte sie wutglühend herein, um „leiser, stell endlich die Musik leiser!“ zu brüllen, derweil ich über meiner Schreibmaschine saß und zur Musik in die Tasten hämmerte, was immer mir einfiel – zu Svenjas, meiner ersten realen Liebe, Zeiten oft auch schon ziemlich betrunken. Von ihr, Svenja, erzählt im ersten Erzählband gleichfalls eine Geschichte, die ihren, Svenjas, Namen trägt. (In „Wirklichkeit“ hieß die Nymphe anders, und Eve, mit sehr kurzem Anfangs-„E“, wurde sie gerufen).
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(Jetzt der strukturell,seines
völlig offenen Endes wegen,
eigentlich höchst spannende
Onegin:)
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Zusammenpacken also, heute. Morgen um 7.30 Uhr, in Tegel, hebt mein Flieger nach Rom ab; mit dem Regionale von Fiumicino aus sind’s dann noch etwa zwei Stunden bis Orte, wo der Freund mich abholen wird.
Wir haben für die kommenden knapp zwei Wochen einiges an Arbeit vor. Vor allem aber will ich in Umbrien, ich schrieb es Ihnen, Freundin, schon, endlich → die Béartgedichte zuende bringen, jedenfalls so weit, daß sie lektoriert und für die für Herbst 2020 geplante Buchausgabe vorbereitet werden können. Wobei ich heute eigentlich noch die No. 15 meiner → Nabokovreihe schreiben wollte, mir aber unsicher bin, ob ich’s noch schaffe. Also gedulden Sie sich bitte etwas; ich werde den zweiten Erzählband mitnehmen, obwohl Parallalie ihn auch dort stehen hat; nur würden mir da meine Anstreichungen fehlen, die Grundlage meiner Besprechungen sind.
Zusammengestellt sind bereits, auf dem Mitteltisch, die übrigen Lektüren, aber auch einige Bücher, die für den Freund vorgesehen sind. Cristoforo Arco, der am zweiten Weihnachtstag hereinschneite, obwohl es draußen nur nieselte und nieselte, gab sie mir für ihn mit. Außerdem das Hand-MS-Buch der Béarts sowie das schwarze Notizbücherl. Und ich darf die grüne Tinte für den neuen Füller nicht vergessen, mit dem ich seit zwei Wochen nicht so ganz erfolgreich versuche, meine Handschrift so zu gestalten, daß sie sich zumindest ansatzweise auch lesen läßt. Mit meinen nun bald Fünfundsechzig wäre es mal ein ganz netter Erfolg.
Gut, ich fange mal zu packen a n.
ANH