Lo, the lilies of the field! How their leaves instruction yield! Reginald Heber A Book of Hymns for Public and Private Devotion (1866) |
Dante Gabriel Rossetti Ligeia Siren (1873) (Bild ©: → wikipedia) |
[Arbeitswohnung, 6.15 Uhr] |
Früh schon war sie bei ihm. Bei ihrer ersten Begegnung selbst noch ein Kind, wußte sie nicht, wer sie war, und was. So spielte sie mit dem Jungen, der mit den anderen nicht spielte oder doch kaum, Fangmich!, Fangmich! und Verstecken. Wie tödlich seine Lilly war, wußt’ er indes schon mit zwölf. Doch konnt’ er sie nicht meiden, die, als sie fortzog (er weiß bis heute nicht, wo sie zuhaus war, sah niemals ihre Eltern; immer des abends verschwand sie im Wald — wenn sich das zwar dichte, doch nicht allzu ausgedehnte Gehölz oberhalb des Franzschen Feldes so nennen läßt; nicht selten verschwand sie auch in den überwucherten Tiefen des aufgelassenen Friedhofs, den es heute nicht mehr gibt, Braunschweig, zwischen Katharinenstraße und Rebenring; unterdessen ist es ein Park).
Seit sie nicht mehr da war, blieb sie in ihm. Doch daß Lilly es war, wußte er nicht. Denn auch nur dann machte sie sich bemerkbar, wenn der Junge nicht mehr aus und ein wußte, weil es keine Möglichkeit gab, sich zu wehren. Er hätte sich abfinden müssen. Was er aber nie konnte. Dabei warnte und warnte sie ihn, wenigstens einmal pro Jahr. Dann krümmte er sich und konnt’ sich nicht rühren; einmal, bei einem solchen Anfall, fiel er sogar vom Rad und bog sich, auf dem Gehsteig, um seinen Bauch.
Er wurde in die Klinik geschickt, allein, das Köfferchen in der Hand, ging er hin. Zweidrei Tage blieb er dort, wurde, seiner Erinnerung nach, nicht einmal besucht, nicht von der Mutter, nicht von dem Bruder. Die Ärztinnen und Ärzte wußten nicht, was er hatte, bekamen es auch nicht heraus. Selbst auf den Röntgenbildern war Li nicht zu sehen. Und blieb ihm doch für sein Leben.
Ich stell sie mir blond vor, ein bißchen wie → Svenja. Daß stets der Schmerz wieder wich, lockt’ ihn indes zu dunklen Frauen, die Sirenen waren: So sangen ihre Augen. Drei, fast vier Jahrzehnte später fragte ihn sein Psychoanalytiker: “Weshalb verbinden Sie Liebe stets mit dem Tod? Sie suchen, als wäre sie Eros, Gefahr.” Er hatte auf dem Ätna, ganz oben, gestanden, als er ausbrach, er war den glühenden, rauschhaft langsam, doch unaufhaltsam kriechenden Lavezungen gefolgt. Er spielte mit Frauen gefährliche Spiele, sie spielten sie mit ihm. “Fruchtbarkeit”, gab er zur Antwort, “ist, wo der Tod ist.” Und wieder warnte ihn Li. Eine nächste Nacht lag er starr, konnt’ sich nicht rühren vor Schmerz. Als er vorüber, zog’s ihn zur nächsten Gefahr. Li war das Zentrum seiner Kraft. Als ihm bewußt ward, kein zweites Mal mehr ein Vater zu werden und die Fruchtbarkeit ihn also verließ, und dennoch hörte er nicht, verließ ihn seine kreative Potenz. Er hatte Li nichts mehr entgegenzusetzen, ihre Balance brach entzwei.
Die Legende von Lan-an-Sídhe, einer vampirischen Sirene, erzählt, sie schenke den Dichtern die Inspiration und sauge zum Ausgleich das Leben aus ihnen, das sie ernährt. Es ist ein vielleicht unheimlicher, letztlich aber fairer Tausch. Sie verlangt nicht, daß man sich hingibt, sie lockt auch nicht: Für ihre Schönheit kann sie nichts und auch nicht für ihren Gesang. Dann kommt so ein Knirps, sagt “So gibt mir”, und sie sagt: “Dann | wirst du mein.” Zu leben bedeutet, zu zeugen und zu töten, das Leben wollen, dies zu akzeptieren. Die Frage ist immer nur, wie.
Niemals anerkannte er Autoritäten, wohl aber Autorität. “Paß dich an”, sagte seine Mutter, “Akzeptiere die Macht”, sagte die ihre, “sonst zerschlägt sie dich.” “Füge dich ein”, fügte die Mutter hinzu. So sagten es, außer wenigen, seine Lehrer. Er hörte nichts, nur wie Li sang. Ein-, manchmal zweimal pro Jahr mußte er zahlen, stets direkt unterhalb der Stelle, um die sich nun der Tumor gelegt hat. Es ist der Sitz des Manipura-Chakras, das die Schöpfungskraft beschreibt und bestimmt. Seit dort die Lösung, von der sich Li – es war und ist’s noch, ein Vertrag – sein Leben lang ernährte, nicht mehr wirklich fließt, ist sie dort gewachsen, um sich woanders her, was sie fürs eigne Leben braucht, aus seinem Leib zu nehmen. Auf → diesem Bild kann man es sehen, auch ihre fremde und enorme Schönheit (aus Copyrightgründen darf ich’s hier direkt nicht zeigen; das stört nun eine wenig den Rhythmus des Satzes). Sie wird wieder schwinden, wenn ich die Quelle erneut zu öffnen vermag, so daß sie wieder sprudelt.
“Ich werde sie öffnen”, sagte ich nach dem Aufstehn zu ihr, während ich die duftenden Espressobohnen mahlte. “Ich verspreche es dir, Li.” “Dann mußt du”, gab sie zur Antwort, “zu sublimieren lernen – etwas, das du niemals vermochtest, noch gar es zu wollen. Du mußt mich sublimieren, den Eros woandersher beziehen als aus der Vitalität deines Körpers und seiner Fruchtbarkeit. Es ist dies, womit du dich nun abfinden mußt. Dein Kampf dagegen war großartig, schau mich an, wie ich leuchte: Er hat mich, wie ich dich, himmlisch versorgt. Nun sorg für mich anders. Ich bin bereit, aber möchte nicht sterben, genauso wenig wie du.”
Ich schäumte die Milch auf. Ob ich dies weiterhin tun darf, weiß ich noch nicht. Gestern hat लक्ष्मी mich auf ketogne Diät gesetzt. → Schau es Dir, Lillyli, an. Allerdings ist die “Methode” umstritten. Nur sind es andre Methoden genauso. Es bleibt, o Sirene, bei dem Befund, daß wir glauben müssen. Woran indes, ist persönlich.
Ich, Li, glaub nun an Dich.
Ein intensiver Brief Benjamins Steins hat mich erreicht, der Zweifel daran hat, ob es sinnvoll sei, über meine – doch ist es das denn? – Erkrankung öffentlich zu schreiben. Aber darum geht es ihm nicht, vielmehr:
Ein Karzinom, denke ich, nicht. Es ist Fleisch von unserem Fleisch. Wir selbst haben es hervorgebracht. Wenn wir ihm einen Namen geben wollen, müsste es unser Name sein. Und wenn wir mit ihm sprechen wollen, müssen wir uns klar sein, dass es ein Selbstgespräch wäre. (…) Schön daran: Während Du im Strick, in der Pistole erstaunlicherweise nicht, ein Schuldeingeständnis siehst, wird nun niemand behaupten können, in einem Krebstod läge irgendeine Art von Eingeständnis. Das ist ein so poetischer Ausweg, wie ihn nur das Unbewusste eines Dichters erdichten und damit in die Welt bringen kann. (…) Wenn Du Erkenntnis willst, dann musst Du umgehend anfangen, mit Dir zu reden. Stolz und Geltungswunsch kannst Du dabei gleich mal beiseite lassen.
