„Wahlvaters Treue“: Briefe nach Triest, 45. Wiederaufnahme, Überarbeitung 5.

[Aus dem dreißigsten Brief]

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Liebesgefangen, liebesbefangen. Ich sinne über die Kindlichkeit nach, die Du in mir als mein Gefühl zu Dir bewirkt hast: Reinheit, weil Kinder Ambivalenzen noch nicht kennen; erwachsen erst, wer mit ihnen umgeht Wir haben doch alle, als wir noch klein gewesen sind, an Einfachheit geglaubt. Platons Gastmahl, die andere Hälfte, eine, die eine Große Liebe, für die wir bestimmt sind und die für uns bestimmt ist. Dem zur Seite lebte sich das Gefühl, daß man gut sei, und man möchte imgrunde nur Gutes. Alle Reinheit ist naiv. Das macht sie gefährlich, weil blind. Sie ist ihr eigenes, ausschließliches Interesse, also sie schließt aus, was ihr mit selbem Recht entgegensteht. Sollst keinen haben neben mir. Ihr sind Fünfe niemals grad. So gibt’s nur gut und böse, nicht aber die Chemie, die weder gut noch böse ist, sondern pur Prozeß. Ich spreche hier von einer ehelichen, in jedem Fall partnerschaftlichen Treue, die zwar – fast seit je – dem gesellschaftlichen Interesse an Stabilität und Lenkbarkeit dient, letztlich sogar dem Umgang mit Waren, gegen die erotisch aber Natur steht. Wie groß deren Macht ist, kennen wir gut aus den Mythen. „Venus ist eine glitschige Göttin und sie kennt keine Regeln“, formulierte ein nun leider gestorbener, mir zum Wahlvater gewordener Freund. Er war seiner Frau bis zu ihrem Tod zutiefst verbunden und hatte dennoch permanent nein, keine „Affären“, sondern im Wortsinn Geliebte, mit denen er auch öffentlich erschien. Was umso heikler war, weil er ein machtvolles öffentliches Amt repräsentierte. Doch etwas zu verheimlichen, widersprach seinem Stolz. Und bestritt dennoch lebenslang, daß Karen, seine Frau, jemals etwas bemerkt habe. Dabei wohnten sie zusammen. Für die Körper unterhielt er in der nahen Stadt ein, wie er es selbst nannte, Erotikon. Die Wahrheit wird gewesen sein, daß seine Frau die andern Frauen tolerierte, wiederum aus Liebe zu ihm. Es durfte nur nie angesprochen werden, damit er nicht lügen müsse oder sich, was Erniedrigung gewesen wäre, reuig zeigen. Wo Reue doch auch gar nicht war und also nochmals wäre Lüge geworden. Das hätte die Ehe zugrunde gehen lassen und beider Lebenswurzel erst verfault und zu Staub dann eingetrocknet. Hörst Du, Sídhe? Die Liebe war doch immer noch da! Sie war es, die beiden die Kraft gab, sich mit egal wie schmerzhaften Ambivalenzen irgendwie zu arrangieren, ihr, der Frau, wahrscheinlich mehr noch als meinem Freund. Derart selbstermächtigt bestimmten sie sich selbst. Und als Karen, so hieß die große Frau, starb, war seine Trauer unendlich. Auf einer Harley raste er sie sich aus dem Leib, verunglückte, Hirnschlag, Krankenhaus, Fehlbehandlung, Amnesie, dann irreparabler Gedächtnisschaden, mehr noch, sich irreversibel weiter und weiter durchs Gehirn fressend. Und dennoch blieb er bis zu seinem Jahre später so gnädigen Tod, daß er ihm das Heim ersparte, weiterhin von mehreren, bisweilen wechselnden Geliebten umgeben, die nun freilich älter waren und umso mehr die chevalereske Verehrung genossen, die er ihnen – als Frauen! – fast jugendlich entgegenbrachte. Dennoch, obwohl er sie brauchte wie um zu atmen, hat von ihnen keine, und keine frühere, so tief in seine Seele gereicht wie Karen, die drin wohnte und deren Gemälde ungeheuer präsent im Vestibül der dreistöckigen Taunusvilla noch die Trauergesellschaft empfing, indem sie stolz auf sie hinunterschaute, und prüfend.

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