Coronas Einsamkeit. Träume, Klarträume, Albtraumfiktionen. Im dreizehnten Coronajournal, nämlich des Freitags, den 3. April 2020. Darinnen auch Philosophie der Geschichte als einer der Natur.

[Arbeitswohnung, 5.19 Uhr
Der Amselhahn singt, obwohl es noch dunkel.]
Nur eine einzige Lampe im Zimmer, auf meinem Schreibtisch; der grüne Artdeco-Schirm mit dem geklebten Spalt, auch kupferner Bronze der geschwungene Fuß, klassizistische Schaft. Und kühl, sehr kühlt weht es vom Oberlicht, das offen, herab.

Ich habe nicht schlafen können oder doch geschlafen, aber so, daß ich träumte weiterzuwachen und weiter zu denken, nämlich dieses Arbeitsjournal, und zwar dort, wo ich es → gestern abbrechen mußte, nicht ganz indes abgebrochen hatte. Was zu den Dschungelblättern zu sagen war, jedenfalls ihrer ersten Ausgabe, hab ich ja noch nachgetragen. Doch nichts mehr zu Corona geschrieben, dieses vielmehr auf heute verschoben.
Über Einsamkeit hatte ich schreiben wollen,

DIE EINSAMKEIT IN ZEITEN DER CORONA
Pandemische Liebe der Hautlosigkeit

Ich formulierte mir Satz für Satz, etwas zu Abend gegessen, etwas auch vielleicht zuviel, das im Magen wie eine Suppe aus flüssigen Steinen lag und mich drückte, so in das Laken drückte, daß ich mich wälzte, aufwarf, wälzte erneut. Und dabei dachte und dachte. So merkte ich nicht, daß ich längst schlief. Mir träumte, was ich dachte, weiter. Mein Geist „glitt“ nicht, sondern rutschte schwer zurück in das Gespräch, das ich mit den beiden Frauen geführt, den zwei Ärztinnen, der älteren, der jungen. Ich rekapitulierte das gesamte Gespräch und was ich den zweien erzählt hatt‘. Und schlief doch eben schon längst. Oder vielleicht, daß ich zwischendurch wach war? Es gab zwischen Traum und Halbwachsein gar keinen Unterschied mehr.
Um 23 Uhr war ich zu Bett gegangen, hatte einen Film angebrochen, der voll mit Großen Bildern war — wider Willen abgebrochen, weil zum einen der Magen so drückte, daß sitzen zu bleiben mühsam war; und zum anderen hatte ich mit Frau Kiehl abgesprochen, ich wolle heute mein Lauftraining endlich wieder aufnehmen. Das hatte mir auch dringend die Ärztin, die ältere, geraten. „Sie müssen laufen, es rettet Sie.“ Nur daß ich derzeit nicht weiß, ob ich gerettet zu werden eigentlich will. Wobei es sein kann, daß dieser Gedanke bereits einer des Traums war.
Ich formulierte, formulierte die gesamte Nacht durch. Doch wollte und will ich wirklich laufen. Das wußte ich zugleich auch. Wollte ich also heute früh mein Arbeitsjournal — es würde und wird ein längeres werden — so schreiben, daß es noch vor dem Mittag eingestellt werden kann, so mußte ich spätestens um sechs am Schreibtisch sitzen. Nun wurde es ein Viertel nach fünf. Doch um halb fünf schaute ich erstmals zur Uhr. Der Magen drückte weiter. Aber ich glaubte, es sei schon über die Hälfte meines neuen Textes fertig, er stünde schon in der Matrix, in die ich jeweils die Beiträge schreibe. Alles war das, sogar Zwischenüberschriften gab es. Ich müsse einfach nur weiterschreiben.
Die Dreiviertelstunde zwischen meinem ZurUhrSehn und daß ich schließlich aufstand brauchte ich, um mir klarzuwerden, es stehe noch gar nichts da im Text, sei alles nur imaginiert.
Welch ein Verlust! — Erhöb ich mich nicht sofort, es wäre alles, alles verloren.
Niederschreiben, was noch in der Erinnerung ist, bevor es, was Träume schnell tun, auf das infamste verweht ist, sich aufribbelnd gleichsam wie die Bilder dieses Spielfilms, COMA, dessen Himmel aus lauter Dendriten besteht.
Der Auslöser war wieder die von mir wirklich gefürchtete Mundschutzpflicht. Jetzt floß sie, als Drohung, in meine Träume. Sie macht mich schleichend depressiv, aber spürbar.
„Wissen Sie“, erzählte ich den beiden Ärztinnen, „wenn ich jetzt auf die Straße gehe und sehe ein Paar Hand in Hand — Sie glauben nicht, welch ein Glücksgefühl mich dann durchschießt, warm durchschießt, aufsteigend eher und mich salbend … Oder wenn ich jetzt abends seinen Spielfilm sehe und es gibt eine Liebesszene … nein nein, keinen Akt, sondern einfach nur ein zärtliches Streicheln, vielleicht einen langen innigen Kuß … – früher habe ich dann oft weitergespult, die Szenen übersprungen, weil es zuviel von ihnen schon gab, weil man ja alles schon zigfach kennt … Jetzt aber, jetzt wiederhole ich diese Szenen sogar, weil sie mir so viel Hoffnung geben. Denn sie zeigen, was wir sind, wofür wir sind und was das größte Glück ist, das wir Menschen überhaupt kennen.“ — Verstehn Sie, Geliebte? Ich sprach dies erneut, nun in dem Traum, und ich schrieb es in ihm auf.
Was bedeutet es, wenn wir einander nicht mehr zulächeln können und das, was wir flirten nennen, restlos verkommt? „Aber wir flirten doch über die Augen, lächeln auch über die Augen“, sprach zu mir लक्ष्मी am Telefon. Doch das ist anders.
Die junge Ärztin empfand das auch, die ältere trug erst gar keinen Mundschutz. Als ich noch im Wartezimmer saß, lag dort einen DIN-A4-Blatt aus, das den Patienten Verhaltensregeln an die Hand gibt. Ein Absatz beruhigte mich enorm:

Dabei sehe ich es ein und schrieb es so auch, daß wir die anderen, Gefährdete, schützen müssen, auch wenn mich der dauernde Aufruf moralisch an meinem Gewissen erpreßt oder nötigt. Aber ich will nicht aussehn und nicht, daß andre so aussehn, als wären wir Darth Vader und sprächen dann so auch. Genauso formulierte ich es, gegenüber den Ärztinnen, nun wieder im Traum und ein drittes Mal jetzt, da ich es tippe. Auch habe ich längst eine andere Lösung gefunden, für die ich → Helmut Schulze danke. Bei mir — nicht im Freien, nein, aber wenn ich geschlossene Räume betrete, in denen es bisweilen unumgänglich ist, einander nahezukommen — sieht es nach ANH of Arabia aus, wenn Sie, oh Freundin, so wollen. Immerhin ist das nicht ohne Witz. Und hat zugleich ein Geheimnis, das bei Frauen Schönheit werden kann.

Es war fast wunderbar, daß die junge Ärztin nun, da ich erzählte, ihren Mundschutz mehrfach abnahm, lächelte, ihn wieder über das untere Gesichtsdrittel hochzog, bereits abermals abnahm, so öfter hin und her. Und beide hörten konzentriert zu, als ich von meinem Eindruck einer Geschichtslogik erzählte, derzufolge, ich schrieb es in DER DSCHUNGEL schon mehrfach, die zumindest westliche Welt sich spätestens seit AIDS in einem Prozeß zunehmender Entkörperung befindet, Entfremdung vom Körper, der aber doch das eigentliche und zutiefst allgemeine Wunder unseres Menschseins sei — denn anders als wahrscheinlich dem Tier und der Pflanze sei es uns ständig bewußt gegenwärtig — , und wie sehr vieles genau auf dieser Linie liege, um sie quasi zu erfüllen und uns von ihm zu entfernen, ja ihn zu diffamieren. Daß uns jetzt schon die natürlichsten Instinkte, etwa den Kontakt zu Frauen zu suchen, als Mißbrauch ausgelegt, also moralisch denunziert würden, sowie wir es zeigten. Dazu die fortgesetzte Virtualisierung von Welt, die, wie Harraway schreibt, Auslagerung unserer Körper- und fast auch meisten Verstandesfunktionen qua Umformung in mathematische Algorithmen und Module in die Maschinen. Daß Corona da nur der nächste Schritt, möglicherweise, sei.

Selbstverständlich ist das eine Konstruktion der Erklärung. Mit allem Recht kann Sabine Scho dagegenhalten, daß Natur überhaupt keinen Zweck verfolge, wir ihr sogar komplett egal seien. Nur ist dies ein → dem fürchterlichen Houellebecq nicht unverwandter Nihilismus. (Er war fürchterlich schon mit seinem ersten bekanntgewordenen Buch, und ist ständig ekelhafter geworden; daß er so gefeiert wurde, der nicht mal über Stil verfügt, ist für die europäische Dichtung ein Skandal für sich selbst). Aber Scho geht an dem vorbei, was ein Mensch ist. Es gehört zu seiner Art, in dem, was geschieht, einen Sinn zu finden — oder ihn zu erfinden. Wenn wir uns klarmachen, daß die Wahrnehmung von Wirklichkeit ohnedies eine Konstruktion ist, die wir aufgrund der Organisation unseres Gehirnes bauen, nicht etwas tatsächlich Wirklichkeit-selbst, ist die Fähigkeit, Sinnzusammenhänge zu modellieren, genau die Grundlage für das, was Kant Kausalität aus Freiheit nannte und zugleich die notwendige Bedingung aller Kultur. Genau das ist der geschichtsphilosophische Ansatz, der eben deshalb ohne Religion nicht auskommt. Er gibt uns Handlungsalternativen, die wir angesichts purer Sinnlosigkeit nicht hätten. Etwa, was mir gestern Benjamin Stein von seinem Rabbi erzählte, der (heißt das auch im Mosaischen so?) gepredigt habe, Corona sei ein Warnzeichen Gottes (JHWH): Haltet ein! Besinnt euch! Macht so nicht weiter! Daran ist etwas. Wir müssen dafür nicht gläubig sein, um es zu erfassen, schon gar nicht monotheistisch gläubig. Oder wie mir लक्ष्मी noch am Telefon sagte, als wir erneut über diese unsäglich deutsche Klopapierhamsterei sprachen und ich ausgerufen hatte, wie furchtbar es sei, daß plötzlich wieder etwas zutage trete, das längst für überwunden geglaubt: sowas wie ein Volkscharakter, zumal der anale der Deutschen. „Das war doch alles längst vorbei!“ „Vielleicht ist es ja ganz gut“, sagte sie, „daß diejenigen jetzt sterben, die es gar nicht mal bewußt, sondern weil sie selbst so geprägt sind, immer und immer weiter in ihre Kinder eingeflößt haben. Meine Generation“ – sie meinte die ihre, nicht meine – „ist davon doch längst frei. Wir sind offen gegenüber Fremdem, begrüßen es und befreunden uns mit ihm.“

Aber stellen Sie sich die Situation vor:
Nachdem ich erzählt habe und bevor ich’s erneut tu, stehe und sitze und liege ich da mit nichts als der knappen Unterhose am Leib, und die Frauen, beide, tasten, klopfen, pochen mich ab, drücken hier, drücken dort. „Tut das weh?“ Sie bewegen meine Beingelenke, Armgelenke, führen mich in die Taillenbeugung, ich muß mich auf die Zehenspitzen stellen. Sie mustern jeden Leberfleck, horchen mich ab, beidseits, die eine links, die andere rechts — und alles, was ich beklagt hatte, die gesamte körperliche Kontaktlosigkeit hob sich auf. Es war wie Glück. Nein, war Glück. Die puren Finger, dieser Frauen, fühlten.
„Daß uns alles genommen wird“, hatte ich gesagt, „was unser Eigentliches ist, macht mich fast depressiv. Der Austausch, das Ineinanderfließen unserer Körperwärme, die Vermischung der Säfte, ohne die es Menschen überhaupt nicht gäbe. Und wir können nicht sagen, für wie lange noch.“ An eine schnelle Aufhebung der Umgangsbeschränkungen glaubten auch meine beiden Ärztinnen nicht. Wochen, möglicherweise Monate werden es noch sein. Und dann wird alles anders, der Körper der anderen als Gefahr im Programm sein.
„Daß dies endlich einmal wer ausspricht“, sagte, ihren Mundschutz wieder abgenommen, die junge Ärztin, nachdem sie mich für die Pneumokokkenimpfung in den Nebenraum gebeten hatte, „was wir alle denken. — In welche Schulter soll ich ..?“

Es gab aber auch etwas Rettendes hier. Ich war noch im ersten Behandlungszimmer.
„Sagen Sie“, fragte ich, „Ihre Praxis ..?“
„Ja?“
„Merken Sie auch Umsatzeinbußen, sind auch Sie gefährdet in Ihrer Ökonomie?“
„Ein bißchen, ja. Aber es hat auch ein Gutes. Sehen Sie, zum ersten Mal seit Jahren können wir uns, da der Ansturm nicht mehr so groß ist, um unsere Patientin wirklich kümmern. Wir haben die Zeit, miteinander über sie zu sprechen und vor allem, mit ihnen zu sprechen. Das gab es lange nicht mehr, war gar nicht möglich. So gesehen schenkt uns Corona etwas zurück, das wir verloren hatten. Wir können wieder tun, was uns einst bewogen hat, diesen Beruf überhaupt zu ergreifen.“

Und davon wachte ich erstmals auf, schlug mich noch diese weiteren fünfundvierzig Minuten auf dem Laken herum, bis ich endlich begriff, das von all dem tatsächlich noch gar nichts zu Text gebracht war und ich es schleunigst tun nun müsse.

***

Dem Ärztinnenbesuch folgten Wege, um weitere Termine auszumachen. Ich komme um eine Magenspiegelung leider nicht herum, auch eine Darmspiegelung steht wieder an. Und die Gefäße müssen kontrolliert werden, grade jetzt, da ich wieder rauche.
Auf der Straße trugen nur wenige Menschen den Mundschutz; es waren auch mehr unterwegs, als ich erhofft, immer mit gutem Abstand freilich, doch viele Paare Hand in Hand und mit ihren Kindern, die tollten. Auch das war beglückend.
Ich dachte an den schwedischen Sonderweg, der mir innig sympathisch und von dem von uns keiner weiß, ob er nicht recht hat. Sollte er irren, und sollten dann die Schweden um internationale Hilfe rufen, hör ich schon das „Selber schuld!“ tölen und „Nun solln sie’s selbst auch ausbaden!“ — Höchst unangenehmer Gedanke, der die Canaille zurück in den Blick nimmt anstelle die liebenden Paare.

Und dann, ja … und dann begegnete mir zum ersten Mal in meinem Leben das, was man – nicht wirklich correct – Antisemitismus nennt.
Ich spaziere die Ahlfelder Straße entlang. Ein Mann indischer, vielleicht tamilischer Herkunft kommt mir entgegen, „falsch“ die Basecap auf dem Kopf. Bleibt stehen, sieht mich an und sagt: „Wir sind hier nicht in Brooklyn.“
Ich verstehe nicht recht. Er zeigt auf meinen Hut.
Es braucht immer noch, bis ich begreife. Er zeigt erneut auf meinen Hut, sagt abermals, nun deutlich verärgert: „Wir sind hier nicht in Brooklyn!“
Endlich, endlich verstehe ich. Aber mir fällt keine andere Entgegnung ein, als daß wir auch in Chicago nicht seien.
Er dreht sich mißbilligend weg, und schimpfend geht er fort. Und ich bin seltsam froh, daß er kein Deutscher war, jedenfalls nicht von Herkunft. Woraufhin mir Phyllis Kiehl am späten Nachmittag den Link auf einen Aufruf Markus Gabriels schickte, den ich hier nun meinerseits verlinke:

