Aus der Nefud, Phase III (Tag 4): Freitag, den 19. Juni 2020. Krebstagebuch, Tag 51. Nacht der Stelen, Fortsetzung.

 

… — und war schon ziemlich gleich wieder wach. Tatsächlich waren zweidrei Stunden doch vergangen, aber doch aus Osten noch kein Licht; indes ihm der Mond aber schon das Firmament hinab quasi entgegenrutschte und dabei sein eigenes, also das geliehene, von ihm nun reflektierte Licht sichtbar verdampfte — was eine, jedenfalls in dieser Situation, völlig unangemessen realistische Betrachtungsweise war. Ihr zufolge hätte ich auf dem Betonquader nicht so ruhig und weich schlafen können, wie ich’s getan, noch dazu mit diesem Sirenen- oder Fatamorganenleib neben, an und auf mir. Dieser Duft.
Übrigen schlief Li weiter, ich konnte mich unter ihrem rechten Arm leicht hinwegziehen; die Krebsin lag mit dem Bauch an meinem Rücken, Schoß an Gesäß, den linken Arm zwischen meinem Hals und der Platte durchgestreckt, ihr leicht aufwärts gewandtes Gesicht in die hintere Mulde meiner Halswirbel schmiegend. Die Lider vielleicht nur geschlossen; typischer wäre freilich, daß die Tumorin durch mich hineinblickt (: nein, keine danebengegangene Formulierung). Aber sie schlief tatsächlich. Und sah glücklich aus. Obwohl ich ja weiß, wie sehr die Strahlungen ihr wehtun, gerade zu Anfang jeder der vier Chemophasen. Ich hingegen, erneut, jetzt im dritten Kreis der Nefud, bin in der ersten Woche nahezu beschwerdefrei, von kleineren Lästigkeiten einmal abgesehen; doch wenn die Wirkung der Zytostatica sich allmählich ausläuft und dem Körper eine gewisse Zeit zur Rekonvaleszenz gegeben werden soll, wird es für mich schwierig, weil Li diese Pause natürlich sofort nutzt.
Ich saß mittlerweile auf dem Quader, hielt allerdings Lis Schultern und Kopf, mochte nicht von ihr lassen, bettete schließlich ihr Haupt auf meinen Oberschenkeln, legte mein eigenes in den Nacken und schaute in das ein vollkommenes Schwarz durchfunkelnde Lichtpunktmyriadum. Die Grabplatten glänzten, wie wenn sie selbst Lichtflächen wären. Meine Perspektive war dennoch klaustrophobisch. Doch ohne daß es mich bedrohte; ich konnt‘, und tat es, nüchtern konstatieren. Weil mir auch wieder Kubrick einfiel, vor allem, wenn ich denke, daß

it is found to be a black cuboid whose sides extend in the precise ratio of 1 : 4 : 9 (1² : 2² : 3²) and is sitting on a platform of the same material above undisturbed rock,
→ Wikipedia,

wobei zu vermuten, es erstrecke sich die derart materialisierte Sequenz dieser ersten drei Quadratzahlen in weit höhere Dimensionen als die für uns sichtbaren. Genau deshalb sind Eisenmanns Betonstelen und Clarkes geheimnisvoller Monolith diese Symbiose eingegangen, wobei es am Jupiter dann zu ihrerseits Hunderten Monolithen kommt, die um den Planeten schwirren und ihn vorbereiten für die Wandlung und zugleich doch an diese Nekropole denken lassen, denken lassen müssen.

Allmählich wurde es heller, ich konnte umherschreiten. Ohne jede Beschwerde war ich nach fünf komplett durchschlafenen, weil, ich bin mir sicher, durchliebkosten  Stunden hell erwacht, und daß Li schlief und schlief und mich gänzlich für mich ließ, war ein ebenso gutes Zeichen. Als ich überm nun schon quittegelben Himmel ein Rauschen vernahm … darüber, ja. Was aber erst wie eine Luftflut Krähen aussah, wurde zu einem Himmelstsunami der Stelen – als hätte eine irdisch jede in der Höhe einen Spiegel bekommen, aus dem sie alle ihre Klone entließen, Ableger in jedem Fall, vielleicht tatsächliche Kinder.
Kurz geriet ich in Panik. Doch dann, so muß ich es nennen, segelte ein kleiner Monolith auf meine Hand herab, wurde schon im Anflug Spatz und landete auf der gleichsam Reling, zu der mein linker Zeigefinger wurde, um die sich sanft die Krällchen rollten. Schon verdrehte der Miniaturableger eines Lillisaurierputs putzig sein Köpferl und tschilpte mich an. Wovon die Sonne nun endgültig aufging, aber genau deshalb ein weiteres Wunder geschah: Je heller es wurde, desto durchsichtiger ward die Totenstadt. Die gesamte Nekropole, ja. Nein , keine optische Täuschung! Vielmehr, je durchsichtiger alles wurde, desto durchfaßbarer auch, was eben faßbar bedeutet, endlich faßbar. Erst wie durch schweres Wasser, dann wie durch Öl, nun schon durch Luft konnte ich die Stelen durchschreiten, sie wehten einfach, quasi, weg. Und Lis Gesicht, Krönung der antiken Kuppel, erlosch. Die Sonne fing zu brennen an, alles war nur noch Düne, Fels, bisweilen etwas Gestrüpp. So das Wadi der Stelen übertag, so die Gräber nachts. Und so die Deutsche Bahn. Die Geleise.
Meine Gleise eben auch. Aus denen, so begriff ich, Li mich hatte herausrollen lassen, erst, wenn auch da aus anderen, im Wadi der Verstrickungen und nunmehr heute hier. Ich drehte mich zurück. Nur noch das Tal aus Sand und wie es sich drüben in die Erhebungen des Randgebirges schmiegt, und da die Grabmonolithen verschwunden waren, war Lilly es genauso. So blieb mir nichts, als mich erst einmal zu orientieren. Ich hatte ja nicht einmal eine Erinnerung, wie weit meine Krebsin und ich heute nacht spazieren gehen mußten, bis wir angekommen waren, ja nicht einmal die Ahnung, in welche Richtung ich mich halten mußte. Ich hatte weder mein Ifönchen noch ein anderes Funktelefon bei mir, dachte aber, die Geister werden mich leiten und schritt auf gut Glück aus. Doch wären mir nicht längst schon die Freunde entgegengekommen, nachdem sie morgens vergeblich für den Kaffee auf mich gewartet und deshalb in meinem Zelt nachgeschaut hatten, ich hätte mich gewiß verirrt. Es war aber ibn Gamael, Lars also, der auf seinem Dromedar mir entgegenstürmte, im Gefolge noch zwei unserer Scouts. „Effendi! Effendi!“ Wobei mich schon irritierte, daß dieser überhaupt-nicht-Hadschi-Halef-Omar das türkische Wort für „Herr“ verwendet. Täte ein Beduine das? Und ganz am Anfang nannte er mich Sihdi, was aber maghrebinisch ist, auch in Ägypten verwendet wird, arabisch aber sagte man Sayyid (سَيِّد ). Bitte machen Sie sich, Freundin, klar, daß Karl Mays ersten Orientromane in den 1870er/80ern spielen, zu einer Zeit also, da die arabische Welt unter der osmanischen Knute litt, aus der der andere Kara ben Nemsi Effendi, Lawrence ben Albion, sie zu befreien versprach. Der ihnen, den Arabern, damals  angetane Betrug bestimmt bis heute das geradezu unauflösbare Nahostproblem zumindest maßgeblich mit.
„Sayyid, Sayyid, wir haben uns solche Sorgen gemacht!“
Ich strahlte ihn an. „Es geht mir gut, und ich habe Hunger.“
„Steig hinten auf, Sayyid, steig auf.“
Durchaus erstaunlich, welche Kraft der androgyne Mann in alleine einem Arm hat! Er zog mich quasi aufs Reittier hinauf, hieb ihm die Hacken in die Flanken, und wir stürmten davon. (Sind Sie schon mal Galopp geritten über Dünen? Und nicht auf einem Pferd? Alles, was Sie tun können, ist, irgend festzuhalten, was sie am Körper tragen. Mißachten Sie’s, wird alles aus Ihnen herausgeschüttelt, was mit Ihnen nicht verwachsen ist, egal ob ein in der Hosentasche mitgeführtes Portemonnaie, ob die Wegzehrung, ob zu lockre Zähne.)

Fast eine halbe Stunde dauerte der Ritt. Diese ganze Strecke waren Li und ich nachts zu Fuß gegangen? Völlig unwahrscheinlich. Aber es war ja nicht so, daß ich geträumt hätte. Ich saß tatsächlich hinter Lars im Doppelsattel. Und unser Lager kam in Sicht.
Morgens war, als ich noch im Wadi der Stelen, ein Bote gekommen und hatte Post sowie für mich ein Päckchen mitgebracht, das mir Faisal hatte vor mein Zelt legen lassen.
Das war nun eine Freude! Phyllis Kiehl die Vertraute, hat es zu mir auf die Reise geschickt. Es zu öffnen … selbst nach dieser ereignisreichen Nacht konnte ich es nicht lange hinauszögern. Zum Vorschein kam ein kleiner Koffer, der aber groß gefüllt war: Nüsse, Nüsse, nochmals Nüsse, zwei Nuxe-Miniaturen, zwei Umschläge mit verschweigbarem Inhalt, den ich umso manifester derzeit brauche.
Viel Zeit, mich zu erfreuen, hatte ich nun allerdings nicht. Faisal drängte zum Aufbruch, ließ sich dennoch von meiner Nacht ausführlich erzählen, schon weil ihm die Existenz des Stelen-Wadis zuvor nicht bekannt gewesen war, so daß er sich in die These verstieg, meine nächtlichen Visionen – das nämlich, Visionen, seien sie gewesen – habe ein Zauber Lis ganz allein für mich erzeugt: „Sie legt kulturelle Codes aufeinander, die an sich miteinander nichts zu tun haben, in Ihnen aber doch. Deshalb kann niemand sonst sehen, was sie Ihnen zeigt. So ist sie zugleich das Symptom und Ihre Therapie.“

Dann wurde es so heiß, daß wir so wenig sprachen wie nur möglich. Ich war nur froh, daß diese ersten Chemotage eben ohne große Einschränkungen an mir ablaufen. Und nun ist’s schon der nächste Tag, die Nr. 4 der Phase III, und geradezu Erlösung, abgesehen von den neuerdings sehr anschwellenden Füßen – auch aber nur nervig, nicht wirklich schlimm. Wobei es die Hitze freilich nicht grad besser macht. Dennoch, dies muß ich unbedingt noch sagen, bin  ich sehr sehr froh darüber, meine Diagnose in der hellen Jahreszeit gestellt bekommen zu haben und mit Li im Licht des Sommers verhandeln zu können. Ob ich auch im November so zuversichtlich gewesen wäre, wie ich es bin, ist mehr als nur fraglich.

Ah, wir sind fast am Mittagslager. Die Siesta heute kann ich brauchen. Vielleicht, daß Li sich wieder zu mir legt.

ANH

[Shostakovitsch, 13. Sinfonie, Gergiev
13.10 Uhr, 73,5 kg
صحراء النفود.Anderswelt]

 

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