Marah Durimeh! Aus der Nefud, vom letzten Tag des dritten am zweiten und dritten des vierten Kreises geschrieben. Mittwoch, der 1., und Donnerstag, der 2 Juli 2020, den nämlich drei- und vierundsechzigsten Krebstagen.

 

[عالم آخر.صحراء النفود
6.03 Uhr, 72,8 kg]
[Bach/Ramirer, Präludium & Fuge XVIII]
Das Wohltemperierte Klavier, Buch II]
2. Juli (يوليو) 2020
mit Röhrerich (r.) zur gemeinsamen Morgenmeditation

Meine Ahnung bestätigte sich — oder, vielleicht, hat sie, was dann geschah, geschaffen: eine zitternde, weil nur ungefähre und auch nicht zu allen Zeiten stetige, das heißt eben: ungewisse Seite meiner poetischen Ästhetik; so sehr rührt sie vielleicht nicht an Mystik, berührt sie aber doch. Worüber zu sprechen ich gerne, als Realist, vermeide: Vorhang meines Saïs.

Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld,
Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.
Schiller,
Das verschleierte Bild

Nun gehn wir zur Wahrheit in aller Regel alle durch die Schuld, die erkenntnistheoretisch nichts andere als ein Irrtum wider bessres Wissen (oder Ahnen) ist. Und ich, nun jà, dachte ich meditierend soeben vor dem Zelt – es meditierte in mir – bin auf dem Weg zur Wahrheit meines Körpers durch die ihm zugemutete Schuld des Geistes, die sich als Liligeia nun ineinander repräsentieren: Lili-Gäa eben oder auch, worauf Schiller wie Novalis verweisen — Isis. Die nun unversehens ins → letzte Béartgedicht nicht nur “paßt”, nein, hinein sogar muß. Immerhin  ist die Isis lactans das Urbild Mariae mit dem Jesukind.

Also wir stürmten, muß ich schreiben, mit unserer kleinen Kamelkavalkade von den Sanddünen gegen das die Wüste immer wieder flankierende nicht sehr hohe, aber doch schon der Farben wegen eindrückliche Gebirge; ich weiß nicht, ob ich schon jemals solch Variantenreichtum von Rot gesehen habe, Farbschattierungen, für die Araber sehr wohl Bezeichnungen, wir hingegen nicht mal einen Sammelbegriff haben; naheliegend wiederum für Menschen, die hier leben. Das Scots etwa kennt 421 Wörter für Schnee; daß allerdings auch die Inuit über solch eine Ausdrucksfülle verfügten, ist eine, → las ich gerade, Mär, die offenbar, um kurz zur “Mystik” zurückzukommen, nicht dazu geführt hat, sie aufgrund der Idee wirklich entstehen zu lassen (→ Realitätskraft der Fiktionen):

 

 

Hier aber nun

— eine Schlucht hatte sich geöffnet, hinter der sich das, ich nenne es so,
Tal der Durimeh öffnete, das eine Art ausgedehnter Oase, wenngleich in
keiner Weise märchenhaft ist, sondern in seinem kraterähnlichen Zentrum nichts als ein sich um die Quelle und unter ein paar
Palmen gruppierender, ziemlich staubiger Ort, der vor allem eines ausströmte: Verlassenheit; doch zog sie sich dauernd um, je tiefer wir hineinritten, wechselte ein Kleid nach dem andren, bis sie, diese Verlassenheit, etwas Schrebergärtiges bekam, etwas von nicht geschnittenen, ungehegten Johannisbeersträuchern, improvisiertem Gewächshaus-in-klein und mitten darin eine dieser über und über bildbesprühten , dachte ich erst, BVG-Baracken, wie man sie in Berlin immer wieder noch findet. Diese hier erinnerte mich sogar extrem an das aufgelassene Gebäudchen der vor sich hin sinnierenden  Zwischen-Endhaltestelle der M10, eines, obgleich mitten in der Stadt, nahezu ebenso solitären wie zeitlosen terrasseflachen, von sowohl neuen wie sehr alten, grasüberwachsenen Geleisen durchzogenen  Raums mit zwei Plattformen für mögliche Fahrtgäste – insgesamt aber wohl nur dann genutzt, wenn im gleich angrenzenden Stadion ein Fußballspiel stattfindet; genau sie aber, genau diese Baracke, war unser Ziel —

war es offenbar so gewesen, die Fiktionen hatten ihre Kräfte spielen lassen und die Realität mehr als nur beeindruckt  — denn tatsächlich, kaum hatten wir uns bemerkbar gemacht, erschien eben diese Marah Durimeh, wie ich es → meiner Lilly schon quasi propheizeit hatte.  Wobei ich mit Durimeh natürlich die schwarz gekleidete Greisin meine, die uns → Adullahs Gärten geöffnet hatte, nicht etwa Karl Mays — und → seines Nachschreibers Kandolf (nie gelesen; ein Versäumnis? der Mann hatte einen richtigen Instinkt) — “tatsächliche” Figur. Meine Güte, über eine Woche liegt auch das schon wieder zurück, daß sie uns öffnete (und aber auch gleich wieder verschwand)! Nur daß sie jetzt weder schwarz gekleidet — sie trug vielmehr ein, wie May es will, strahlenden Weiß — noch auch nur entfernt Greisin war; es war vielmehr ihr Alter in keiner Weise ausgemacht, es flirrte wie die noch jetzt, gegen Abend, heiße Luft, und obwohl Frau Durimeh (sie nannte sich völlig anders, stellte sich mit dem etwas schwedisch klingenden Manna Jansen vor, “Manuela eigentlich, ich hab das schon als Kind gehaßt”) die Sechzig in jedem Fall überschritten hatte, muß ich ich sie ausgesprochen schön nennen. Und nebenbei wird hier der eigentliche Grund für Mays einander auf erstes Lesen widersprechende Beschreibungen deutlich —

Ich (…) erblickte eine alte Frau, deren Äußeres mich schaudern machte. Sie schien über hundert Jahre zu zählen; ihre Gestalt war tief gebeugt und bestand wohl nur aus Haut und Knochen; ihr fürchterlich hageres Gesicht machte geradezu den Eindruck eines Totenkopfes (1882) | Sie war gewiß hundert Jahre alt, doch ihre Gestalt stand gerade und hoch aufgerichtet; ihre Augen hatten jugendlichen Glanz; ihre Züge waren seltsam schön und weich (1904) | Ich (…) sah eine ganz eigenartige schöne Frau, deren Alter so hoch war, daß es, wie ich später erfuhr, gar nicht mehr bestimmt werden konnte (…), und in ihrem hochedel geformten Gesicht war fast keine Spur einer Falte zu sehen (1908)

Wikipedia irrt hier in der Meinung, Karl May habe seine Schilderungen von Kara Ben Nemsis erstem Zusammentreffen mit ihr seiner neuen Sichtweise erst später angepasst; Tatsache ist, daß er, Ben Nemsi also, seine ersten Eindrücke im Wortsinn nur nicht nicht fassen konnte, wahrscheinlich schon deshalb nicht, weil seine historischen Zeit noch bleibend geprägt vom Konzept fester, ein- für allemal bestimmter Identitäten war — anders als Alban-Ben-Nemsi-ich, dessen poetische Perspektive bereits früh unsere Ichkonturen sich ineinander verschwimmen ließ. Und anders als mir, dem entschiednen Hetero, mußte dem, ich sag’s mal mit leicht perfider Ironie, platonischen Frauenfreund der jugendliche, durchaus etwas perverse, ich möchte sogar schreiben lillische Sex entgehen, den sie und jede ihrer Bewegungen, diese rein für sich, derart … ja, emanierten, daß sich meine Lider wieder und wieder auf Spaltenge zusammenpetzen mußten. Und wie schon am Eingang der Gärten nahm sie ganz allein von mir Notiz, was ihr der Stammesfürst Faisal auch diesmal nicht zu verübeln schien, und sprach alleine mich an. Wobei sie nicht lächelte, ihr Gesicht blieb unbewegt wie seines. “Dann kommen Sie mal mit.” Da saß ich noch auf Röhrerich!
Blick zu Faisal, der nur – was, dieses “nur”, “nahezu bewegungslos” bedeutet – nickte. So rutschte ich rechtsseitig von meinem Reittier, das sich nicht einmal legen mußte. Ich hatte einen wirklich guten, beschwerdefreien Tag, nein, schon zwei solche Tage hintereinander gehabt, oh Dank Dir, Liligeia! – war geradezu wieder in Form, ließe sich’s sagen.
“Gehn Sie nur, mein Freund, wir errichten derweilen das Lager.” – Leichte Unterarmbewegung Richtung ben Gamael, der sie gegenüber den Gefährten wiederholte ohn’ Ansehns ihres Standes. – Schon war Bewegung in der Karawane. Die Dromedare röhrten, was, wie ich unterdessen weiß, zu ihrer Disziplin gehört, womit ich deren Lockerung meine. Die stoischen Tiere kommen mit Veränderungen anfangs nie klar, während sie eingetretenen Abläufen quasi unendlich folgen können. Deshalb bedeutet eine Pause immer auch ebensolche Unruhe wie ihr Ende. Immer dann geht so ein allgemeines Konzert los, ich hab’s ja → da schon mal vorgeführt:

Doch als ich der Durimeh in die BVG-Baracke gefolgt war und indem sich hinter uns die Tür schloß, war das Geröhre mit einem Schlag ebenso weg wie jedes andere Außengeräusch. Es wurde statt dessen so enorm still, daß zu sprechen sich wie eine kleine Schändung angefühlt hätte. Deshalb folgte ich der Durimeh fraglos durch den für den doch sehr kleinen Bau viel zu langen Gang, bis wir rechts durch eine angelehnte Tür, die Durimeh nun  hinter uns verschloß, in einen sehr viel eher japanisch denn chinesisch wirkenden Raum eingetreten waren, und der Orient war gänzlich verschwunden.
“Wie halten wir es mit den Masken?” Sehr klarer, kühler Aufblick Durimehs. Erst da fiel mir auf, daß wir coronahalber beide solche trugen. Also war ich wieder in Berlin. Ich kannte sogar die Straße, Seelingstraße, westlich der Charlottenburger Schloßstraße. Vor Jahren hatte hier → der wilde Eigner zwar ungern, vergleichsweise aber gut gelebt, mit damals noch einigermaßen intakter Familie. Hier war der kleinen Familie einmal der für den Berliner Hochsommer zu prallevolle Olivenölballon geplatzt, so daß nahezu zehn Liter besten, aus in Olevano eigener Ernte gewonnenen Olio vergines den Kühlschrank hinuntergeflossen waren und als daumenstarke Schicht den gesamten Küchenboden bedeckt hatten. Was zu einem Irrsinnswutausbruch geführt hatte, Eigners, der das Problem indes nicht löste. Dieses zu tun überließ der Berserker seiner Frau – was angesichts seiner Cholerik zwar rücksichts-, doch ausgesprochen sinnvoll war. Es war ja auch ein kleines Kind noch da. Besser, seine Wut und er verließen die Wohnung und er ertränkte sie. Wobei wahrscheinlich schon da eine der Szenen vor ihm aufstieg, die LICHTERFAHRT MIT GESUALDO zu solch einem Abschiedsgesang macht:

Aber da haben wir sie auch schon, die verschiedenen Klangfarben des Textes, geführt wie die Stimmen eines Madrigals; die unaufhörliche Fortbewegung als Kontinuum, Becks Erzählung als treibende Melodie, Redderichs Gedanken und spärliche Einwürfe als zweite Stimme, die sich hin und wieder verliert, nie aber abhanden kommt.
Ulrich Faure, Rheinischer Merkur

Daß mir das jetzt und ausgerechnet hier wieder einfiel! Hätte ich’s nicht schon sofort wissen müssen, als mir die Adresse genannt worden war? Ich spreche immerhin von Berlin! Indes kam meine Erinnerung an all dies erst zurück, als ich mit dem Fahrrad noch auf dem Kaiserdamm war und gleich rechts abbiegen mußte. Ich hatte es wahrscheinlich verdrängt, weil mir andernfalls sofort Eigners, muß ich jetzt schreiben, Totenbett und die, ich weiß nicht mehr genau, drei? Monate seines Komas  im Urbankrankenhaus eingefallen wären, eine Lebensendsituation, die für diesen freien, schimpfenden, kämpfenden Mann erniedrigender war als jemals etwas zuvor. Und stehe, ich, jetzt vielleicht genauso davor.  Es muß nur etwas schiefgehn  bei der Operation, oder ich wache aus der Narkose nicht mehr auf. Dann werde ich ebenso hilflos daliegen, und ehrlos. Daran nicht denken! Aber für diesen Fall alles vorgeordnet haben. — Einen Schwamm, einen nassen, nassen Schwamm! ——— Ah, hier hat doch auch meine Cellolehrerin gewohnt ..! Neufertstraße, Die ersten Zehnerjahre dieses Jahrtausends … Trennungen, Trennung, der BuchprozeßMEERE, ja MEERE … Welch Wasserfall von Erinnerungen! Ein früheres Leben in einer anderen historischen Zeit … – nur schnell zurück in die Wüste! Nur schnell der Nefud Sand darüber:


Aus dem die Jansen fragte, nun wieder ganz Durimeh: “Lassen wir sie auf oder halten wir Abstand?” – Was auf? Ah richtig, die Masken. Wir saßen mittlerweile an den gegenüberliegenden Seiten eines kleinen Behandlungstisches.
Sehr sympathisch, daß sie die ihre jetzt abnahm; ich tat es ihr nach. “Nur wenn ich mir Ihre Zunge ansehen, werde ich sie wieder aufsetzen. Einverstanden?”
Und sie begann mit der Anamneseerhebung. Dann sah sie sich tatsächlich meine Zunge an, die ihr offenbar nicht recht gefiel, “aber darüber reden wir ein andermal. Jetzt erst einmal Ihren Puls. Bitte beide Hände mit den Flächen nach oben hier drauflegen,” hier waren je ein Kiss’chen, “so, ja, entspannt bitte.” Sie fühlte nach dem Puls, schloß die Augen, rechnete. “Sie haben einen starken Puls”, befand sie dann und präzisierte: “einen drängenden Puls.” Woraus sich auch schon die vorerste Diagnose ergab, ein starkes Ungleichgewicht von und zu schweren Ungunsten des letzteren, also daß in mir extrem ausgebildet sei, was mit Feuer, Wille, Aktivität zu tun habe, indes die Stille und Ruhe komplett unterrepräsentiert seien — ein, freilich, Befund, der bei einem ADHSler nicht wirklich verwundert. Es komme also darauf an, gerade jetzt meine Yin-Seite zu stärken, die ich instinktiv “die weibliche” nennen wollte, wäre das nicht wieder ein schwerer Verstoß gegen das soziale Genderkonstrukt und könnte mir erneut als Äußerung meines schon krankhaften Machos ausgelegt werden. Andererseits machte es einsichtig, so hoff ich jedenfalls, weshalb ich das Weibliche so ehre und immer wieder als etwas anrufe, dessen (“deren” !!) ich lebensnotwendig bedarf. Allein in diesem Verhältnis sind die Hymnen des → Béartzyklus wirklich zu verstehen.
Doch Durimeh, trotz ihrer Ausstrahlung, war nicht die Art Frau, mein viriles Bedürfnis zu stillen. Es war auch nicht ihre Profession, erst recht nicht ihre Absicht. Vielmehr projezierte sie die Erfüllung zurück in mich selbst: alles habe in mir zu geschehen, eben ohne ein Außen, und wenn es noch so weiblich mir Anima wäre.
So legte Marah Durimeh quasi den Finger auf meine Sehne des Achills. Und wurde extrem herb — wie um mir jede Möglichkeit zu nehmen, sie als Projektionsperson doch noch zu nutzen. Es trat eine in der Tat erstaunliche Ähnlichkeit zum ganz entgegengesetzten Verfahren zu Tag, das vor anderthalb Jahrzehnten → meine Psychoanalyse bestimmt hat; beide Disziplinen spielen mit dem Übertragungsprozeß, die eine, indem sie’s auf ihn anlegt, die andre, indem sie ihn strikte verweigert. Und darauf, daß ich eigentlich “nur” wegen der begonnenen  Neuropathie hier war, ging die Zauberin erst ein, als ich’s direkt ansprach. Woraufhin sie mir sogar einen Zweifel herüberspiegelte, daß ihre Therapien dort helfen könnten, jedenfalls ohne insgesamt mich “chinesisch” einzustellen – worauf ich zwar neugierig wäre, nicht aber in irgend ergebenem oder auch nur bereitem Sinn, das ideelle Grundkonzept zu akzeptieren. Dennoch, an die Akupunktur wollte ich schon deshalb unbedingt, ich noch niemals eine erlebt hatte.
Zu der es dann auch kam.
Wir wechselten das Zimmer. Im anderen standen zweiteilig-spanische Tatamiwände, vermittels derer sich Bereiche abtrennen ließen, visuell zumindest; hinter deren einer solle ich mich barfuß auf die Liege legen, über die Frau Durimeh vermittels einer unter dem Kopfteil angebrachten Einspannrolle eine Papierdecke aufzog.
“Entspannen Sie sich, ich setze Ihnen jetzt die Nadeln.” Die erste kam in den genauen Scheitelpunkt meines Schädels. Sie piekste am meisten. Zwei weitere kamen in die Füße. Hier merkte ich kaum etwas. “Ah”, so die Jansen, “da ist Ihr Empfinden schon sehr verloren gegangen.” – Beruhigend, daß es an den Waden wieder mehr piekste. Schmerz kann einen auch beruhigen, und eine. Dann noch der rechte Arm, eine Nadel oben in den Handansatz, eine letzte darunter ganz in die Nähe der Schlagader. “So, und jetzt ruhen Sie zwanzig Minuten. Es kann sein, daß Sie die Nadeln dann spüren. Sollte es zu unangenehm wird, rufen Sie mich bitte. Aber nach zehn Minuten komme ich ohnedies nach Ihnen schauen.” Womit sie mich verließ.
So daß ich zu dämmern begann – nicht sehr viel anders allerdings, wie wenn ich mich nach Empfang der jeweils neuen Chemoinfusionen immer wieder auf das Lager meiner Arbeitswohnung lagen muß. Anders aber eben doch, weil, nachdem ich noch erlebt hatte, wie Frau Jansen kurz zurückkam und “alles in Ordnung?” fragte und nachdem sie wieder fort war, ich in einen offenbar so tiefes Schlummern fiel, daß ich erst wieder zu Bewußtsein — im Infusionsraum meines Onkologen kam. Zu vollem Bewußtsein, meint das, in das, ich hing bereits am Tropf des Oxaliplatins, nur langsam die Erinnerung an eine Fahrradtour von der chinesischen Seelingpraxis zurück in die Arbeitswohnung wieder aufstieg, doch heftig von Dünen überlagert, sogar von einem kleinen Sandsturm und dann, wie mich ibn Gamael aus der BVG-Baracke abholte, Lars also, der doch bereits zum Team des Onkologen gehört, aber bereits in der Nefud repräsentiert für mich ist. Wobei ich gar nicht weiß, weshalb ich nach der Akupunktur so erschöpft war; ich hatte doch fast die ganze Zeit geruht! Dennoch, Lars mußte mich zu meinem Zelt bringen. Wobei mir all das eben erst wieder klar wurde, als ich bereits die vierte Chemo bekam: Initiation des Vierten Höllenkreises, der uns schließlich, wenn ich es überlebe, nach Aqaba Dir, Lilly, zuführen wird; da meines Wissens an einer Chemo noch niemand gestorben ist, jedenfalls nicht oft, der Übergang erst in unserer, ach Li, Vereinigungstrennung die Pforten lockend öffnet, wird dies auch für die Strahlungen zutreffen, für die ich darauf vorbereitet bin, daß ich sie noch mehr als die des dritten Kreises spüren werde — was bis jetzt, am nunmehr dritten Tag, aber noch nicht geschehen ist, sofern ich von → den gestrigen, tja, Anfällen? erstarkter Schwäche einmal absehe. Da war ich wirklich etwas verzweifelt, weil ich weder mit dieser Erzählung noch mit Béart XXXIII oder sonstigem weiterkam: selbst die für den Bamberger Lehrauftrag auszufüllenden Formulare ließ ich, nachdem sie endlich ausgedruckt waren, liegen.

Faisal läßt mir deswegen heute noch etwas Ruhe; auch sah ich noch einmal kurz die Durimeh, die uns nunmehr begleiten wird, um vor der irgendwann ab Mitte dieses neuen Monats anstehenden OP noch wenigstens zweimal ihre Nadeln zu setzen. Tatsächlich hatte ich seit heute beim Erwachen das Empfinden, es sei die Neuropathie vor allem in Füßen leicht zurückgegangen. Nach Aqaba selbst wollte sie, Frau Durimeh, aber nicht mehr mit hinein. Dieser Ort, sagte sie, sei allein für mich geöffnet. Ich hatte sofort den Eindruck, sie scheue sich vor Liligeia, als wäre es auch für sie gefährlich, meiner Krebsin unter die Augen zu treten, geschweige denn, ihr vor die Spaltbeine zu kommen – unter sie, heißt das…

Jedenfalls werden wir erst gegen elf/halbzwölf aufbrechen. Doch höre ich von der provisorischen Koppel bereits das Röhren wieder, weil unsere Tiere wohl schon vorbereitet werden. Ein Dromedar zu satteln, ist halt immer ein bißchen Aufwand. Ich werd mich jetzt mal über die Karten beugen, um zu schauen, wo wir eigentlich sind.

ANH, 10.38 Uhr
[Finzi, Five Bagatelles op. 23]

 

 

 

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