DER TITEL DER DINGE oder DIE OFFENBARUNG
Nabokov lesen, 20. Die Erzählungen, II,2:
Das versunkene Thule im Nabokovmeer

 

 

(…) relative Realität, damit wir uns verstehen,
denn ihr, ihr Menschen, besitzt keine andere.
Ultima Thule, 333
(Dtsch.v. Jochen Neuberger)

 

 

Welch Jammer, daß dieser Roman von Nabokov beiseite gelegt worden ist! Über die zwei in dem zweiten Erzählband der → rowohltschen Gesamtausgabe abgedruckten Kapitel sowie einem dritten, das, wie er selbst erzählt, verloren gegangen, kam es nicht hinaus:

Im Frühjahr [1940] emigrierte ich nach Amerika, wo ich (…) nur noch in englischer Sprache schrieb. Unter den Arbeiten jener Abschiedsmomente in Paris befand sich ein Roman, den ich vor meiner Abreise nicht abschließen konnte und später nicht wieder aufnahm.

Der also noch auf Russisch begonnen war.

Mit Ausnahme von zwei Kapiteln und einigen Notizen vernichtete ich das unvollendete Ding.
(…)
Der gute Leser andererseits wird sicherlich verstümmelte englische Echos dieses letzten meiner russischen Romane in „Das Bastardzeichen“ (1947) und — ganz besonders — in → „Fahles Feuer“ (1962) erkennen. Ich selber finde diese Echos ein wenig ärgerlich, aber was mich wirklich die Nichtvollendung des Romans bedauern läßt, ist, daß er sich durch die Qualität seiner Farbgebung, durch den Reichtum seines Stils, durch etwas Undefinierbares in seiner machtvollen Unterströmung von all  meinen anderen russischen Werken unterschied …
Einzelnachweise, 605-607
(Dtsch.v. Dieter E. Zimmer)

Und tatsächlich, was für zwei Kapitel!
Sie heißen Ultima Thule („Jenseits von Thule“, also der bekannten Welt) und Solus rex („Einsamer König“ oder auch, sachlich, „König nur“). Nach dem Letztgenannten hat → Michael Maar → sein Nabokovbuch betitelt. (Vielleicht wird einst auch diese Serie so etwas.) Wobei Thule selbstverständlich mit auf die mythische, längst auch magisch gewordene Insel in der See um Britannien verweist, von der wir → dort lesen können und wo wir dran erinnert werden, daß der comiclegendäre Prinz Eisenherz Sohn eines frühen Königs dieser Insel war. Hingegen ist nicht anzunehmen, es habe Nabokov bereits von der antisemitischen nationalistischen → Thule-Gesellschaft gewußt. Oder hatte er schon 1939 die Notwendigkeit erfaßt, den Hitlers wieder wegzunehmen, was sie sich angeeignet, was sie okkupiert hatten und damit für die deutsche Kultur und Kunst bis heute so fürchterlich desavouiert haben, daß eines Landwirtes Boden, den er liebt (und als Bauer, mit ihm ringend, haßt wohl zugleich), und insgesamt die Landschaft, die uns prägte, uns immer gleich zu Blut angelastet werden, ja Herkunft selbst, unterdessen auch migrationscorrectnesshalber, nicht mehr genannt, auch nicht länger angeschaut, schon gar nicht direkt angesprochen werden darf?
Doch dies beiseite, hätte das Ausmaß allein des nabokovschen Entwurfs eines „Phantasielandes“ (so nennt es der Romandichter selbst) von ungeheurer Wirkkraft sein können. Wobei vielleicht nicht von Ungefähr ist, daß nur wenig später → Wolf v. Niebelschütz, der Nabokov damals (noch?) nicht gekannt haben dürfte, ebenfalls eine erfundene Insel in die Literatur bringt, Myrrha nämlich, den Spielort des allerdings monarchisch gesonnenen, doch zauberhaft im Stil und seiner atemberaubenden Kraft, „galanten Romans“ → Der blaue Kammerherr, dessen Abneigung gegen die Gegenwart, in der er entstand, allerdings ebenso groß ist wie Nabokovs gegenüber dem nachrevolutionären sowjetischen „neuen“ Rußland.
Viel bezeichnender scheint mir zu sein, daß er, Nabokov, die Idee eines Phantasielandes 1959 mit seinem für mich bedeutendsten Roman → „Ada oder Das Verlangen“ wieder aufnimmt und zu einer Vollendung führt, die ihresgleichen sucht. Vielleicht suchen aber hätte nicht müssen, wenn denn … ja, wenn er den abgebrochenen Roman wieder aufgenommen hätte. In seinen, siehe oben, Erinnerungen spürt er es selbst. So daß mir eben durch den Kopf schoß, ob es sich wohl lohne (und überhaupt möglich sei), das Buch im Nachhinein in Nabokovs Stil und mit den von ihm so genannten „Echos“ zuende zu komponieren, auch wenn wir sehr viel weniger, eigentlich gar keine weiteren Entwürfe kennen, wie es im Gegenteil bei Mahlers X., um von Mozarts Requiem zu schweigen, der Fall gewesen; auch → Harnoncourts grandiose Rekonstruktionen des Fragment gebliebenen vierten Satzes von Bruckner IX kommen mir in den Sinn, ja selbst die Fortschreibung des → Arthur Gordon Pym in Jules Vernes Eissphinx.

 

Doch hören Sie allein schon den Anfang von Ultima Thule!

Erinnerst du dich an den Tag ein paar Jahre vor deinem Tod, als du und ich lunchten (Nahrung zu uns nahmen)? (…) Wenn du dich nicht erinnerst, dann entsinne ich mich an deiner statt: Die Erinnerung an dich kann, zumindest grammatisch, als deine Erinnerung durchgehen, und ich bin, und sei es nur [um] einer geschraubten Wendung willen, durchaus bereit einzuräumen, daß, wenn ich und die Welt nach deinem Tod weiterbestehen, das nur so ist, weil du dich an die Welt und mich erinnerst.
Ultima Thule, 303

Welch ein Prosarhythmus! Aber welch Liebeserklärung auch — sogar sie mit Ada, sie vielmehr mit diesem, verwandt. Die melancholische Sehnsucht nach der geliebten gestorbenen Frau durchzieht in bitterster Süße das gesamte Kapitel, unterbrochen nur, aber lange, von dem Gespräch mit einem, dem eigentlich Nabokovs und seines hier noch Icherzählers Dmitri Nikolajewitsch Sineussow Interesse gilt, der im zweiten Kapitel, also Solus rex, nur noch nahezu nebenbei und überdies auktorial erzählt auftritt — ein romanästhetisch so enormer Riß, daß von entschieden avantgardistisch gesprochen werden muß. Allein schon deshalb hätte der geplante Roman, wenn zuende geschrieben, einen poetologisch geradezu Umsturz bedeutet, immer aber gewirkt mit den feinsten Nadeln klassizistischen Stils. Und, um weiterzuträumen, es wäre uns vielleicht der gesamte Unfug des sogenannten Realismus erspart geblieben, der heute, indem er sein tiefstes Niveau erreicht hat, Hand in Hand mit der kapitalistischen Ökonomie sein Fest des Totalismus feiert. Bekanntlich ist der immer ein Veitstanz.

Abgesehen davon, daß wir in Ultima Thule, 306, einer „unfreiwilligen Übertragung aus dem Französischen ins → Hadesische“ begegnen, was bereits für sich entzückt, und sie da wieder wäre,

die quälendste aller Fragen, die nämlich nach dem Glück, nach dem Rad der Fortuna, nach dem Gewinnlos, ohne das einer gewissen Seele die ewige Seligkeit jenseits des Grabes verwehrt sein kann [,]
Ultima Thule, 308,

