[Arbeitswohnung, 9.07 Uhr
Hans Werner Henze, Ode an den Westwind (1953)]
Es war einer der für mich schlimmsten, schmerzhaftesten Vormittage, derer ich mich entsinnen kann. Gestern, am Sonntag, den 18. September 2022, einen Tag vor dem, der mir wäre ein Jubeltag gewesen. Weshalb es gestern so schmerzhaft war, möchte ich nicht erzählen, nur, daß ich vor fast panischer Nervosität nur noch auf- und ablief, hospitalisiert gleichsam hinter den tausenden Stäben, doch die Welt eben wenn nicht im Blick, so doch in meinem gradezu grellen Bewußtsein; sie war noch da, dahinter, aber ließ mich nicht mehr in sie hinein. Dann mußte ich wirklich aufbrechen zur SBahn, mit der dann weiter nach Meidling zum Zug. Besser, noch einmal auf die Toilette. In meiner panischen Hektik drehte ich mich einmal ungelenk herum, es war eng, und schlug mit dem linken Arm derart heftig gegen ich-weiß-nicht-was, daß meine geliebte wunderschöne Girard-Perregaux zersprang — was ich aber erst in dem Örtchen merkte, als ich das Schutzglas zu berühren meinte, es tatsächlich aber das Ziffernblatt war. Und der feine goldene Sekundenzeiger fehlte. Dennoch, der andre Schmerz war größer, dieser, der zweite, jetzt eigentlich nur noch seine nicht mehr symbolische Materialisierung. Wir krochen nachher, mein Verleger und ich, am Boden herum und suchten. Das Schutzglas lag da, auch die goldene Innenblende. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ich den Zeiger mit allem, was hinuntergespült werden auch sollte, hinuntergespült habe. So ist die Uhr nun in Wien verblieben, um zu meinem Uhrmacher gebracht zu werden, den ich zwei Tage vorher längst aufgesucht hatte, weil eine Geringfügigkeit zu justieren war, und der die Uhr ganz nebenbei so sehr auf neuen Hochglanz gebracht hatte, daß ich sie dauernd anschauen mußte. Ohne zu wissen, daß es ein quasi Abschied war, wenn auch da noch eben nur symbolisch. Und noch am SBahnhof Mitte ging ich minutenlang wartend auf und auf, bis ich mich endlich zusammenriß und eine frühere Bahn als geplant nahm. Schließlich im ICE – ein Segen, daß ich reserviert hatte – brachte ich es zwar fertig, meine noch nicht in die Datei überführten Triestnotate in sie zu übertragen, aber alles dieses mechanisch. Denn ich fing an, das gesamte Romanprojekt zu bezweifeln. Dabei war selbst meine Lektorin wie aufgerührt von dem gewesen, was ich ihr in unseren drei Tagen daraus vorgelesen hatte. Nahezu alle, denen ich vorlas, sind es, mein Verleger auch. Aber mit einem Mal war das Buch sinnlos geworden. So geht es mir noch jetzt. Wie ich nun die letzten beiden zu verfassenden Briefe noch schreiben soll, weiß ich nicht. Momentan ist es mir nicht möglich. Was ich könnte, wäre, aber auch das eher mechanisch, die bisher stehende Erste Fassung bereits zur Zweiten insofern ergänzen, als ich die Notate nun nach und nach einbaue, neue Übergänge schaffe, die Orte mit meinen Erlebnissen abgleiche usw., dieses alles ja. Und später dann, wenn damit fertig, die beiden noch fehlenden Briefe ergänzen. Nur daß ich gerade nicht mehr weiß, wozu.
Das Geschehen, das ich Ihnen, Freundin, nicht erzählen möchte – oder soviel vielleicht doch, daß ich es als einen tiefen Vertrauensbruch empfinde, ja als menschlichen Verrat -, war um so schlimmer, als insgesamt wundervolle Tage vorhergegangen waren, pralle, lebensfrohe, ja begeisterte voller Ideen, in denen auch die Triester Erfahrungen nachschwangen. Nun war es, als würde ich bestraft für sie werden. Wie in büßender Trance trat ich an die zwölf Stunden später in meine Arbeitswohnung ein. Was mir half, war allein, daß als Rezensionsexemplar im Briefkasten diese CD lag, die ich gerade höre, nämlich Henzes Musiken für Violoncello und Orchester. Und ich w e r d e sie besprechen, vielleicht noch heute, wenn ich doch sowieso an den Roman nicht gehen mag, nicht gehen kann. – Lieferbar wird sie ab dem 14. Oktober sein; sie ist noch nicht einmal auf Berlin Classics Website annonciert.
Sie werden, Freundin, verstehen, wenn ich jetzt noch nicht, obwohl ich es vorhatte, von meiner Triestreise erzählen kann, nicht nur nicht mag. Da muß erst dieser Schatten weg, der seit gestern morgen drüberliegt. Aber vielleicht kann ich zumindest ein Notat zitieren, das ich als quasi Briefentwurf für meine Lektorin in der kleinen, mir vom Arco-Verleger empfohlenen „Degusteria“ km 0 in mein Notizbücherl geschrieben habe, wobei ich – weil es, hätte ich ihn abgesendet, ein Privatbrief gewesen wäre – Klarnamen hier umerfinde. Und merke unvermittelt wieder, wie gut es mir tut, die Trauer auszu… — nein, mir m e i n e Trauer auszuschreiben:
(Settembre 9, sera)
[1]Nur zur Erläuterung. Wenn im Notizbücherl Seiten durchgestrichen sind, bedeutet das, die Texte seien bereits in die zugehörige Datei übertragen worden. Erst danach, in aller Regel, erfolgt die … Continue readingWas ich gerade erlebe, habe ich erst einmal zuvor erlebt – als ich damals „Meere‟ schrieb. Ich bin völlig allein, es schnürt mir die Luft weg; zugleich bin ich in rasender Gesellschaft meiner „Figuren‟. Sie sprechen zu mir, widersprechen oder geben mir recht – doch alles ganz von oben herab. Indessen begründet. Ich darf nicht einmal ihre Wohnorte aussuchen, alles tun sie selbst, einfach, weil ich genau sein will und muß. Die Sídhe wohnt jetzt dort (→ Bild) schon wegen des Caffès San Marco gleich unten nebenan (→ Bilder). Für mich selbst heißt das, ganze schon fertig gewesene Strukturen noch einmal (fast) völlig umzuwerfen. Und aber wer mir helfen könnte, hält sich – aus nachvollziehbaren Gründen – zu mir in Distanz. Mit sowas muß man(n) leben können. Unterm Strich bleibt eine insofern eigenartige, aber schwere Einsamkeit, als ich ja ständig in Gesprächen bin – aber eben mit Figuren. Wenn die bei einem schlafen, ist da keine Wärme und kein Pulsen der Haut. Dies ist wohl das einsamste, den Rest eines Lebens alleine zu schlafen und allein aufwachen zu müssen. Was ich tu und arbeite weiter an dem Roman. Der nicht tut, was ich will, sondern mir vorschreibt, was sein Interesse ist. Für mich ein ziemlich wilder Spagat. Bislang habe ich aber alles „gepackt‟. – Helmut gestern in Skype: Er habe meine Pläne gesehen und nur gedacht, „unmöglich, sowas zu schaffen. Niemals!“ Ihm mache das eine ‚riesen‛ Angst. – Mir auch. Nur daß er auf die Angst hört und es nicht angeht, indes ich es da erst recht tu. (Das ist meine Verbindung zu Jessir, dem Kriegsberichtfotografen. Wir sind uns nah. Nur deshalb darf ich – ethisch Mariannes Geschichte verwenden und die ihres einstigen Partners. Wie Corinnas davor.) | Ich sitze hier und denke: Gleich breche ich zusammen. Aber das werde ich nicht, sondern erfüllen, was ich mir vorgenommen habe. Es gibt in meinem Leben für Schwächen keinen Platz; ich könnte denn meine Arbeit nicht zuendebringen.
Kopfhaut (wenn Haar darüber) ist nie braun, sondern immer hell. (Bei Weißen).
Immer noch in diesem „Ristorante‟: Die Menschen sind ein Zusammenhang. Was aber, wenn jemand in keinen gehört? Ich gucke es mir an und finde es so toll – doch kann daran nicht teilnehmen. (Ich fühle keinen Neid, nur Zuneigung, aber auch, nie ein Teil davon zu sein.)
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Daß die russische Übersetzung des Traumschiffs, Корабль-грёза, jetzt erschienen ist, wissen Sie → seit vorgestern und ahnen, denke ich, meine Ambivalenz, die vor allem darin besteht, mich freuen zu wollen, es aber angesichts des Krieges nicht zu können. Was gegenüber Tatiana Baskakova ein fast schreiendes Unrecht ist, zumal sie von allem Anfang an eine entschiedene Gegnerin Putins war und es nach wie vor ist. Ich kann wirklich nur Abbitte leisten und innig auf Zeiten hoffen, die es wieder möglich machen, stolz darauf zu sein, in Vladimir Nabokovs bis zu seinem Tod geliebte Muttersprache übersetzt worden zu sein — und mit welcher poetischen Akribie! Allein die fast einhundert zusätzlichen Seiten Kommentar sind eine Ehrung. Und dennoch, dennoch, dennoch. Dagegen an will ich aber doch wenigstens die Würde zeigen, das Buch auch zu annoncieren, selbst wenn ein befreundeter Kollege mich schon vor Wochen gewarnt hat: „Wenn du das tust, warte nur, wie schnell sie dich einen Putinfreund nennen werden.“ Habe ich je aus egoistischen „Karriere“gründen besser mal den Mund gehalten? Nein. Es soll sich auch nicht ändern:
Ihr ANH
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Briefe nach Triest 61 <<<<
References
↑1 | Nur zur Erläuterung. Wenn im Notizbücherl Seiten durchgestrichen sind, bedeutet das, die Texte seien bereits in die zugehörige Datei übertragen worden. Erst danach, in aller Regel, erfolgt die Einbettung in das Typoskript. Wobei ich während der Übertragung aus der Handschrift meist schon umformuliere und/oder aus der Erinnerung ergänze, die von der Wiedervergegenwärtigung aktiviert wird. |
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