Das zweites Sanajournal. Als, an Liligeia, Brief des Dienstags, den 5. Mai 2020. (Krebstag 6,ff).

[Aufenthaltsraum Sana 4.2, 5.25 Uhr]

Mit Zenbook und Ifönchen bin ich, nachdem ich denn um fünf nun schon wach war, hierhin gezogen, um meinen Mitbewohner, der eine etwas schwierige Nacht gehabt, nicht mit meinem klackernden Dauergetippe zu stören. Außerdem, hoffte ich, gibt’s vielleicht schon einen Kaffee. … — … — Nein, schad, gibt es noch nicht.  Aber es ist, → meine Li, ja nicht so, daß es Du wärst, was mich zu arbeiten hindert, Du treibst mich im Gegenteil an. Sondern es sind die langen, langen Leerläufe, die solch ein Krankenhaus mit sich bringt … – ah nein! nicht fürs Personal, schon gar nicht die Ärztinnen und Ärzte, die sind rundum mehr als beschäftigt, haben mehr als „zu tun“. Es ist vielmehr, daß ich als Patient (wie jeder andre solche) immer wieder warten muß, weil ich selber kein aktiver Teil des Geschehens bin. Und weil dies hier kein „Set“ ist, eines etwa zu drehenden Spielfilms, gibt es nicht mal Catering – das gestern allerdings a bisserl quälend gewesen wäre, da man mich bis zum Abend nüchtern hielt, ich durfte nicht einmal trinken.
Das Haus selbst ist angenehm, die Menschen sind, auch zueinander die Kollegen, freundlich, zugewandt; es gibt einen spürbaren Akzent auf jungen Ärzten. Mit gefällt das gut. Dir, denke ich, genauso. Ich meine, es geht ja sozusagen uns beiden an den Kragen oder soll es an ihn gehen. Das verbindet einen schon, auch über unsre … ich weiß nicht einmal, ob ich „Gegnerschaft“ schreiben soll … hinaus. Und auch mein Zimmernachbar ist freundlich, allerdings mit dem dringenden Bedürfnis, sich möglichst unentwegt auszutauschen, geschlagen; nach einer wie der seinen währenden, tatsächlich Jahrzehnte langen Krebsgeschichte allerdings kein Wunder. Ein Teil des Darms jetzt außen, was – schreibt man hier „was“, darf ich es schreiben? – gestern vorm LICHTAUS geleert werden mußte. Höchst seltsamer, fast artifizieller Geruch.
Mehrmals nachts ging das Licht an, weil mein Freund gedreht werden mußte, um 23 Uhr sogar, weil er Tabletten einnehmen sollte, die er andernfalls womöglich vergessen hätte oder deren Gabe an exakte Zeiten gekoppelt ist. Daß man einander, wegen der bizarren Nachthemden, die wir hier tragen sollen, dauernd den Arsch zeigt, nimmt man da schnell hin.  Das Bizarre an den Hemden ist nicht ihre Praktikabilität, sondern der so komplett fehlende Eros, daß wir alleine dieses Kleidungsstücks wegen wieder zum Kleinkind werden. So scheint es mir kein Wunder zu sein, wenn man irgendwann auch so behandelt wird, nicht aus bösem Willen, bewahre! Es ist vielmehr ein sich einschleichender Automatismus des Ansehnens, da wir Patienten eben auch selbst mit unseren Willensäußerungen sehr zurückhaltend sind. Wir können uns ja nur verlassen, nicht anders denn früher auf Mama und Papa. Gute Schwestern, Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte, sind solche, die von sich aus, soweit sie irgend überhaupt können, gegen diese Dynamik ansteuern. Doch schaffen, auf Dauer und gegenüber jeder und jedem, vermag es gewiß niemand.
Sie, die Dynamik, würde indes, meine Li, auch Dir nicht gerecht, obwohl sie auch Dich in die Klammer nimmt, sie Dich von außen, Du mich von innen. Voilà, so sieht’s aus. Immerhin läßt Du mich noch weitgehend in Ruhe. Klar, ich spüre Dich. Du strahlst vor allem linkshoch ans Herz aus. Kenn ich noch gar nicht, kannte ich nie, Herzschmerzen. Ist echt neu, Du überraschst mich, Kompliment – aber täuschst mich nicht. Mein Blutdruck ist objektiv prima, mein Ruhepuls selbst hier, da ich ein bißchen angespannt bin, zwischen 50 und 60. (Ich kann’s ja selber messen). Haben die meisten Gesunden nicht. Also alles im grünsten Bereich.

Was wollt ich erzählen? Ah ja, die Warterei.
Nachdem bei der Aufnahme die Formalitäten erledigt (wir waren – Du, Li, und ich – bereits um Viertel vor acht da; um acht wurde geöffnet; die netten Mädels zogen uns vor) und wir in unser Haus 4 hinüberspaziert waren, stand ich da im zweiten Stock an der Anmeldung, vor der aber wartend ein Bett mit Patientin drin geschoben war, so daß sich schwer erkennen, wo vorzusprechen sei. Man kam auch gar nicht richtig heran. Also wartete ich fünf Schritte weiter beim Personalzugang, durch den es, das Personal, wie wehende Zugluft dauernd hinein- und hinauszog. Es war ziemlich einiges los.
„Und Sie?“ Unversehens. Man war auf mich aufmerksam geworden. Da kam auch ein Pfleger und schob das Bett von der Anmeldung weg – faszinierendes Geschick! riefst Du, Li, in mir aus, als wir spürten, ja, wir beide, wie elegant dieses Krankenhausbett, von seinem routinierten Kybernetiker gesteuert, um die problematischsten Ecken glitt. Hätten wir uns ansehen können, wir hätten uns mit offenen Mündern bestätigt, wie so voller Hochachtung wir waren. — „Und Sie?“ — „Oh, Entschuldigung, ja, ich. Also.“ — Weiter mit AhSieSindHerrHerbstJaWartenSieBitteMomentanEinBißchenVielLos, was ich aber ja schon ganz selber bemerkt hatte. Bienenschwarm, raus, rein, raus, Summen. Klar, um acht, oder kurz nacht acht, sammelt sich sämtliche Notwendigkeit, schon aus puren praktischen Ablaufsgründen. — „Sie könnten im Aufeinhaltsraum der Patienten warten“ … Merken Sie? hier schon dieses tiefste Antiherbst-Wort, insofern’s Geduld von mir will. – „Aber leider … da sind jetzt grad die Ärzte drinnen.“ In der Tat, die Kolleginnen und Kollegen besetzten den kompletten Raum — ja, genau diesen, in dem ich jetzt schreibe — bis auf den letzten Platz. Also gab es für die Ärzte kein eigenes Besprechungszimmer? Mag so sein. Aber vielleicht sind nur die Sitze bequemer oder, was mir am schlüssigsten vorkommt, der Raum liegt Haut an Haut mit der Station.
Ich stand immer noch an der Anmeldung, „meine“ Schwester war verschwunden, war irgendwohin gerufen worden; ihre Kollegin hatte mit Eigenem zu tun, sah dann auf und fragte: „Und Sie?“ — Hatte ich das nicht schon einmal gehört? Ich mußte lachen, erklärte kurz. — „Oh verzeihn Sie, es ist im Moment … na, das sehn Sie ja selbst.“ Immerhin stand meine Intelligenz nicht in Zweifel. „Vielleicht“, sagte ich, „darf ich nochmal nach draußen gehen … für ein halbes Stündchen? Die Luft ist so fein. Und wenn ich zurückkomme, ist wohl des Argste erledigt …“ „Nein nein, Ihr Bett ist doch schon bereit. Es muß nur noch …“ — Worauf es, das Nurnoch, dann schnell ging. „Meine“ Schwester kehrte zurück, sie war auf der Suche nach einem Schriftstück, dessen Fehlen noch meinen ganzen Tag begleiten sollte. Die Histologie war nicht da, ebenso wurde der genaue Befund vermißt, der meine Gastroenterologin zu ihrer Diagnose ge-,nun jà,sagen wir,-zwungen hatte. Später, endlich, endlich, weil eben viel später, ärgerte es die Gastroskopin ziemlich, wohl weil ihr so der nötige interpretierende Rahmen fehlte. Doch weiß ich unterdessen gut, welch Biest Du sein kannst, Li, wenn’s darum geht, Deinen Willen durchzusetzen. Deshalb mag ich an eine Schlamperei nicht recht glauben, sei’s die meiner Gastroenterologin, sei es eine des Krankenhauses oder seiner EDV — nein, meine schöne Ligeia, ich kenne Dich. Du bist abgefeimt genügend, um infam … sirenig, will ich mal sagen, wenn es Dir um Liebe geht und das, womit solche wie ich sie bezahlen.
Okay, es war eines, daß ich also Bescheid wußte, ein andres indes, es den Ärztinnen und Ärzten, Schwestern, Pflegern usw. am besten nicht zu sagen. Sie wüßten nichts damit anzufangen. Ja, mehr noch, wenn sie es wüßten, es würde sie ängstigen — ihnen so unheimlich sein, daß sie ganz ebenso hilflos würden, wie ihre Patienten es, letztlich, sind. Also behalte ich unser Geheimnis besser, Li, für Dich und mich. — Ah, ich höre Dich lachen … ah, dieses Silber in Deiner Stimme … Es ist, selbst wenn Du sprichst, ein Gesang.

Wie auch immer, ich lag nun im Zimmer, und nichts, aber auch gar nichts geschah. Mein Nachbar ging seiner Plaudernot nach — einer ans Herz gehend freundlichen, weil sie einen Freund, eher Kumpel, in dieser Krankheit brauchte (dazu aber später noch, vielleicht morgen) —, mich erreichten enorm viele Anrufe, SMSe, Whatsapp-Fragen, vor allem der Liebsten, aber auch entfernterer Menschen, die mir dadurch näher wurden, als ich je geahnt, geglaubt … und ich aber hatte das Ifönchen auf leise gestellt, weil ich meinen Nachbarn nicht stören wollte. Jedenfalls lag ich und lag ich herum — etwas, das ich tagsüber eh nicht ertrage, ich muß mich bewegen, und sei’n es nur meine Finger! Dennoch brauchte es fast anderthalb Stunden, bis ich begriff, daß es doch rein an mir selbst lag, ob ich lag … Da gab’s doch einen Tisch mit vernünftigen harten Stühlen davor, da konnt‘ ich das Zenbook aufstellen und auch lesen (dachte ich). Im Bett zu lesen, Sie, Geliebte, wissen es, und Du, meine Li, weißt es nunmehr auch, liegt mir einfach nicht, kommt mir falsch geortet vor, seit je. In Betten lieben wir uns oder wir schlafen: Alleine dieser Zusammenhang macht unser Idiom „miteinander schlafen“ nicht zur Idiotie. Und stell Dir, Li, einen Typen vor, der, wenn er in seiner Geliebten ist, zur Lektüre greift, während er vor und zurück … — Was müßte sie, die Frau, da denken?
Lach nur, lach nur, Li.
Aber, meine Güte, wann geht’s denn endlich los? „Wie öde“, smste ich meiner Lektorin, die ständig nach mir fragte und von sich erzählte, wie लक्ष्मी, wie auch wieder die Löwin, und wie Do. Dazu Christoforo Arco als ständigem fernen, nahen Begleiter, der mich mit neuen poetischen Projekten geradezu überschüttet; warmes, warmes Wasser, das über meine Haut hinab zur geliebten Erde, über meine Füße, läuft. — „Wie öde, diese Warterei!“
Doch es brauchte fast drei Stunden, bis sich der Zeitplan einer Ärztin erbarmte, ihr für mich Raum zu geben. Kurze Anamnese, Blutabnahme usw. Risikoaufklärung, hier unterschreiben, dort unterschreiben. Und eine weitere Stunde warten. Um sich auf einen eigenen Text, ja selbst Nabokovs ADA zu konzentrieren, keine gute Voraussetzung. Du weißt ja nicht, wirst du in zehn Minuten geholt oder in zwei Stunden … Es kann Dir auch niemand vorher sagen. Es liegt in der menschlichen Logik solch eines Hauses, die schon allein von den eintreffenden Notfällen permanent neu gemischt wird.

Nicht zu fassen, da war er, der Pfleger, und rollte mich hinaus. „Bitte die Hände im Bett sein lassen“, er hatte Humor, „damit die Chirurgie nicht gleich ran muß.“ Überhaupt, er roch auch noch gut! – Dunkler Männertypos, breitschultrig, schön. Ich hatte bereits die Mundschutzmaske überziehen müssen („Bitte die Nasenhalter anpassen, zusammendrücken“), er seine aber allezeit getragen. Und doch, Li, erkannt‘ ich die Schönheit. Allerdings, als ich ihn fragte … weißt Du, meine Li, ich kenne das Parfum … oh, ich bin von ihm benommen … – also als ich ihn fragte: „Sie tragen BACCARAT ROUGE?“, da wirkte er not amused. – Was ich verstehen kann. Würde mein eignes Parfum auf Anhieb erkannt, verlöre es gleichfalls an innerem Wert. So kann ich dem schönen Pfleger zu meiner Entschuldigung lediglich versichern, ich liebte die Frau, von der ich es kennte; nur deshalb wirke es so in mir. Hätten wir, er und ich, mehr Zeit gehabt, ich bin mir sicher, der schöne Mensch hätte dieses verstanden und wär mir dann nicht gram geblieben.
Aber wir waren angekommen, Tiefgeschoß eins, da eine Ecke mit vier, durch lose hellblaue Vorhänge sicht-trennbaren Parkplätzen, auf einem stand schon ein Bett. Auf einen freien wurde nun ich gerollt, und der Pfleger ging. Sein Duft baccarate noch für Minuten höchster Sensibilität gegen den sterilen Geruch der Anästhesie.

Nun also die Gastroskopie, wieder Betäubung, der Bioport war mir schon vorher gelegt worden. Ich bekam gar nicht mit, wie ich einschlief, hinterher waren zwanzig Minuten aus meinem Leben gelöscht. Bis jetzt weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll. „Gib es nicht doch ein Ressort“, fragte ich die Ärztin, „an dem unsere Gehirn solch Verlorenes speichert?“
Sie verneinte. Aber wer kann es wirklich wissen?
Stell Dir, Li, vor, wir könnten unversehens auf all diese, und andere, ältere, Erinnerungen wieder zugreifen! Welch eine Flut wäre es! (Und welcher Urgrund für Dichtung … die es aber vielleicht längst ist, nur daß wir es nicht wissen.) So erwachte ich wieder, war erneut auf den Parkplatz geschoben, Vorhang zu, hinter/oberhalb meiner Stirn das Meßgerät, aha, Ruhepuls 53, bestens, schwankte dann immer mal bis 60/61 hoch, zu 90/110 im Druck runter; auf meinen Unterbeinen, die unter der Decke, lag auf der Decke, eingeklemmt ins Clipboard, mein Befund.
Man dachte noch, daß ich schliefe. Mist, daß mein Ifönchen nicht bei mir ist, andernfalls ich das Papier abfotografiert hätte. Aber gut, erfülle, Εἶδος, mich!

Hauptmasse des Tumors subkardial / Magenwand echoarm / großer Tumorlymphknoten in der Magenwand / weitere, kleine (<4mm> Tumorlymphknoten in Kardianähe / ösophagisch sonst unauffällig (aus der Erinnerung)

kein wirklich, Du fiese, fiese Li-Sirene (aber schön, oh schön bist Du doch!), hoffnungsvoller Befund; man muß nur a bisserl nachdenken. Allein das Wort „Tumormasse„. Mein bester Freund hat mir vorgestern von seinem krebsverstorbenen Bruder erzählt: drei Kilo habe der herausoperierte Tumor gewogen. Drei Kilogramm! Li, selbst Du wirst Dich nun anstrengen müssen …
Ich solle bitte noch nicht interpretieren, bat mich die Ärztin, eine nächste, für meine Station zuständige oder auch nur für mich in anderer Hinsicht. Die Zuständigkeiten sind mir noch nicht wirklich klar. Jedenfalls brauche es erst ein Gesamtbild, vor allem mit morgen (also heute) der CT. — „Und | was dann noch?“ fragte ich. – „Nichts noch. Das wird es dann erst mal gewesen sein. Am Mittwoch die Tumorkonferenz.“ – „Aber dann muß ich doch nicht noch eine weitere Nacht hierbleiben, ist doch unnötig dann.“ – „Am Donnerstag brauchen wir Sie aber wieder hier zum Therapiegespräch.“ – „Klar, ich werd da sein. Und kann morgen dann ohne Druck den Termin bei meiner Angiologin wahrnehmen.“ – „Gut. Ich werde Ihre Entlassung in die Wege leiten.“ – „Bestens. Dank.“ Lächeln. Aber durch diese Mundschutze (oder heißt es „schütze“) zu flirten, braucht eine Vorstellungskraft, für die der Klinikablauf aus nachvollziehbaren Gründen keine Luft läßt.

Gesang kann Menschen als Schmerz begleiten. Ich will also nicht behaupten, daß ich Dich, Li, nicht spürte. Manchmal spüre ich Dich sogar sehr. Dann greifst Du zu meinem Herzen, dann stichst Du mit Deinem Giftzahn hinein, den ich seit → Niam Goldenhaar gut kenne. Ich weiß, Du willst es gar nicht, es ist nur Deine Natur. Ich bin Dir nicht bös, und Angst hab ich vor Dir nun schon gar nicht. Ich nehme Dich, von mir aus, ans Herz. Beiß also ruhig zu.
Am Abend, wenn’s ans Schlafen geht, machst Du Dich besonders gern bemerkbar. Reagier ich auf den Bauch nicht, dann halt wieder durchs Herz. Aber Du versuchst, meine Li, rein vergeblich, mich zu provozieren. Und sowie ich wieder am Laptop sitze und zu Dir schreibe, bin ich ohnedies stärker als Du – bis Du meinen Geist irgendwann abzustellen gelernt haben wirst. Nur mußt Du dazu findiger werden, als Du es bis jetzt bist. Ich seh Dich noch fast als Nymphette.