sowie das Lachen ein Papagei der Wahrheit sei, 310, den es in unsere Welt verschlagen habe, führt uns Nabokov hier noch nicht auf die mythische Insel, sondern in ein an der südfranzösischen Küste „in der Nähe der üppigen, vielterrassigen italienischen Grenze“ gelegenes Hotel, das wir uns vorstellen sollen,

wie es in die gefiederte Achselhöhle eines von Mimosen überwachsenen Hügels gepackt war, und ebenso das noch nicht ganz ausgebaute Gäßchen mit seinem halben Dutzend winziger Villen, wo Radios in dem schmalen menschlichen Raum zwischen Sternenstaub und schlafendem Oleander sangen, während Grillen in dem leeren Grundstück unter Falters offenem Fenster in dritten Stock die Nacht mit ihrem Gezirp verzinkten.
Ultima Thule, 314/315

Falter, Nabokovs wahrscheinlich dämonischste Figur — zumindest dieses Kapitel gehört, mit Bulgakows berühmtem → Meister und Magarita und William Gaddis‘ zumindest hierzulande kaum mehr bekanntem, geschweige beachtetem → Die Fälschung der Welt, zur größten Teufelsprosa der Moderne (und, wie Berlioz bewies, müssen wir nicht an Gott glauben, um ein bedeutendes Requiem schreiben zu können) — ist die eigentliche Hauptfigur dieses Kapitels, Sineussows ehemaliger Schulkamerad in der „Lehranstalt“, die beide als Jungen besuchten. Da aber hatte es

das karambolageartige Zusammenspiel seiner Körperbewegungen, als ob er Kugellager statt Gelenken hätte, seine Präzision, seine adlergleiche Ferne
Ultima Thule, 304

noch nicht gegeben, und er hatte auch noch nicht

anstelle von dickem Haar und einem ausrasierten Nacken (…) einen Nimbus schwarzen Flaums, der einen sonnengebräunten Fleck, einer Tonsur nicht unähnlich, umgab.
Ultima Thule, 304

Dem körperlich unterdessen monumentalen Mann widerfährt nun in dem Hotel eine Art kosmischer Erleuchtung, indem

der kollektive Schlummer des kleinen weißen Gebäudes mit seinen kaum sich kräuselnden Moskitonetzen und seinen Goldlackranken abrupt — nein, nicht unterbrochen, sondern zerrissen, gespalten, gesprengt wurde von Lauten, die den Hörern unvergesslich geblieben sind (…), am ehesten den paroxysmalen, beinahe jauchzenden Schreien einer Frau in den Qualen unendlich schmerzhaften Gebärens (ähnelnd) — einer Frau jedoch mit der Stimme eines Mannes und einem Riesen in ihrem Leib. Es war schwer, in jenem Sturme den dominierenden Laut zu bestimmen, der diese menschliche Kehle zerriss — ob es Schmerz, Angst, das Trompetengeschmetter des Wahnsinns oder wiederum, und noch am wahrscheinlichsten von allem, der Ausdruck eines unauslotbaren Gefühls war, dessen Unbestimmbarkeit dem Geheule, das aus Falters Zimmer hervorbrach, etwas beigab, was in den Hörern den panischen Wunsch weckte, ihm sofort ein Ende zu setzen.
Ultima Thule, 316/317

Statt dessen hält es fast fünfzehn Minuten lang an, und der Mann, Falter, ist hernach ein anderer, irsinnig geworden vielleicht, aber mit der hellen Logik eines Mathematikers der Transzendenz ausgestattet, hochgradig und jederzeit präsent, ein böser Weiser, ließe sich’s sagen, ohne aber irgend noch eine Absicht. — Was ihm geschehen, ist übrigens nicht unverwandt dem, was in meiner frühen → Erzählung von Kark-Jonas eben diesem geschah. (Ich entdecke immer weitere, nein, nicht Ähnlichkeiten, schon gar nicht der Stilkunst, aber unterlaufender, sozusagen ewiger Themen und, ja, Gebanntheiten, und manchmal weiß ich nicht, ob ich mich drüber freuen oder darob erschrecken soll.) Wobei Herrn Falters Name natürlich eine liebevolle Zärtlichkeit des → Lepidopterologen Nabokov ist.
Wie auch immer, Sineussow will freilich nun, nachdem bekannt, es sei in Falters Leib die, ich sage einmal, totale Welterkenntnis wie aus einem kosmischen Trichter gestürzt, an ihr teilhaben und dringt deshalb in einem langen, logisch höchst komplexen Gespräch, gegen das Falter zugleich ständig sich anstemmt, auf ihre Offenbarung. Falter selbst nennt, was ihm teilhaftig wurde, nicht „das Wesen“, sondern „die Titel der Dinge“ — eine Formulierung die an Walter Benjamins Namen der Dinge nicht nur erinnert: „Das aller Phänomenalität entrückte Sein, dem allein diese Gewalt eignet, ist das des Namens.“ Um eben dieses aller Phänomenalität entrückte Sein geht es in Falters und Sineussows sogar für mich ganglienverknotend komplexem Gespräch, das mehrmaliges Wiederlesen fordert:

Schon allein durch den Akt der Erwähnung eines bestimmten Begriffs machen Sie ein Rätsel aus sich selber, so als ob auch noch der Sucher sich versteckte. Und durch Ihr Bestehen auf der Frage verstecken Sie sich nicht nur, sondern glauben, daß Sie, wenn Sie mit dem gesuchten Objekt die Qualität des „Verstecktseins“ teilen, Sie es sich näher bringen.
Ultima Thule, 339

Und in der Gestalt eines quasi Paradoxes:

Zunächst einmal möchte ich (…) Ihre Aufmerksamkeit auf folgende gedankliche Zwickmühle lenken: Jeder Mensch ist sterblich; Sie sind ein Mensch; demnach ist es aber auch möglich, daß Sie nicht sterblich sind. Warum? Weil ein bestimmter Mensch (Sie oder ich) aufgrund eben dieser Tatsache aufhört, jeder Mensch zu sein.
Ultima Thule, 339

Eine Seite zuvor habe ich, als Falter auf Sineussows fragende Feststellung, Theologie mache das besprochene Problem also noch verworrener, mit dem Satz „Ein Hund kam in die Küche“ antwortet, ZEN an den linken Rand geschrieben. Doch obwohl wir auf Falters hinterhältige, durchaus überhebliche Weise von Nabokov eine Aufklärung in gar keiner Weise bekommen, sondern wie  Sineussow „genasführt“ werden, soll dieser sich dennoch trösten lassen, weil er, Falter, sich in all dem „Geplapper und Geplauder unabsichtlich verraten“ habe:

— mit zwei oder drei Worten nur, aber in ihnen blitzte ein Quäntchen absoluter Erkenntnis auf —  glücklicherweise jedoch haben Sie nicht darauf geachtet.
Ultima Thule, 348

Was uns nun dazu bringen kann, entweder uns auf die minutiöse Suche nach diesen Wörtern zu machen, mithin das Gespräch in der Hoffnung wieder- und wieder zu durchstöbern, daß wir schließlich fündig werden, oder wir kehren wie Sineussow ins Erinnern an unsre Geliebte zurück, denn Falters Offenbarung

bringt mich dir nicht näher, mein Engel. Für den Fall des Falles lasse ich alle Türen und Fenster des Lebens weit offen, obwohl ich das Gefühl habe, daß du dich nicht zu den althergebrachten Formen von Erscheinungen herablassen wirst. Am schrecklichsten von allem ist der Gedanke, daß ich, da du fernerhin in mir glühst, mein Leben schützen muß. (…) Leider bin ich dazu verdammt, mit der Habgier des Besitzlosen mit meiner physischen Natur umzugehen, wenn ich dich mir zu Ende erzählen will, und dann vertrauensvoll auf meine eigene Ellipse zu warten …
Ultima Thule, 348/349

Irgendwie danach — und zu dem letzterseufzten Behufe —  muß es Sineussow dann auf die magische Insel verschlagen haben, ganz im Norden, wo er Nabokov zufolge in einem aber nie von ihm geschriebenen Kapitel seine Geliebte als eine wahrscheinlich nicht nur anders genannte Person wiederauferstehen (und abermals sterben) läßt, und zwar als Künstler in einer dort auf Ultima Thule entworfenen Erzählung. Direkt davon, also auch nur, wie Sineussow dort hinkam, berichtet das erhaltene zweite Kapitel nicht. Zumal sich, ich sagte es oben schon, die nunmehr auktoriale Perspektive radikal umgedreht hat. Und die Wahl der Romanzeit, mithin der Handlung, schließt sich an etwas an, das bereits → dort bei meiner Besprechung von „Lance“ zitiert worden ist:

Begriffe wie „unzeitgemäß“, „anachronistisch“ und so weiter sind auf die Dauer die einzigen, mit denen wir uns eine Fremdartigkeit vorstellen und ihr Ausdruck verleihen können, die keine Forschung vorherzusehen vermag. Das Zukünftige ist nur die Umkehrung des Veralteten.

Denn wir finden uns im Schlafzimmer des Thulekönigs wieder und erfahren bereits, als er noch im Bett liegt und sich, „mit einer Rechtsdrehung aus dem Schlaf“ gekommen,

eine Wange, auf der das ins Kopfkissen eingestickte Wappen einen Schachbrettabdruck hinterlassen hatte, auf eine große weiße Faust
Solus rex, 351
(Dtsch.v. Jochen Neuberger)

stützt, von seinen Unbillnissen und schließlich auch die gesamte, nicht eben gradlinige Vorgeschichte seiner Krönung. Dabei treiben nicht nur utopische, gleichermaßen an → Hans Dominik (entfernt) wie → Alfred Döblin erinnernde wahrlich Erzählfelsen mit, etwa wenn das Land durch gewaltige Pumpen angehoben wird, weil sich der König ein Bergmassiv wünscht (wir heutigen nennten es Terraforming), sondern hier wird das Phantastische zugleich zu kokettem, durch die Sprache sprudelndem Witz:

Die Bewohner (…) sollten in ihren Unterkünften bleiben dürfen, während die Erde aufgebläht wurde. Ängstliche Naturen, die es vorzogen, sich aus dem Operationsgebiet zu entfernen, wo ihre kleinen Ziegelhäuser kauerten und erstaunte rote Kühe muhten, die die Änderung der Höhe spürten, bestraften sich dadurch, daß ihre Heimkehr über die neugeformten Hügel wesentlich länger dauerte als ihr kürzlicher Rückzug über das bedrohte Flachland. Langsam schwollen die Wiesen auf; Felsbrocken rührten ihre runden Rücken; ein lethargischer Bach purzelte aus seinem Bett und wurde zu seiner eigenen Überraschung ein alpiner Wasserfall; Bäume zogen im Gänsemarsch wolkenwärts, und viele von ihnen (die Tannen beispielsweise) genossen die Reise;
Solus rex, 353

Ich muß nicht — oder? — gestehen, wie sehr mich die vom Übersetzer, Jochen Neuberger, hier eingeflochtenen Reime entzücken (leider finde ich keinen direkten Link auf ihn) Auch sein ausgefeiltes ständiges Spiel der Alliterationen brauche ich nicht zu vermerken. Alles dies, liebste Freundin, bemerken Sie längst selbst. Aber daß ein eichener Kleiderschrank „naphtalinbetäubt“ war und ein altes Barometer eher erinnertes Wetter anzeigt als das echte (beides auf 355), verdient schon einen eigenen Satz. Und indirekt, nun aber in wirklich niebelschützschem Ton wird das große Gespräch aus Ultima Thule rekapituliert:

Wir, Sklaven verknüpfter Ereignisse, trachten danach, die Lücke in der Kette mit einem geisterhaften Glied zu schließen.
Solus rex, 356