→ WIR BRAUCHEN EINE METAPHYSISCHE PANDEMIE

Der vielleicht ein bißchen schlichte Text ist dennoch von größter Valenz und spricht etwas an, das auch mir seit Tagen durch den Kopf geht, den eines überzeugten Europäers. Die einzigen, denen ich ihren Nationalismus nicht verüble, sind die Schweizer, dies aber auch nur, weil er ihnen Neutralität garantiert. Hingegen ist die gegenwärtige nationale Abschottung der nichtneutralen, vielmehr in militärische Pakte eingebundenen europäischen Länder ein historisches schlimmer-als-Elend. Da haben wir endlich einmal einen wirklich europäischen Staatsmann, nämlich Emmanuel Macron, der eine lebendige Vision hat — und was tun wir Deutschen? Wir sperren uns gegen Eurobonds? Lassen Griechenland wieder einmal am ausgestreckten Arm allein? uneingedenk der kulturellen Historie und sowieso, daß wir sogar mit der arabischen Welt schon deshalb enger verbunden sind, als wir mit den USA jemals waren, weil uns über sie, also jene, die altgriechischen Schriften übermittelt wurden, die dort bewahrt und übersetzt worden sind,  um von der medizinischen und Bewässerungs-Zivilisation ganz zu schweigen, da sich das Christentum gegen den Kultur- und Wissensschatz Europas – und sowieso jeglich Apostate – gebärdete, wie’s heutzutage nicht mal dem الدولة  gelingt.

***

Doch zum Anfang noch einmal zurück („über Einsamkeit hatte ich schreiben wollen“):

DIE EINSAMKEIT IN ZEITEN DER CORONA
Pandemische Liebe der Hautlosigkeit

Ich spüre sie, spür sie schon jetzt, nach nicht einmal zwei Wochen. Die ausbleibenden Besuche meines Sohnes fehlen mir, sehr. लक्ष्मी, gestern, erklärte: „Er kommt nicht, um dich zu schützen.“ Der seelische Schaden ist höher, als wenn ich angesteckt werden würde. Ich will nicht ohne Umarmungen leben — und stelle mir laufend vor, wie es den alten Menschen in den Heimen ergeht, die sowieso schon ein Verbrechen an den Menschen sind, von der Verdi Casa di riposa einmal abgesehen, vielleicht. Wenn auch sie jetzt keine Besuche mehr bekommen, bekommen nicht mehr dürfen und alleine, ganz alleine sterben. Mit meinen Zwillingen telefonierte ich ebenfalls gestern. Ophelia, dreizehnjährig, sagt: „Ich würde dich so gerne in den Arm nehmen.“ Auch wenn es wahrscheinlich nicht wirklich so ist, ist ihnen doch bewußt, daß ich zu den Gefährdeten gehöre, meines numerischen Lebensalters wegen und weil ich rauche. Sie distanzieren sich wegen einer Fürsorglichkeit, die mich in die Leere sperrt. Doch andere weit mehr. Es gibt Hochrechnungen, denen zufolge die auch letalen „Kollateral“schäden höher sein könnten als die vom Virus verschuldeten Todesfälle  Und nebenbei schafft sich schleichend die Demokratie ab, insofern sie auf der Selbstbestimmung der Einzelnen ruht. Die schon dauermoralisch beschnitten wird. Nein, ich habe keine Angst vor der Ansteckung, einfach deshalb, weil ich keine Angst vor dem Tod habe. Hingegen, Geliebte, vor Vereinsamung sehr.

Ein mir wichtiger Mann ist vorgestern nacht auf gestern verstorben. Nein, nicht an Corona. Er schlief einfach ein. Mehr soll ich bitte noch nicht schreiben. In einem Haus voll Kunst hat er seinen Lebensabend verbracht, der langsam, langsam dämmriger wurde. Zu seiner Beerdigung dürfen wir nicht. Zur Freundin sagte ich: „Wir werden eines Tages eine Wallfahrt an sein Grab unternehmen.“ Von diesem Einfall ward sie nicht alleine getröstet, sondern auch ich, der ihn hatte.

ANH
9.38 Uhr

[Siehe auch → Trainingsprotokoll]

4 thoughts on “Coronas Einsamkeit. Träume, Klarträume, Albtraumfiktionen. Im dreizehnten Coronajournal, nämlich des Freitags, den 3. April 2020. Darinnen auch Philosophie der Geschichte als einer der Natur.

  1. „Aber Scho geht an dem vorbei, was ein Mensch ist. Es gehört zu seiner Art, in dem, was geschieht, einen Sinn zu finden — oder ihn zu erfinden.“ klar gehört es dazu, es gehört aber vielleicht auch dazu, ihn nicht als einzig gültigen anzusehen. oder, noch anders, brauch ich einen sinn, wenn ich fühle? ich fühle sehr vieles wie du, aber ich verleihe ihm vielleicht seltener einen höheren sinn, die vereinigung der geschlechter, um zu…, die hypnose des pops, um zu…, ich versuche zu sein, das ist was anderes als nihilismus, ich versuche augenblicke zu finden, zu denen ich sagen kann, sie sind so schön und mich nicht zu fragen, warum sind sie noch mal schön. ich ginge vollständig zu grunde ohne berührung, ohne haut, ohne arme und ohne blicke, ohne sex. meinen ersten sex hatte ich mit 16, es gab ingolf lück in dauerschleife, wenn ich ihn ohne kondom hätte, war mir klar, ich stürbe oder wäre sofort schwanger und stürbe dann eben schwanger, ich habe sogar nach einem aidstest gefragt, in der provinz, einen mitschüler, der genau so viel erfahrung hatte, wie ich, nämlich null, irgendwas hat mich dann dazu gebracht, mir die pille verschreiben zu lassen und todesmutig aufs kondom zu verzichten, es war wohl verliebtheit, gefährliche, todbringende verliebtheit… wie ich lange zeit glaubte, mit 15, ich werde an den folgen eines atomkriegs elend sterben, mir werden haare und zähne ausgehen, die haut wird mir von den knochen wegfaulen. verstrahlt bin ich tatsächlich, aber bislang hatte daran kein atomkrieg seinen anteil, was nicht heißt, dass das nicht noch passiert. ich glaube, wir alle haben diese ängste, wir alle hoffen, es gibt weiterhin arme für uns und küsse und weil wir alle sie brauchen, hoffe ich, das geht alles vorbei, was uns jetzt das leben so schwer macht.

  2. DANKE für de „fürchterlichen Houellebecq“ ! Endlich sagt es einmal jemand; es ist mir völlig unverständlich, warum man diesen Mann so sehr hofiert. Vielleicht wegen seiner schlechten Zähne ?
    Danke auch für das Ansprechen der Kollateralschäden der Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus, sie werden groß sein. Es ist wie bei vielen schulmedizinischen Medikamenten, dass die Nebenwirkungen die positiven Wirkungen übertreffen können.

    1. „Wegen der schlechten Zähne“: So absurd es klingt, aber daran ist etwas. Wenn Nietzsche schrieb, der Lobende stelle indirekt fest, der, den ich lobe, ist von meiner Art, bringt er eine ähnliche Dynamik zur Sprache. An dem Gelobten etwas, sagen wir, Schiefes zu erkennen, macht ihn uns imaginär gefügig: Wir stehen über ihm, und also können wir loben, ohne an Selbstwert zu verlieren.
      Im übrigen wird Houellebecq – werden solche wie Houellebecq – umworben, weil sie Erfolg haben. Geehrt wird – die Macht.

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