Er schreibt, mir dies zu schreiben, sei übergriffig und eine Zumutung. Ich empfinde das Gegenteil. Es ist vielmehr ein Übergriff, wenn ich seine Sätze hier zitiere. Doch indem ich Li poetisch begreife und auch so spüre, ist sie, ganz wie ich selbst bin, ein Teil meines Werks. Ich war von ihm nie zu trennen. Dennoch werde ich auf den Brief privat, nicht hier antworten und eben dies aus Achtung und Respekt vor dem Freund. Liligeia, verstehe mich bitte: Sein Verhältnis zu sich, zumal es einen GOtt kennt, ist ein andres als meines zu mir – zu also Dir, die, wenn es einen für mich gibt, immer EIne war und weniger GOtt als Naturgeist, -geistin, und zwar eine unter vielen. Nur daß diese sich, Du Dich, so mir zugewendet hast wie ich mich meinerseits Dir.
O Li, wie klingt dies alles esoterisch! Ich möchte lachen, bin aufs komischste verwirrt. Zugleich aber klar, weil mir plötzlich möglich wird, das unvorstellbare Letzte noch einmal, und nun an mir selbst, Dichtung werden zu lassen, das ich allein durch mein Vorhaben mit dem TRAUMSCHIFF in gewissem Sinn gelästert habe.
Erinnere Dich. Als ich mit dem mir damals noch engst befreundeten Profi zu meiner ersten Kreuzfahrt aufbrach – ziemlich genau neun Jahre ist es her – , der nur kurzen, gleichwohl intensiven, auf der mir zum TRAUMSCHIFF die Idee kam, hatte er, der Freund, zwei kleine Urnen dabei, darin die Asche seiner an Krebs (!) verstorbenen Geliebten, einer vertrauten Freundin auch mir. Die Bamberger Elegien sind ihr gewidmet.
Der Profi war noch tief in Trauer.
Wir ließen das erste Ürnchen südlich Nizzas ins Meer, das zweite in der Enge vor Gibraltar. Dazu öffneten wir eine Flasche Rotwein, ein russischer Pianist war mit bei uns. Vier Gläser. Drei für uns, eines für Ursula, das wir wie die unseren füllten, aber dem kleinen Gefäß hinterherfließen ließen, nachdem wir angestoßen hatten. — Ist es falsch, in dem Geschehen eine Vorwegnahme für das zu sehen, was nun geschieht, nachdem ich den Roman dann wirklich geschrieben und veröffentlicht habe? Schon damals, als er erschien, sagte ich zu meiner Geliebten, ich hätte das Gefühl, eine Blasphemie begangen zu haben — nicht, weil ich mich erdreistet hatte, sondern weil ich dem Sterben so nahe gekommen, wie es im Leben stehenden Menschen verwehrt ist, vielleicht verwehrt sein auch muß. Daß es mir dennoch, Li, gelang, auch das verdanke ich Dir. Nun läßt mich Deine Klarheit, meinem Radikalen völlig gemäß, in selber Münze zahlen. Und ich, ich gehe weiter.
Ich verstehe Benjamins Unbehagen dabei. Auf die erste Blasphemie setze ich nun noch die zweite und beharre auf der wechselseitigen Unablösbarkeit von Person und Werk. Ohne das eine ist auch die andre nicht einmal denkbar. Dies war künstlerisch immer mein Credo — ein so empfundenes, nicht konstruiertes. Ich erinnere mich, wie erbost लक्ष्मी war, als ich ihr vor Jahren sagte, es geschah am Helmholtzplatz auf der Raumerstraßenseite, auch mein Sohn sei ein Teil meines Werks. Daß ich so nun auch Dich, Ligeia, sehe (und den Namen einer Figur gewählt habe, die mich seit meinem ungefähr fünfzehnten Lebensjahr wieder und wieder beschäftigt, so sehr hat sie mich geprägt), ist künstlerische Existenzlogik, egal, ob boshaft formuliert werden kann, daß ich nun auch die Krankheit inszenierte. Sie ist aber da und ein Teil von mir. Auch Du, Li, bist, um es nochmal mit Benjamin zu sagen, Fleisch von meinem Fleisch. Und daß ich versuche, Dich gestaltend zu integrieren, ist ein Verarbeitungsmodus, der mich verstehen – und erschaudern drüber – läßt, wie furchtbar diese Krankheit für Menschen sein muß, die solche, sagen wir, Technik nicht zur Verfügung haben, sondern sich in jeglicher Weise ausliefern müssen. Daß der künstlerische Modus zusammenbrechen wird, auch mir, wenn der körperliche Schmerz zu überwältigend geworden sein wird, um überhaupt denken noch zu können, gibt ihm nicht unrecht. Im Gegenteil, es unterstreicht das Menschliche, Menschenmögliche des Vorgangs.
ANH
P.S.: Ob ich morgen und übermorgen in Der Dschungel schreiben werde können, ist der dann im Krankenhaus auf mich zukommenden zahlreichen Untersuchungen wegen mehr als ungewiß. Aber ich werde es versuchen. Mein Zenbook nehm ich auf jeden Fall mit.
Ich hoffe, Sie verstehen mich und nehmen es mir nicht übel, wenn ich sage, dass ich diesen Text, und die beiden davor schon, viel spannender finde, als die Nabokov-Texte ! Dies sicher auch, weil ich die Bücher nicht mitlas. Ihre Einstellung, sich mit der Situation “anzufreunden”, sie zu gestalten, ist grandios und stellt sicher einen Wendepunkt in Ihrem Leben und Schaffen dar. Alles Gute für die nächsten Tage ! Und: möge Ihnen der nicht-körperliche Eros gelingen!
Ludwig Wittgenstein war in dem halben Jahr, das ihm blieb, als er erfuhr, er sei an Krebs schwer erkrankt, am tatkräftigsten – was sein Werk betrifft. Er wurde nur 62 Jahre alt und hatte zu Lebzeiten gerade einmal ein wichtiges Werk veröffentlicht: Tractatus logico-philosophicus
Er zählt heute zu den bedeutendsten Philosophen seiner Zeit und darüber hinaus.
Lieber Herr Herbst, zu Ihrer Erkrankung, die fürchterlich ist, kann ich hier nichts Sinnvolles beisteuern, vielleicht nur so viel: Seien Sie auch weiterhin tatkräftig und überlassen Sterben und Tod den Menschen, die sich professionell damit beschäftigen. Leuchten Sie weiterhin hell. Sie kennen das Zitat aus dem Film “Blade Runner”?
“Das Licht, das doppelt so hell brennt, brennt eben nur halb so lang, und du hast für kurze Zeit unglaublich hell gebrannt, Roy.”
Hmm…
Merkwürdigerweise erzeugt mein Text eine Bugwelle kryptischer Stylesheet-Kodierung.
Ist Ihre Website erkrankt?
Oh, das kann ich Ihnen nicht sagen, sondern muß den technischen (und auch internetphilosophischen) Betreuer Der Dschungel fragen nur nicht mehr heute, weil ich morgen sehr früh ins Krankenhaus muß und erst am Mittwoch wieder zurück sein werde. Zwischenstop sozusagen.
Seien Sue gegrüßt, ANH
Caro Alban, in bocca al lupo sagen die Italiener.
Ich wünsche Ihnen, daß die Untersuchungsergebnisse Möglichkeiten eröffnen, daß Sie Zeit gewinnen, intensive Lebens- und Schreibzeit. Con tutto il cuore Sabine
….eine befreundete Musikerin hat mir gerade in Erinnerung gebracht, dass Claudio Abbado nach seiner Erkrankung (mit Entfernung des Magens) noch viele wunderbare Jahre hatte… viel mehr als nur fünf…
Und bekannte und Schulfreunde durchlitten erst fürchterliches Erschrecken und dann eingutes leben bis jetzt schon ca mehr als 50 Jahre und mehr oder weniger hin und her gerissen 15 Jahre . Weil es ist auch Biologie beidseits der statistischen Mittelwerte mit Erstaunlichem in jedwede Richtung. Somit herzliche Grüße vom G aus dem Nordend. Schick doch mal ein Bild von deinem Sohn. Sah ihn ja in Berlin als Knirps *