In der Tat ist es der da erst wieder aufgetauchte Maler Sineussow, der dieses denkt — und aus der Erzählung schwupps! schon wieder verschwindet. Immerhin, wir merken, er habe von Herrn Falter nun doch wohl etwas gelernt.
Nur muß des jetzigen Königs Weg auf den Thron deshalb solche Umwege nehmen, weil er der eigentliche Dauphin gar nicht war; dieser mußte erst auf irgendeine Weise aus dem Weg geräumt werden, woran er selbst durch ausschweifendste Akte tüchtig teilnahm, also der ursprünglich so geborene, höchst sinnenzugewandte, auch nicht eben stilvolle Nachfolger der Krone. Etwa aus Anlaß einer festhaften Versammlung:

Er [der später tatsächliche König] wurde in einen großen, gelben Saal geleitet, in dem es so heiß wie in einem Gewächshaus war und wo eine Anzahl Leute, ziemlich gleichmäßig nach Geschlecht verteilt, auf Diwans, Poufs und einem dickflorigen Teppich saß.
Solus rex, 373

Es folgt eine spöttische Beschreibung von Gesellschaft („Fatamorganen von Konversationen“, 374) und Ereignis, das in folgender Szene die Climax erreicht, ich sag mal, erigiert:

„Ondrik“, sagte er [der Kronprinz] mit besorgter Miene, „ich denke, es ist Zeit.“ Ondrik leckte sich düster die Lippen, stellte sein Glas ab und kam herüber. Mit dicken Fingern öffnete der Prinz Ondriks Hosenlatz, zog die gesamte rote Masse seiner Genitalien hervor, fand die Hauptsache und begann, den glänzenden Schaft gleichmäßig zu reiben.
Solus rex, 376

Überhaupt schießt hier Nabokovs auch pornographische Stillust nicht ins Kraut, vielmehr auf als — ecco! — Fontäne, wobei, den Kronprinzen mit „Feige“ zu bespitznamen, auch den Kalauer nicht scheut. Und sie spritzt, diese pornographische Lust, selbst in die gewählten Metaphern, etwa der „Zitzen des Verdienstes“ (383).  Wobei im Lande Thule wie für uns Lesende quietschvergnügt gilt:

Das herzhafte Lachen, das unausbleiblich das Gerede über Feiges Possen begleitete, bewahrte diese vor moralischer Verdammung.
Solus rex, 381

Kurz, dieser Dauphin ist ein wollüstiger Barbar, den man auf keinen Fall zu Throne steigen läßt.
Bloß, wie dies verhindern?

Nein, ich erzähl es Ihnen nicht. Sie müssen’s wirklich selber lesen. Deshalb zum Abschluß nur noch ein paar der allerfeinsten Sätze, bzw. Formulierungen:

ein Strahl seifigen Lichts (351)— so jedenfalls erzählte es der Geist des Schlummers dem Schlummernden (354)— Er war durch die Watte des Alters von der Welt abgeschieden (354)— aus dem Tunnel der Zeiten ins bleiche Sonnenlicht getreten (361)— die Pferdehufe ließen platschend den Matsch schlammiger Pfützen in Schokoladefurchen aufspritzen (367)— wegen seiner angeborenen Fähigkeit, sein projiziertes Selbst bei allen Gelegenheiten von der Seite zu sehen (371)— bestehend aus langsamem Halblächeln und den „Hms“ von Frage und Antwort durch den Rauch von Zigaretten in wertvollen Haltern (374)— die Dornenhecken des Protokolls (378/379)— in seinem dunklen, lichenoiden Gehirn war seit Urzeiten ein Platz reserviert für altvertraute (…) Katastrophen (380)— eine Zeitspanne, die als „Schwangerschaft der Themis“ bezeichnet wurde (389)— und Dr. Onse selbst suchte kurz nach dem Ereignis, zu dem die Versammlung das Vorwort war, Abgeschiedenheit in einem kleinen Kloster (394)

Was anderes bleibt mir da denn noch, als Sie zu locken, sich dieses Buch unbedingt zu kaufen? Und wenn Sie’s nicht tun, nun, selber schuld.

 

Ihr ANH

 

 

 

 

 

 

 

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