Die Sonne leuchtet über die Straße, in die ich von unserem – meines Zimmernachbarn und meinem – hineinsehen darf.

 

Dein (und, selbstverständlich, Geliebte, weiterhin auch Ihr)
ANH

 

 

 

********************

[11.57 Uhr:
Mahler IX, Tennstedt] 

In der Arbeitswohnung zurück:

(Zwei wichtige Briefe erreichten mich, aus denen ich gerne zitieren würde. Ich mag aber erst fragen. Nun mußt Du selbst ertragen, Li, was Deinem jetz’gen Haus so schwer.)

7 thoughts on “Das zweites Sanajournal. Als, an Liligeia, Brief des Dienstags, den 5. Mai 2020. (Krebstag 6,ff).

  1. Lieber Alban,

    gestern habe ich die „Krebstage „gelesen; es geht mir sehr nahe, da ich seit 2018 diese Torturen mitmache (Rektumkarzinom & Lebermetastasen) und um die Gefühle, Geräusche, Gerüche und alls das andere weiß. Zu Beginn der Erkrankung ist es noch recht abenteuerlich, nach der OP dann eher schmerzlich, während der Chemo jämmerlich und dann irgendwann hat man begriffen was man HAT. So ging es jedenfalls mir. Insgesamt begreife ich meine Krankheit als einziges großes Projekt – das hilft meistens (und beim Lesen Deines Blogs, meinte ich eine ähnliche Projekthaftigkeit zu erkennen, weshalb ich Dir jetzt kurz entschlossen schreibe).

    Deine Tapferkeit, die ich aus Deinen Zeilen lesen kann, wird Dir sehr helfen. Meine Gedanken sind bei Dir und Deinem Mut.

    Herzlich

    Ulrike

    1. Genau das, Frau Ulrike, ist es jetzt für mich, ein Projekt – und eben ein poetisches, weshalb es eine Liebesgeschichte sein oder doch werden muß; denn nur dann sind wir unseren Figuren nahe. Ich weiß, dies klingt ein wenig pervers und ist es – im Sinne des künstlerischen Umdrehens (pervertere: „umstürzen“, sogar „niederwerfen“) – sicher auch; nur liegt eben hierin eines der Geheimnisse von Kunst, die wir tatsächlich ein wenig mitbewirken können. Dabei ist mir völlig klar, was auf mich zukommen könnte und sehr wahrscheinlich auch wird; eben auch das, was Sie das Jämmerliche nennen. Es wird also Auf- und Abphasen meines Bewältigungsprojektes geben; wichtig scheint mir jetzt zu sein, die Aufphasen übrwiegen zu lassen. Doch selbstverständlich ist alles das für mich noch ein Nebel. Um so größer mein Dank, daß Sie derart von sich selber schreiben, sich mit eingeben.

    1. Das, lieber Bruno Lampe, wußte ich tatsächlich nicht. So daß es mich nun ziemlich verdutzt. Und, ich finde es (fast genau das richtige Wort:) irre. Werde morgen mit ihr drüber sprechen müssen. Für heute, meinte sie vorhin, als ich den Spargel schälte, sei’s genug an zu persönlichem Gespräch. Allerdings, als ich die fünfte Stange hernahm, kam von ihr noch ein knappes: „Laß es sein! Die schaffst du eh nicht mehr.“ – Was soll ich sagen? Li hatte recht. Nach fünf Stangen Spargel war ich satt.

  2. Kam nicht ganz zufällig, diese Li-Assoziation: einst in der noch Westberliner U-Bahn ein Mensch mit Karteikarten in der Hand, die er einzeln vor sich hielt, dabei machte sein Finger Zeichen in die Luft, dann drehte er die Karteikarte und überprüfte, ob sein Fingerzeichen dem Zeichen auf der Rückseite der Karteikarte entsprach… der Mensch lernte Chinesisch. Mögen Ihre Zeichen dem entsprechen!

  3. Grüße und Wünsche aus Leipzig.

    Ich kann Ihre jetzige Situation wohl kaum nachempfinden, weiß jedoch um die Äußerlichkeiten, weil ich als Pfleger in der Onkologie und, jetzt wieder, der Gastroenterologie arbeite. So wanderten meine Gedanken selbst mitten im Streß, dessen Choreografie Sie ansatzweise notierten und miterlebten, während der letzten tage ab und an zu Ihnen, dessen Weblog ich von Beginn an kenne und wertschätze. Nach dem Staging nun heute Tumorboard. Möge doch das Beste möglich sein, kurativ denken und handeln zu können! Ihr Leipziger Bibliomane.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .