[diesmal kein Textvergleich, sondern wegen der, glaube ich, Intensität der Szene n u r die Neufassung und also ohne den Vergleichstext
im 1983 erschienenen Buch:]
(…)
Was ihn aber nicht hinderte, sich neben den Pflanzen erneut auf dem Boden auszustrecken, die Decke über sich zu ziehen und willentlich sich Agnes’ Nähe zu erträumen,
obwohl er die Freundin seit dem Abend des 16. nicht mehr besuchte; vielleicht auch eben deshalb. Er hatte sich ihr da auf unangemessene Weise genähert, sie sich aber erst ihm, so dass er, fast ohne es zu wollen, übergriffig wurde. Jedenfalls kann man es so sehen. Er selbst sah’s später so. Sie hatten auch kaum gesprochen, jedenfalls er war auffallend schweigsam gewesen, indessen ihre Plauderlaune, ein fröhlicher Strom innengerichteter Oberflächlichkeit, erst allmählich in ein allerdings bächleinsprudelndes, doch schließlich versickerndes Murmeln überging. Geschwiegen dann plötzlich, wobei sie ihn ununterbrochen ansah, weil sie vielleicht zum ersten Mal etwas begriff. Er selbst sah sich, weiterschweigend, in den Schoß, die Hände je auf den Oberschenkeln, zwischen ihnen jeweils die hängenden Finger. Da legte sie ihre Hände dazu. Er reagierte erst nicht, schien es gar nicht zu bemerken. „Ulf“, sagte sie. So dass ihm die Tränen kamen. Das aber auch ohne Willen. Und sie zog ihn an sich, nur um zu trösten, umarmte ihn, „Ulf, ach Ulf“, legte die rechte Hand seinem Hinterkopf auf, wie wenn sie ihn umwölbte, streichelte mit der linken in den Nacken hinab, streichelte wieder hinauf, wußte doch nicht, wie tot er war, der langsam erwachte, doch unklar nur noch Empfindung, nicht mal Gefühl war und nichts begehrte als Verschmelzung. Seine Hände hoben sich selbst an, die Arme legten sich um die andere Taille – schmal, so schmal! –, und um den anderen Rücken, den die Finger zu streicheln begannen, bevor ihrer fünf in Höhe der Nieren unter den hochgerutschten Pullunder strichen und die ganze jetzt geflachte Hand sich mit dem Samt der anderen Haut verband, der vor Wärme nahen. Es spitzten sich seine Lippen. Kamen, als würden sie schnuppern, wie witternd an den anderen Mund und legten sich, gleichsam auslaufend, auf ihn. Der sich da auftat. So sog er Speichel. Und weinte doch weiter, er aber nicht, sondern es. Fuhr ihr tränend über Gesicht, Haar und Hals. Als der Kleine, vom Vater schon lange heimgebracht und im Schlafanzug längst, in das Wohnzimmer hüpfte. „Mama, schau was Michi ’ebaut ’at!“ Er hielt ein Legoauto hoch.
Sofort stieß Agnes nicht, aber drückte doch stark Laupeyßer von sich. „Wieso schläfst du, Süßer, noch nicht?“ Schon stand sie aufrecht, hatte den Buben vom Teppich gehoben und ihn sich auf Unterarm und Ellbogen gesetzt, eins seiner Ärmchen um ihren Hals, am Ende des andern das festgehaltene Auto. „Komm, mein Schatz, wir gehen jetzt mal wieder ins Bett.“
Laupeyßer stumpf. So war es aber immer. Für den Kleinen war es schwierig, wenn die Mama nicht auf ihn konzentriert war. Immer wieder dann heischte er Aufmerksamkeit, machte Geräusche, hopste herum, zog am Kleiderärmel.
“Du, verzeih, ich mach das mal eben. Kann ein bißchen dauern.“
Weg war sie. Er hörte sie im Kinderzimmer ein leises Gutenachtlied singen. Hätte einfach gehen sollen. Aber er dachte, in ihr zu gesunden. Und auch das nicht er, sondern es. Denn er, wär er nicht wie weggetreten gewesen, hätte klar erkannt, daß es vorbei war, vorbei auch sein mußte, für heute abend jedenfalls. Selbst wenn der Bub jetzt einschlief. Er könnte jederzeit erneut wachwerden. Das hatte eine Mutter wie Agnes, die Mütterlichkeitsmutter, unausgesetzt im Instinkt. Dazu kam mit Recht eine gewisse andere Vorsicht. Für den Kleinen gehörten Papa und Mama noch immer zusammen, sein Wille, sich das Elterneinheitsintrojekt[1]Elterneinheitsintrojekt ist ein aus “Einheitsideal” und “Elternintrojekt” gebildeter Neologismus; bs nach dem Lektorat muß überprüft sein, ob es noch einen anderen, bereits existierenden … Continue reading zu bewahren, war fantasiebegabt genug, um die Trennung der Eltern geradezu ignorieren zu können. Das machte neue Verbindungen heikel. Nicht Freundschaften, nein, aber Innigkeiten mit Fremden. Agnes vermied deshalb Männer in des Buben Daheim; wenn sie sich mit anderen als denen traf, die ihm vertraut waren, dann auswärts. Ihrem Kind einen neuen Mann zugemutet hätte sie erst, wäre sie sicher gewesen, daß die neue Beziehung unverbrüchlich dauerhaft würde. Genau das aber verhinderte es, weil sich die neuen Partner auf eine Distanz gehalten fühlten, die reizvoll vielleicht sexuell war, eine tiefere Bindung aber unterlief. Nun war Agnes nicht nur erschrocken, als der Kleine so plötzlich im Zimmer stand und zum Zeugen ihres – wie er es, ohne das Wort dafür zu haben, aufnehmen mußte – ‚Fremdgehens‘ wurde, sondern sogar schockiert, daß sie selbst es in ihrer beider Zuhause zugelassen hatte, auch wenn es erotisch gar nicht von ihr gemeint war. Wobei sie sich da nicht mehr sicher war. In jedem Fall war eine Fortsetzung jetzt ausgeschlossen, egal, ob Michael schlief.
In anderem Gemüts-, also Gemüthszustand wäre Laupeyßer all dessen gewärtig gewesen und deshalb, wenn sich seine Erregung anders hätte nicht mildern lassen, tatsächlich gegangen – grußlos, um nicht zu stören, da, den kleinen Jungen zum Schlafen zu bringen, offenbar so langwierig war, und sozusagen auf Zehenspitzen. So aber, noch immer sang’s aus dem Kinderzimmer, indem er den Berührungen nachsann und wie nicht nur im Wortsinn notwendig, sondern selbstverständlich und einander eben wollend die Körper sich ineinanderzufügen begonnen hatten, um wirklich eine Einheit zu werden, wir hätten uns nur noch ausziehen müssen, um endlich, endlich gemeinsam aufwallend ichlos zu werden und ekstatisch am Ende ineinanderzufallen, worauf nichts mehr als der Schlaf folgen kann, tiefer, tiefer Schlaf – so aber blieb er sitzen, hing aufsteigenden Erinnerungen nach, was sentimental gewesen wäre, wäre er klar denn gewesen, und umschloß, um die warme Härte zu erhalten, mit der linken Hand, ohne indes sie bewegend, seinen in der Hose gegen den geschlossenen Reißverschluß pochenden Phallus.
Er erinnerte sich ihrer beider ersten Zeit. Als er noch in – hätte er, wenn nicht so trübe, gedacht – verlogener Selbstverständlichkeit gearbeitet hatte. Schon da hatte Agnes sich nicht einlassen mögen oder tat es immer nur halb. Auch da schon ihres Kindes wegen. Er hatte anfangs immer nur herkommen dürfen, wenn der Junge mit seinem Papa war, immerhin einmal die Woche, sonnabendsonntags einmal im Monat. Natürlich hatte Laupeyßer das zu nutzen versucht, aber Agnes sich stets sanft entzogen; sie zu verführen, war ihm unmöglich. Doch sie sprachen intensiv, vom ersten Augenblick an. Sie nannte ihn ihren Wahlverwandten. Wiewohl kaum älter, hatte er den Eindruck, eine Art Vater für sie zu sein; den ihren kannte sie kaum. Um den Begriff gebräuchlich zu nehmen (was aber falsch ist), ‚platonisierte‘ sie ihre Beziehung zu ihm. Was ihm selber nur mühsam gelang, eigentlich gar nicht. Um nicht zu verdrängen, berührte er sie bisweilen wie versehentlich an der Schulter, nahm ihre Hand, legte eine eigne auf ihren Schenkel oder streifte ihr zart eine Strähne aus der Stirn. Sie tat dann, als ob sie nichts merke. Bis er’s endlich unterließ.
Bis soeben. Doch war nicht die unversehene Nähe von ihr ausgegangen? Er hatte stumm nur gesessen und sich in den Schoß gestarrt. Dann saß sie plötzlich wieder da, er hatte ihr Zurückkommen gar nicht bemerkt. Und sie saß nicht nur nah, nein, legte auch die Hand wieder auf. „Verzeihung, ich wollte nicht …“ – Was gab es denn zu verzeihen? Spontan sah er auf, zog die Frau schon an sich, suchte ihren Mund und fuhr ihr erneut mit der Rechten unter den Pullunder, jetzt aber vorne. Und zog ihre Hand mit der Linken auf wo sie bis eben nicht hatte gelegen, sondern sein letztes Lebenszentrum umschlossen. Da nun stieß Agnes ihn weg, drückte nicht nur. Aber ohne ein Wort.
In seinen Schoß konnte er jetzt nicht mehr blicken.
„Bitte verzeih“, sagte er.
Sie blieb stumm.
„Verzeih doch bitte“, flüsterte er.
Es war nichts zu verzeihen, es war sich bloß, sie wußten es beide, zu trennen. So sehr war etwas zerbrochen. Man hätte flennen können. Doch ihr nur liefen zwei Tränen, er seinerseits trocknete aus. Obwohl er nicht hinsah, sah er ihre Halsschlagader unter der Seidenblumenhaut pulsieren, so daß er sich, innerlich zurückschreckend, doch tatsächlich immer noch erstarrt und um nicht überdies zu vereisen, mit beiden Händen über die Augen fuhr, mehrmals, und schließlich sein hinterköpfiges Antlitz in ihnen vergrub. Und weinte also doch, indessen Salzkristalle oder Sand, ein unsichtbares Granulat, das schmerzte, als es sich durch die Tränenkanäle hindurchrieb.
Endlich stand er auf, nahm den Mantel und ging, doch ohne den Vorschein von Würde, den selbst Großvater Branske bis an sein Ende bewahrte. Und hatte nicht einmal von dieser Nacht gesprochen, die ihn derart benommen gemacht. Wie gerne hätte er davon erzählt. Nun wird er nie wieder erzählen.
(…)
References
↑1 | Elterneinheitsintrojekt ist ein aus “Einheitsideal” und “Elternintrojekt” gebildeter Neologismus; bs nach dem Lektorat muß überprüft sein, ob es noch einen anderen, bereits existierenden Begriff gibt, der den Sachverhalt beschreibt. Ich hab die Recherche schon angestoßen. ANH |
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