Das Leben als einen Roman betrachten (15): Krebstag 2.

[Angela Puxi, Isle of Fire]

Irgendwann ging mir die Numerierung der 2013 begonnen Serie von Überlegungen verloren, also ging nicht verloren, sondern ich vergaß – oder es war dem Antisystematiker in mir „über“ –, die Texte mit Zahlen zu versehen. Was ich in anderen Fällen strikt aber weitertat. Und irgendwann war, das Leben als Roman zu verstehen, derart mit den Journalen und andren Rubriken („Kapiteln“) verschmolzen, daß es sich eh erübrigte. Nun allerdings, in der neuen Situation, bedaure ich es, weil es die Suche nach den einzelnen Beiträgen einigermaßen mühsam macht. Mehr als für mich selbst allerdings wird es für andere später mal ein Problem sein, so es solche, andere also als mich geben wird, die DIE DSCHUNGEL durchstöbern.
Insofern hätte ich solche Numerierung jetzt gerne wieder. Das letztgezählt-ausgewiesene Stück trug die symbolisch enorme Nummer 13, auf die noch die nur im Text-selbst, nicht schon in der Überschrift, genannte → 14 folgte. Alles weitere zum Thema ist nur noch, wenn überhaupt, mit „ff“, „fff“ usw. zugeordnet oder gar nicht. Dennoch wähle ich jetzt, indem ich die Serie wieder aufnehme, die Anschlußnummer 15.

Daß ich sie wieder aufnehme, ist eine poetische Notwendigkeit des ARBEIT UND STRUKTUR–Charakters meiner Poetik, doch daß ich mich auf Herrndorf und, freilich gelinder, auch Schlingensief beziehe, ein Gebot der poetischen Redlichkeit. Niemand von uns schreibt geschichtslos; das gilt in diesem Fall auch dann, wenn ich seinerzeit weder jenes noch dessen Aufzeichnungen mitgelesen habe, was bei Herrndorf daran liegt, daß ich ihn als Romancier für schwer überschätzt und gegen sein berühmtes, doch, seien wir ehrlich, reichlich schlichtes TSCHICK mit allem sowohl stilistischen wie kompositorischem Recht Kjærstads viel zu wenig rezipiertes ICH BIN DIE WALKER BRÜDER gehalten habe, worin moderne Jugendsprache eben nicht imitiert, sondern auf eine Weise erfunden wird, die sogar meinen damals noch jungenhaften Sohn, nachdem ich ihm draus vorgelesen (er hatte sich über die von der Schule geforderte Tschick-Lektüre aufgeregt, weil da „jemand so tut, als spräche er wie wir“) … also, nachdem ich ihm dreivier Seiten Kjærstad vorgelesen, ausrief: „Ja, genau! So sprechen wir!“ Was nicht stimmte. Kjærstads Buch ist eine komplette Kunstsprache, aber eben poetisch von solchem Geschick gesetzt, daß sich noch Jungens und Mädchen in vierzig Jahren werden damit identifizieren können, auch wenn deren Jugendslang längst ein völlig anderer. Dabei geht es nicht nur um „in“ne Begriffe wie „ätzend“ für „gräßlich“, „geil“ für „klasse“ (in meiner eigenen Jungenzeit sagten wir „toff“) usw., also Wörter, die so schnell veralten und ersetzt werden, daß wir dabei zusehen können, sondern vor allem um Rhythmik und also Satzbau.
Das spielt seit ARBEIT UND STRUKTUR aber keine Rolle mehr. ARBEIT UND STRUKTUR dürfte, weil „plötzlich“ Existenz direkt angesehen und erlebt und eben mitgeschrieben wurde, dasjenige sein, was von Herrndorf bleiben wird – und nun mit tatsächlichem Recht und wahrscheinlich über Schlingensief hinaus, der freilich, wie Phyllis Kiehl gestern anmerkte, „auch kein Schriftsteller“ war.  Deshalb muß der von mir sonst gemiedene Herrndorf hier für mich bedeutsam sein — abgesehen davon, daß mich die von ihm frei gewählte Todesart – was sie nämlich an auch moralischen Vorüberlegungen implizierte – beeindruckt hat, vergleichbar nur noch mit Gunter Sachsens, der seinen Schritt zudem mit einem Satz versah, der von mir stammen könnte (nunmehr würde der meine von ihm stammen):

Der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben wäre ein würdeloser Zustand, dem ich mich entschlossen habe, entschieden entgegenzutreten.

Beider Todes,ich schreib mal,technik allerdings, sich zu erschießen nämlich, wäre meine nur Zweitoption, abgesehen davon, daß es dem schwerreichen Sachs ein leichtes gewesen sein wird, sich eine Feuerwaffe zu besorgen, während es sich meiner Kenntnis entzieht, woher Herrndorf die seine bekam. Aber selbst angenommen, er hat sie auf dem Schwarzmarkt besorgt oder übers Dark Net, wird die Anschaffung immer noch einiges Geld gekostet haben. Über das meinerseits ich nicht verfüge. Herrndorf bezog deutlich höhere Tantiemen allein in einem Monat als ich in einem Jahrzehnt.

Das Leben als Roman betrachten, nunmehr mit drinnen dem Krebs. Möglicherweise ist solch eine Sichtweise nur Autorinnen und Autoren möglich, jedenfalls Künstlern, die es für ihr Werk ohnedies, nämlich notwendigerweise, gewöhnt sind, sich in fiktionalen Zusammenhängen zu sehen, ohne aber, wie seit je für mich wichtig, nur Beobachter und gleichsam Protokollanten zu sein – eine oft gängige Autorenhaltung, wie sie besonders Genazino kultiviert hat. Für mich und meine Poetik ein absolutes No-go. Sie wissen, Geliebte, wie wichtig es mir mein Leben lang war, zugleich immer mitten drin zu sein und es zu durchrauschen, zu durchleiden, mich durch es, sagen wir, durchzufuttern. Auszuschöpfen, was nur geht. Undistanziert, eben.  Aber allein der Umstand, daß wir uns irgendwann an den Schreibtisch setzen – oder wo immer wir arbeiten mögen; manche am liebsten (für mich gleichfalls unvorstellbar, doch immerhin mir ziemlich sympathisch) im Bett (oh dahingegossen, Autorinnen, auf dem Divan!)–, führt zu einer fast simultanen Spaltung ins Subjekt des Anschauens wie Angeschautwerdens. Nur in den Momenten des Glücks fällt beides zusammen, siehe Borges → dort, Das Glück ist schön für sich. Deshalb entzieht es sich der Kunst.
Anschaun indessen ist aktive Gestaltung, Angeschautwerden heißt auch: geführt sein, wenn es angeschaut wird, nämlich vom Anschauenden. Er macht sich, insofern er zu einem Teil immer die Figuren selbst sein muß, die er schafft (und die nur dadurch zu Personen werden), zum Objekt seines Gestaltens. Ich sehe einen Dichter kurz nach seinen sogenannten Besten Jahren vor mir, den der Krebs erwischt. Wie würde ich an seiner Stelle damit umgehen, wenn es das Thema eines Romans oder auch nur einer kürzeren Erzählung ist und er tatsächlich wär nicht ich „selbst“, sondern, eben, Figur? (Hier spielt jetzt die Frage der Intention eines Textes hinein, also die der Autorin/des Autors persönlich. Will er eine Botschaft vermitteln, die er schon mitbringt und die also von der Ästhetik selbst nicht abhängt, sondern diese wird nach jener gewählt und auf sie draufgestülpt, oder wird sich „die Botschaft“, wenn überhaupt, aus der Bewegung der Erzählung erst ergeben? Was wiederum bedeutete, daß diese Botschaft auch etwas sein kann, das den persönlichen Meinungen des Autors/der Autorin sogar widerspricht.) — Wie dem auch sei: Vermag die Romanperson durch ihre Haltung ihr Schicksal zumindest mitzuformen?
Daß dem so sei, ist die Hoffnung, die jedem ich schreibe es bewußt emphatisch – wahren Erzählen inneliegt.

Dies gilt nun auch für den Krebs. Das Leben als einen Roman zu betrachten, bedeutet Selbstermächtigung und möglicherweise die Initiation eines Selbstheilungsprozesses. Zwar gibt es darauf keine Gewähr, sondern alles andere als das, aber als Möglichkeit mitbestimmt sie das Geschehen auch außerhalb des fiktionalen Raums, nämlich in der Alltagsrealität. Die Haltung meines Ichs als einer Figur überträgt sich auf mein Ich als realer Person. Es ist wie mit den, im monotheistischen Verstand, Namen:

(…) außer du lehrtest mich zuvor den wahrhaften und unverstellten Namen Gottes, kraft dessen du auffährst, wenn du ihn aussprichst [Unterstreichung von mir, ANH].
Th. Mann, Joseph und seine Brüder, I,99

Denn, so eine Seite vorher (ich habe die Stelle schon oft in DER DSCHUNGEL zitiert):

Auch die Tiere schämen sich und kneifen den Schwanz ein, weil wir sie wissen und über ihren Namen befehlen und die brüllende Gegenwart ihres Einzeltums entkräften, indem wir ihn ihr entgegenhalten [Unterstreichung von mir, ANH].

Setzen wir hier an die Stelle der Tiere den Krebs, so wird Ihnen, Freundin, die beschworne Dynamik sofort klar:

Wäre er nur gekommen mit Fauchen und gehässiger Nase, lang schleichenden Trittes, so hätte er mir doch den Sinn nicht geraubt mit seinem Schrecken und mich nicht erbleichen lassen vor seinem Rätsel. [Unterstreichung von mir, ANH].

Sich den Sinn nicht rauben lassen, auch dann nicht, wenn der Löwe, der in der Erzählung gemeint ist, den, der seinen Namen weiß, dennoch reißen kann und auffrißt. Es ist dieses, was ich mit „Haltung“ meine und gemeint immer so habe — auch wenn, wie Phyllis mir gestern erklärte, nachdem ich ihr von meinem Staunen, ja meiner Ergriffenheit über all die teils öffentlichen, teils privaten Nachrichten und Zuschriften erzählt hatte, die ich aufs gestrige Journal hin bekam … tatsächlich habe ich in meinem Leben niemals zuvor auch nur entfernt solche, ja, Wogen des Respekts erfahren und der Zustimmung zu meiner poetischen Arbeit … — die mir also erklärte: „Die Leute haben deine Äußerungen immer für Attitude gehalten und begreifen erst jetzt, daß es eine wirklich existentielle Haltung war, die auch dann noch hielt und hält, wenn du schwer bedroht bist. Daher jetzt die vielen Äußerungen von Respekt.“
Wobei, ob sie halten tatsächlich werden, genau jetzt in der Prüfung steht. Der Krebs und mein Umgang mit ihm wird zur Nagelprobe poetischer Wahrhaftigkeit. Genau nun dieses führt in das Leben als Roman zurück, das Leben, als Roman begriffen. So wird die alte Beitragsserie aus der inneren Dynamik DER DSCHUNGEL reaktiviert, ohne daß ich das wollte. Wer, Geliebte, wollte schon Krebs? Ein Narr, ein Idiot! Doch die Geschichte schreibt sich selbst, und ich, ihr Autor, muß nun zeigen, ob ich mit ihr und ihrer Hauptfigur standhalten kann. Die erfundene Person läuft ihrem Erfinder vorweg.

Nun gedankenspielen Sie noch folgendes mit:
Ob wir zuversichtlich oder verzagt sind, bestimmt unsere Reaktionen auf das, was uns begegnet und auf uns einwirkt, ob bedrohend oder nicht. Was Handlung von uns verlangt. Jemand Ängstliches wird sich anders verhalten als jemand voll Mut. So bestimmt denn das Innen das Außen und — schafft Realität, somit neue Wirklichkeit, also das, was wirkt (und weiterwirken wird).
Ich schreibe hier keinen Mystizismus, vertrete keine künstlerische Esoterik, sondern erkenne einen, quasi, Naturprozeß, zumindest eine ihn leitende Dynamik. Darum liegt hierin, in ihr, – oder kann darin liegen – die Kraft der Religionen (deren, aber das ist ein anderes Thema, Glaube immer an Riten gebunden ist; in der Kunst sind die Riten die Form). Ich halte es für enorm wichtig, das zu verstehen.  Es ist völlig unwichtig, ob es den EInen GOtt gibt. Allein, ihn sich vorzustellen und zu glauben, führt dazu, daß etwa von Bach die Matthäuspassion entstand, die ihrerseits, und da landen wir in der nüchternsten, meßbaren Ökonomie, zahllose Mitwirkende, in diesem Falle Musikerinnen und Musiker, faktisch ernährt. Was sich im Bruttosozialprodukt niederschlägt. Denken Sie nur: Die GOtt genannte Fiktion ein signifikanter Posten des pekuniären Volksvermögen!

Das Leben als Roman begreifen. Den Krebs als Motiv einer, vielleicht der letzten, Dschungelerzählung.

[Poetologie]


>>>> Das Leben als Roman 16
Das Leben als Roman 14 <<<<

5 thoughts on “Das Leben als einen Roman betrachten (15): Krebstag 2.

  1. Auszug aus einer privaten Korrespondenz von heute (mit Ina)

    „(…) was für ein wechselvolles Wetter heute an diesem ersten Mai, jetzt wieder Sonne… denke gerade sehr an Alban. Er hat in seinem gestrigen Eintrag mitgeteilt, dass er die Diagnose Magenkrebs bekommen hat… ein böses Karzinom, ob es gestreut hat, erfährt er kommende Woche…. jetzt kommen die Gaffer und Trittbrettfahrer und Sensationsgeilen auf den Plan, die ihn ewig nicht gelesen haben und nie bei ihm kommentiert, er hatte Hemmung darüber zu schreiben, aber nur kurz, weil er nicht als eine Herrndorf-Nachahmung etikettiert werden wollte…. dessen Blog wurde auch erst gelesen und verlinkt, als es auf das Ende zuging. (…) da schauen einige interessiert zu. Wenn man in seiner Blüte und Kraft ist, ist man nur interessant, wenn man eh schon viel Erfolg hat und entsprechende Publicity… ich wette, jetzt gibt es wieder ganz viele regelmäßige Kommentare bei Alban und Verlinkungen zu ihm, weil die Leute wissen, dass sie mit ihrer Schleimspur einen Hinweis auf sich selbst geben…. ach Gott.“

    1. Den Eindruck teile ich nicht, sondern habe eher den Eindruck, daß viele, die sonst „leise“ mitlesen, wirklich getroffen sind – vielleicht auch, weil diese Krankheit tatsächlich jeden von uns erwischen kann, aus welchen Gründen auch immer. Die meisten Zuschriften sind zu persönlich gehalten, als daß Inas Endruck stimmen könnte.

  2. Das waren meine Worte, nicht Inas, aus einer Konversation mit ihr.

    (ich zitiere auszugsweise, was ich gerade backstage schrieb, nun geht das Kommentieren ja wieder)

    Ich meine  ganz sicher nicht dir schon lange zugetane Leser, die bislang passiv blieben, vielmehr erinnerte ich, gerade weil du auch Herrndorf erwähntest (und seine gar nicht so überragenden Veröffentlichungen vor seinem Krankheitsjournal), wie er quasi „über Nacht“ entdeckt wurde und weitergereicht und rückwirkend alles, was er je produziert hat, heilig gesprochen wurde, als ob seine Krankheit und das tragische Ende das moralisch verlangt hätte.

    Ganz davon abgesehen, habe ich keine Veranlassung zu schmälern, was an Mitgefühl und Zuwendung zuteil wird, und genauso wenig an echtem Interesse und Hochachtung deinem Lebenswerk gegenüber. Ich wünsche mir sogar ganz viel davon und vor allem weitere Kapitel, die etwas mit Erfüllung  zu tun haben.

    1. Ah, danke für diese „Richtigstellung“.Ich hatte reagiert, weil Phylis Kiehl angemerkt hatte, sie fände es ausgesprochen bedeauernswert, wenn nun, daß so viele sich – und wie sie sich – äußern, quasi einen auf den Deckel bekäme, was einige dann könne wieder zurückschrecken lassen, von denen sie sehr froh sei, daß sie sich äußerten. Sie, Frau Kiehl, meinte vor allem die sehr vielen „stillen“ Leserinnen und Leser, deren Natur sie oft darin hindere, sich zu Wort zu melden – nicht nur hier in Der Dschungel, sondern auch im sonstigen Leben, wobei es in Der Dschungel eben verschärft sei, weil immer mal wieder mit teils sogar heftigen Attacken von Trolls zu rechnen ist, auf die dann kämpferisch ragiert werden müßte. Wozu auch sie selbst – aber sie wisse es, besonders wenn es Frauen sind, von vielen anderen, deren Bedürfnis, sich ins Scheinwerferlicht zu stellen, ihrer Erfahrung nach deutlich geringer als bei Männern sei – … – wozu also auch sie selbst oft schlichtweg keine Lust habe. Zumal einige solche von Trolls – und auch anderen meiner nämlich entschiedenen Gegner – in Absicht und Zielrichtung zu durchschaubar seien, um sich die nervende Müßigkeit solcher „Diskussionen“ anzutun. Es bedeute dann ja doch immer nur Unleidlichkeit.
      Dies sofort bedenkend, schrieb ich meine Antwort.

  3. Genau, Alban. Sich als Mitlesende „bedeckt“ halten zu wollen, ist kein Indiz für eine unbeteiligte oder gar abwehrende Verfassung, sondern oft schlicht ein Bedürfnis nach Privatsphäre.
    Dass die Dschungel sind, was sie sind, zieht ja durchaus Menschen an, die von all dem hier explizit Ausgesprochenen eben deswegen fasziniert sind, weil sie das radikale Herauspräparieren der eigenen Wahr:nehmung eben n i c h t in der eigenen Natur haben. So geht’s jedenfalls mir, obwohl auch ich entblößen kann. Dann aber nicht als ästhetisches Prinzip eingesetzt, sondern als Privatperson entschieden.

    Ich würde mal davon ausgehen, dass sich unter Deinen Krebs-Texten keine Kommentare einfinden werden, die Dich als Person öffentlichkeitsheischend verletzen wollen, dazu ist Deine Diagnose zu schwerwiegend. Eine solche  Bedrohung kommentierend zu begleiten, erfordert Wahrhaftigkeit. Und wer weiß, wie viele von uns sie selbst einmal am eigenen Körper erleben werden.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .