Abendessen 24. Oktober
(selbstgeschnittene Sashimi,
selbst ausgelöster Granatapfel,
eingelegter Ingwer, Wasabi,
Sojasauce, Stäbchen;
die Avocado blieb nächstentags)1
[Arbeitswohnung, 7.09 Uhr. 70,3 kg.
Eötvös, Reading Malevitsch (2017/18)]
Das Körpergewicht anzugeben, täglich zu kontrollieren, gehört nun zum, ich sage einmal, Nachkrebs — vor allem, seit ich den Sport wieder aufgenommen habe und dummerweise eingetreten ist, was ich befürchtete, daß ich nämlich nicht recht weiß, wie die zusätzliche Energie aufnehmen, die ich beim Training „verbrauche“. Bei den letzten Läufen waren es immerhin knapp 1000 kCal, und ich halte mein magenloses Gewicht ohnedies gerade so. Die empfohlenen acht Mahlzeiten täglich kriege ich einfach nicht runter, sechs sind gerade so zu schaffen. Die flüssige „Astronautennahrung“ wiederum verursacht Bauchschmerzen, seit ich keinen Magen mehr habe, jedenfalls die von Fresubin (400 kCal pro Fläschchen, das wär schon was und war mal was); immerhin vertrage ich das Dessert desselben Herstellers (200 kCal pro Napf). — Dennoch und mit einigem täglichen Aufwand sind meine 70 kg grad täglich stabil; mal sehn, wie nun werden wird, da ich auch das Krafttraining wieder aufnahm. In jedem Fall ist Ernährung zu einem Thema geworden, permanent, was mich schon fast so nervt wie Corona. Da nämlich weiß ich nicht mehr, was ich von den Maßnahmen halten soll und mißtraue vor allem dem Blick in die Zukunft. Ausgangssperren in Frankreich, und in „meinem“ Italien alle Bars – was eben auch und sogar besonders Stehcafés sind – ab 18 Uhr geschlossen. Wie ein Albtraum kommt mir das vor, und zwar wie ein politischer.
Dabei ist zumindest hier, in den Tälern (Gruß an → Norbert W. Schlinkert) der Prenzlauer Berge nicht wirklich viel von dem allen zu merken. Die Stimmung ist entspannt, Straßenmaskierte laufen nur höchst wenig herum, in den Geschäften find ich’s okay, und in den Parks, etwa wenn ich jogge, sitzen die vor allem jungen Menschen und ältere, die aus Südeuropa stammen, beisammen wie eh und je. Und trotz meines meist joggenden Unterwegsseins attestiert mir die Corona-App grad mal drei Begegnungen mit niedrigem Risiko; vorgestern waren es noch vier. Ich bekomme diese Realität mit den Berichten der Medien nicht zusammen, denen ich aber sowieso traue — den „linken“ fast noch mehr als den „rechten“, bei denen ich immerhin weiß, wo man mich manipuliern will. Bei den linken weiß ich es nur in Bezug aufs Gendern, das ein bereits faschistoides Ausmaß angenommen hat, ideologisch-meinend und ausgrenzend, wegmobbend, machtpolitisch geführt. Nein, mit Faschismus hat das noch nichts zu tun, an Leib und Leben werden Andersmeinende bislang nicht bedroht, und wahrscheinlich bleibt das auch so, sehr wohl aber in ihrer ökonomischen Existenz — wie grad am → Fall Maron wieder zu sehen, wo es sogar Kolleginnen und Kollegen gab, die dem S. Fischer Verlag drohten, wenn er das neue Buch dieser, ja, höchst konservativen Autorin herausbringe, werde man ihn verlassen. Zwar den Begriff, nicht aber mehr den Inhalt der politischen Toleranz scheint es für manche Linke nicht mehr zu geben. Doch gab es ihn für sie je? Und offenbar das demokratische Bewußtsein schon gar nicht, daß auch die Gegner Stimme haben müßten und wir, wie Voltaire, für sie kämpfen müßten, würde sie ihnen genommen.
Vielleicht ist es Paranoia-light, wenn ich einen Zusammenhang mit den Corona-Einschränkungen spüre, von denen ich ja gar nicht betroffen bin, wirklich, im täglichen Alltag, oder, ecco, nur kaum — außer, daß mir die Reisen eingeschränkt wurden, was seelisch auf mir lastet; da lebt der Freund plötzlich wieder im grenzbewehrten Fremdland, obwohl’s Europa ist, und die mir so nahe Lektorin wird zur Ausländerin, die zu besuchen Quarantänen bedeutet, obwohl wir sogar die Sprach teilen, abgesehen vom Dialekt. Und würde ich gefragt, ob ich dies wolle: mein ferneres Leben mit Maske leben bis ans Ende, ich sagte entschieden: Nein!
Auch in dem Sinn sind die → Béartgedicht nun ein Abschiedszyklus geworden; ich spüre es, je weiter er gegen die No XXXIII voranschreitet, die mit einer Art leiser Anrufung endet, einer in uns selbst hinein, und eben mit dem schon vorausgespürten, nein, nicht lauten Ende:
Nachts noch glommen Tausende Kerzen,
von Andern Dirgleichen entgegen der Mondin gehalten,
weil Göttinnen noch hier und weiter, weiter Frucht sind,
der wir, die wir noch Mann sind, dienten
und gehn aus der Welt jetzt verpönt –
da wir an Gleichheit nicht glaubten,
doch selbdritt an Isis um jegliches Herz
Stilles Davongehn, in der Welt jetzt verpönt.
Seit vergangenem Sonnabend habe ich das gesamte Typoskript noch einmal durchgesehen und teils – an allerdings nur wenigen Stellen – neu rhythmisiert, wozu auch die Aufteilung der Verse auf der Seite gehörte. Ich wollte nichts anderes tun, blieb Briefe schuldig, Antworten, die zu geben wären usw.
Nur die Vorbereitung für das an diesem Wochenende (virtuell zu haltende) erste START-Seminar mußte parallel erfolgen sowie daß ich die Arbeit für den Sport unterbrach. Gestern habe ich sogar den von लक्ष्मी übernommenen Slingtrainer → an der Zimmerdecke befestigt, so daß ich mit dem Krafttraining wieder anfangen konnte. Denn davor fürcht‘ ich mich in der Tat ein wenig, in Coronas Hochsaison ins Sportstudio zu gehen; immerhin bleibe ich ich noch Risikoperson, wenn’s nach den Ärzten geht, sogar Hochrisiko, wenngleich meine Angst grundsätzlich klein ist, auch „in Sachen“ Covid-19. Aber für mich die am ehesten akzeptable Art, mit dieser Epidemie umzugehen, ist, sie als eine Folge-Nebengefahr der überwundenen Krebserkrankung zu sehen; tatsächlich nimmt Corona unterdessen einen viel größeren Raum in meinen Überlegungen ein; da es aber viel weniger real als der Krebs für mich ist, läßt es sich auch nicht bekämpfen, schon gar nicht vermittels einer Durchquerung der Nefud auf dem Wege nach Aqaba. Kurz gesagt: Ich kann mit Corona poetisch nicht umgehen, der Virus ist ein zutiefst kapitalistischer Gegner, nämlich einer der körper- und also geschlechtslosen Äquivalenz. Mithin wie ein Geist. Denken Sie daran, liebste Freundin, wie schwierig es für eine neue Liebe ist, eine alte zu verdrängen, wenn sie nur noch im Geist vorhanden ist, als Erinnerung oder Einbildung. Dagegen kommen wir nicht an, wir Realen. In dem Sinne ist → Li real gewesen, Covid aber imaginär. Li war, auch wenn sie hätte den Tod bedeutet, menschlich.
(Gestern zeigte mir Phyllis Kiehl ihre FFP3-Maske; sie sieht damit aus wie ein Pavian, der die Schnauze in Kreidestaub gesteckt hat, um seine Gegner zu täuschen. Verzeihung, Pavianin selbstverständlich. Trotzdem sah ich sofort das böse Gebiß. – Nein, will ich nicht tragen, so sinnvoll auch immer sie ist. Als Pavian, außerdem – (männlich, also ich) –, würde sie von meinem leuchtenden Arsch ablenken, der dieser Art noch wichtig ist, bis auch sie die Gendercorrectness erreicht. So wird die Welt unlebbar.)
Also auch wieder Krafttraining ja. Ich meine, es hätte doch durchaus etwas Heiteres, ein Siebzigjähriger ohne Magen aber mit Sixpack zu sein. Keine vier Jahre mehr hin. Das ästhetische Primat des Körpers bis in die Vergreisung vorantreiben — was ist’s, das mit diese tiefe Sicherheit gibt, sie selbst, die Vergreisung, werde dadurch vielleicht nicht für alle Zeit aufgehoben, aber doch deutlich gehemmt. Mit einhundert Jahren
(so mich die verschwundne Li denn läßt;
„verschwunden“ bedeutet nicht unbedingt
„weg“, bei einer Tumorin sch0n gar nicht)
noch fünfzehn Kilometer joggen – o, das würde mir gefallen! Und dann sogar noch den → FRIEDRICH geschrieben haben, womöglich (inklusive der von Süd nach Nord Alpenüberquerung zu Fuß – geplant fürs nächste Jahr schon – und entlang der gesamten Levante gesegelt). Aber erst einmal, nun, die Béarts zuende bringen, noch einmal den gesamten Zyklus auf Papier lesen, meinerseits, Elvira M. Gross bereits tut’s in Wien (sie bekam die Email gestern nacht, mit Anhang). Die letzten Korrekturen dann ein- (wieso heißt das bloß so?) „-pflegen“ — und endlich fliegt das Typoskript zum Verlag, wo es wohl doch nicht mehr dieses Jahr, aber gleich zu Anfang des nächsten erscheinen wird — und sehr schnell werden die Übersetzungen folgen, die bereits beautragte, an der auch schon gearbeitet wird, ins US-Amerikanische, die ins Französische, die ins Italienische (an der → dank des Freundes zumindest schon herumgedacht wird). Sowie sind Elvira und ich zum nächsten Projekt übergegangen, der von Arco geplanten Neuausgabe meines kleinen Manhattanromans aus dem Jahr 2000, der wir aber die unlektorierte Erstfassung aus Vorjahr zugrunde legen möchten, auch um Streichungen rückgängig zu machen, die seinerzeit Schöffling vorgenommen hatte, als er mich, der Verleger, noch nicht hinterging. Was er später dann tat, und so verschwand das Buch aus dem Handel. Nach meinem Fortgang wird manches zu erzählen sein. Aus der Musikgeschichte kennen wir sowas ganz gut. (Hans v. Bülow etwa über Brahms‘ Violinkonzert: „Konzert gegen Violine und Orchester“. Undsoweiter. Auch die aus Beethovens Dritter gestrichene Dissonanzen gehören dazu.)
Etwas Muskelkater, tatsächlich habe ich. Der angenehmste Schmerz, den ich kenne, weil er komisch ist: Es tut weh, man muß lachen und setzt alles daran, diesen Zustand zwar nicht aufrechtzuerhalten, aber möglichst bald erneut herzustellen. Und der Spiegel dankt es einem dann. Soviel zur Eitelkeit. die indes ein Ausdruck ist von Lebensfreude und der Lust am Geschlecht. Die Poesie kommt da noch hinzu. (Wobei ich mich neulich, nachdem ich — was nach → dem gräßlichen TENET extrem guttat — Ferzan Ozpetek → GEHEIMNIS VON NEAPEL gesehen hatte, leider nur hier bei mir am Screen … — wobei ich mich also fragte, ob ich heute noch, wär ich erst zwanzig Jahre alt, mich für Literatur entscheiden würde oder doch eher für den Film. Wahrscheinlich, Freundin, letzteres, nach all meinen Erfahrungen mit der Rezeption. Die Ausnahme allerdings, eine große, wäre die Lyrik. Die ist durch keinen Film zu ersetzen und schon gar nicht plothalber wie der Roman, der am Plot quasi dahingesiecht und heute längst schon tot ist. Auch wenn er es nicht merkt.)
Ihr
ANH
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1 Kreon (leider nötig, im weißen Behältnis
links oben): die Enzyme zur Fettverdauung