Zum 7. Oktober. Von Ferdinand von Schirach

Beitragsbild: → Jaber Jehad Badwan,
CC BY-SA 4.0

Dieser Kommentar erschien zuerst → d o r t in Die Welt
und darf auf ausdrücklichen Wunsch des Autors unent-
geltlich veröffentlicht werden. Die Dschungel dankt
Aisthesis für den Hinweis, dankt s e h r . Und, selbstver-
ständlich, Ferdinand von Schirach.
ANH, 7. Oktober 2025           

           Die Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 in Israel sind in über 60.000 Videos dokumentiert. Trotzdem schenken viele Menschen Falschinformationen aus den sozialen Medien Glauben. Wie kann das sein? – Am 7. Oktober 2023 zerstören Hamas-Terroristen den Grenzzaun zu Israel. Rund 3000 Kämpfer dringen über den Land-, See- und Luftweg in das Land ein. Die Terroristen schießen wahllos auf Passanten, sie plündern, morden und vergewaltigen in 22 Ortschaften an der Grenze.
Bei Re’im findet gerade ein Musikfestival statt. Die Terroristen stürmen das Gelände und feuern in die Menge. Sie ermorden 364 Festivalbesucher, viele wurden zuvor noch gefoltert und vergewaltigt. Die »New York Times« recherchierte sehr umfangreich über die sexuelle Gewalt gegen Frauen. Danach berichten Zeugen von Frauen- und Mädchenleichen mit gespreizten Beinen, abgerissener Kleidung und deutlichen Anzeichen von Missbrauch im Genitalbereich.

           Verstümmelt und gefesselt

Videos zeigen zwei tote israelische Soldatinnen, denen offenbar direkt in die Vagina geschossen wurde. Auf einem Foto ist eine Frauenleiche zu sehen, der Nägel in die Oberschenkel und die Leistengegend gehämmert wurden. Eine Festivalbesucherin sagt aus, sie habe sich während des Massakers unter einem Baum versteckt und mit Gras bedeckt, weil ihr in den Rücken geschossen wurde. Sie habe gesehen, wie einer Frau die Hose bis zum Knie heruntergezogen worden sei. Ein Mann habe hinter ihr gestanden und sie vergewaltigt. Jedes Mal, wenn sie zurückgewichen sei, habe er ihr mit einem Messer in den Rücken gestochen. Eine andere Frau, so die Zeugin, sei von einem Terroristen vergewaltigt worden, während ein weiterer Mann mit einem Cuttermesser ihre Brüste abgeschnitten habe.
In Be’eri und Kfar Aza wurden in sechs Häusern Leichen von Frauen und Mädchen gefunden. Sie waren nackt, verstümmelt und gefesselt. An diesem Tag werden 1139 Menschen ermordet. Darunter sind 695 Zivilisten, einschließlich 36 Jugendliche und Kinder. Ein Ersthelfer sagt vor der Knesset aus, er habe abgetrennte Schädel von drei Kindern gesehen.

           Gegenteil der Wahrheit

Vor 75 Jahren erschien George Orwells Roman »1984«. Heute denken die meisten Menschen bei dem Titel an den Überwachungsstaat, an »Big Brother is watching you«, »Der Große Bruder sieht dich«. Aber eine andere Idee des Romans reicht weiter. In dem Roman verändert das »Wahrheitsministerium« die Sprache der Menschen und damit die Wahrheit. Dieses Ministerium »war ein riesiger pyramidenartiger, weiß schimmernder Betonbau, der sich terrassenförmig dreihundert Meter hoch in die Luft reckte. Von der Stelle, wo Winston stand, konnte man gerade noch die in schönen Lettern in seine weiße Front gemeißelten drei Wahlsprüche der Partei entziffern: ›Krieg bedeutet Frieden / Freiheit ist Sklaverei / Unwissenheit ist Stärke‹«
Das Gegenteil der Wahrheit wird geglaubt, wenn sie nur oft genug behauptet wird. Vergangenheit lässt sich verändern, Tatsachen gelten nichts. George Orwell hatte recht. Am Anfang waren es nur alberne Verschwörungstheorien: Die Mondlandung sei von Stanley Kubrick im Auftrag der US-Regierung inszeniert worden. Die Welt würde von Reptiloiden regiert, die sich als Menschen tarnen, wie zum Beispiel Barack Obama, die Queen oder Angela Merkel. Die Erde sei eine Scheibe. Paul McCartney sei schon lange tot, Walt Disney nur eingefroren, und Elvis lebe noch.
Dann wurde es ernster. Die Terroranschläge am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York seien von der US-Regierung selbst durchgeführt worden. Der Bevölkerung wären über den Corona-Impfstoff heimlich Mikrochips implantiert worden. Globale Eliten würden Zuwanderungsströme steuern. Putin erklärt, die Ukraine sei ein von Nazis unterwanderter Staat, der Genozid an der eigenen Bevölkerung verüben wolle. Und Donald Trump verkündet noch immer, er habe die Wahl gewonnen.

           Opfer werden zu Tätern

Die sozialen Medien sind weitaus mächtiger, als es ein »Wahrheitsministerium« je sein könnte. Mit einem Tastenklick werden dort Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern gemacht. Wahrheit ist heute nur noch eine Meinung – und man darf ja wohl auch anderer Meinung sein. Die Wirklichkeit scheint nicht mehr zu existieren, selbst bei den schrecklichsten Verbrechen.
Zu den Massakern am 7. Oktober 2023 in Israel gibt es über 1500 Zeugenaussagen, über 60.000 Videos – unter anderem aus den beschlagnahmten Körperkameras der Terroristen – und zahllose Fotos der Morde, Folterungen und Vergewaltigungen. Trotzdem glauben über 90 Prozent der Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland, die Hamas habe in Israel keine Gräueltaten verübt. Twitter, TikTok und Telegram werden mit Terrorpropaganda, Falschinformationen und Antisemitismus überschwemmt. Und das funktioniert: Auf der Sonnenallee in Berlin feiert am Abend des 7. Oktober das palästinensische Netzwerk Samidoun den Angriff der Hamas. Süßgebäck wird dabei an Passanten verschenkt.

           Jubel über Terror

In London, Stockholm, Barcelona, Washington, New York, Chicago, Sydney und anderen Städten jubeln Menschen über den Terroranschlag auf Israel. Schon zwei Wochen nach den Morden gehen in London 100.000 Demonstranten für die Palästinenser auf die Straße.

Die Terroristen nahmen am 7. Oktober 2023 in Israel 251 Geiseln. An dem Tag, an dem ich diesen Text schreibe, sind nach Zählung der Zeitung »Haaretz« noch immer 66 Menschen in der Gewalt der Hamas, 35 Entführte wurden bereits für tot erklärt. Die jüngste Geisel ist ein Baby. Der Junge war achteinhalb Monate alt, als er entführt wurde. In Orwells »1984« heißt es: »Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen sie sich einen Stiefel vor, der ein menschliches Gesicht zertrampelt – unaufhörlich.« Diese Stiefel sind heute die sozialen Medien.

           Ferdinand von Schirach



Bild: → Daniel Ventura, CC BY-SA 3.0




Siehe auch Aisthesis, 8. Oktober, → Drei Zähne

3 thoughts on “Zum 7. Oktober. Von Ferdinand von Schirach

  1. Wir können nicht mehr streiten, anderer Meinung sein, über Lösungen nachdenken, Vorschläge machen, wir können nur noch – und das zeigt Ferdinand von Schirach in seinem Text deutlichst – unsere Ohnmacht eingestehen. Es ist fürchterlich.

  2. Danke für den Schirach-Text. Erfrischend – trotz des grausigen Anlasses. Seit Langem nervt mich ja das feig-sozialkompetente Schweigen und Euphemisieren der intellektuellen Community. Obwohl mir die allfällige „Ausweglosigkeit“ eines werteorientierten Standpunkts zwischen Hamas-Massaker und Israels Rachefeldzug bewußt ist. Ich selbst empfinde da allerdings keine Ausweglosigkeit – beide verletzen MEINE Werte. Seit Monaten betrete ich jedes dazu bereitstehende Fettnäpchen und muß mir von beiden Seiten der Sympathisanten Beschimpfungen anhören. Der Schirach-Text ist Balsam für mich. Schon vor einem Jahr und 360 Tagen war klar, was Sache ist. Widerlich. Und nun Israel… Widerlich. – Ich denke, die Uneindeutigkeit des „Westens“ rührt auch daher, daß alle irgendwie fühlen, damals nach dem großen Krieg dort alles falsch gemacht zu haben. Das übliche strategische Über-Den-Kopf-Der-Beteiligten-Hinweg-Entscheiden – Land wegnehmen, um es zu geben, Geopolitik mit dem Lineal auf der Schul-Landkarte. Dabei ist diese Gegend der Geburt der drei großen monotheistischen Religionen schon deshalb kulturell ein genetischer Konfliktherd. Wie konnten wir nur..? „Der Westen“ hat’s verbockt und jetzt macht er dicke Backen. Peinlich. Das ist der größere Zusammenhang, für den auch ich Ausweglosigkeit empfinde. – „Wir“ haben es verbockt? Ja klar. Man (inklusive Pius XII) hat Nazi-Deutschland viel zu lange gewähren lassen und wollte danach voller Schuldgefühle den Juden Gutes tun – hat aber die Palästinenser entrechtet… Na klar griffen die orthodoxen Arschlöcher völkerrechtswidrig nach dieser Chance, um ihre antiquierten religiösen Werte imperialistisch in Beton zu gießen. – Und Herr Netnjahu greift nun danach, um seine Position und seine Pension zu sichern. Pfui Deibel. Und nun ruht die Hoffnung aller auf diesem Honk Trump. Auch Pfui Deibel…
    Der Zorn und der Ekel der Israelis ist verständlich und teilbar. Doch der Furor der israelischen Armee ist mehr, als Notwehrüberschreitung. Mit Notwehrüberschreitung kenne ich mich aus. Individuell nehme ich sie mir als Recht des älteren Kämpfers, der erbarmungslos Schluß machen muß, weil er einer erneuten Attacke des jüngeren Angreifers fitnessmäßig nicht mehr standhalten könnte. Doch ein Staat darf das nicht. Erst recht kein Staat mit militärischer Überlegenheit. (Und da reden wir noch lange nicht über das andere Ärgernis, Russland und Ukraine.)
    „Staatsraison“? Meine Staatsraison bezieht sich auf unser Grundgesetz. Wir haben Europa und beinahe die ganze Welt mit faschistischen „Werten“ überzogen. Unsere Pflicht ist es nicht, aus unreflektiertem (dennoch berechtigtem!) Schuldgefühl den Staat Israel zu stützen und zu verteidigen, wenn er imperialistisch und faschistisch handelt. Wir, als gebrannte Kinder, haben die Pflicht, der israelischen Staatsführung unserem Grundgesetz folgend als Freund und mittlerweile halbwegs mächtiger Partner unsere Werte zu vermitteln. Das hätten wir schon tun sollen, als die ersten Orthodoxen ihre Siedlungen auf palästinensischem Gebiet errichteten… WIR haben es verbockt. Jetzt haben wir den Salat. Oh Gott oh Gott…

Schreiben Sie einen Kommentar zu Kaleb Utecht Antwort abbrechen

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden.