PP12, 8. Oktober 2013: Dienstag. Wieder einmal die Vergana. Allerdings durchfuhr tags zuvor die große Stadt Neapel quer das herrliche Thüringer Land.

G a n z ungewohnt: >>>> Aufnahmen im ICE schneiden:

Aber es funktionierte, so möcht ich sagen, prächtig – wovon ich mich abends, als ich etwa die Hälfte des Stücks, nur die Sprachpartien freilich, abhörte, nicht ohne ein tatsächlicher Erstaunen überzeugen… ja: durfte. Allerdings habe ich zweidrei Stellen unbearbeitet gelassen; die sind mir in meiner ziemlich genau fünfstündigen Konzentration völlig entgangen. Was übrigens einen sehr eigenen Reiz hat, wenn in der Erzählung plötzlich Gespräche, Regieanweisungen, Bemerkungen aus der Technik und Sprechproben enthalten sind. Im >>>> Danz-Stück habe ich das mal zu einer Grundlage der montierten Ästhetik gemacht; deshalb mag ich’s nicht wiederholen, sondern wilh ganz besonders hier, in dem Neapel-Hörstück, auf Geschlossenheit achten, eben weil es bei dieser Arbeit um Geöffnetsein geht, das wir aus der Differenz sehr viel stärker, meine ich, spüren werden.

Bach, Partita 1, VIII (Mullova).

Dann rief spätabends Vilnius wieder an, dem ich ja nun das Handtuch fast schon geworfen hatte: mit Begründung freilich und offenbar einer, die sehr genau und klug verstanden wurde. Dennoch möchte man, daß ich zumindest fünf Videos skizziere, womit mein Vertrag dann erst einmal erfüllt wäre, und zwar innerhalb des vorgegebenen zeitlichen Rahmens. Also werde ich mich heute nachmittag noch einmal darübersetzen, auch wenn ich ernstlich meine, daß man das Projekt verschieben müsse, um wirklich Substantielles zuwege zu bringen. Es wäre einfach schade, wenn dieses spannende Unternehmen an einer nicht nur gewissen, sagen wir, Luftigkeit scheiterte. Da muß einfach mehr E r d e hinein – eine Überzeugung, die mich noch einmal >>>> daran denken läßt: Es ist einfach erstaunlich, wie wenig Achtung manche Menschen vor ihrer Herkunft haben, die eben eine aus dem Organ ist. Das betrifft auch, so sie denn einen haben, ihren Geist. Ich habe entsprechend spöttisch reagiert, einen anderen Kommentar allerdings, der meine Frisur ins Zentrum seiner Häme stellte, gelöscht, weil er mich unbedingt mit „Blut und Boden“ vollasten wollte. Hier ganz deutlich einmal: Ich halte Blut und Boden für wichtig, sie gehören zu uns. Das hat mit „rechter“ Ideologie so wenig zu tun wie ein Wasser mit dem Vakuum zwischen hier und Alpha Centauri. Typisch auch, wie wenig manche Leute das Glück mitempfinden können, das gerade d i e s e s Bild verströmt. Nur eben, w e i l es das tut, stellte ich es ein. (Jemand schrieb mir neulich vom „Club der born cool“: um nichts in der Welt möchte ich ihm zugehören; ich opferte eine Hand, nein beide, wenn mir das das ersparen könnte. Ich will – glühen. Dichtungen, die sich in Exerzitien der Distanz, ja der Unberührtheit gefallen, haben mich nie interessiert. Zur Kühle werden wir alle genügend Zeit nach dem Sterben haben: jahrhundertelang Entropie, jahrtausendelang.)

Nun gleich nach Hanau weiter: Lesung in einer Schule, ausgerechnet, spannenderweise, >>>> die Vergana. Die Schüler:innen haben die Novelle bereits gelesen, und ich habe Fragen gesehen, die sie an sie stellen werden. Ich mag das sehr, freue mich auf die Veranstaltung. Am Frühnachmittag dann werde ich zurück sein und mich dem Europa widmen. Und abends Do, nach wieder einmal langer Zeit. Es gibt sehr viel zu erzählen.

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(Tief gehört zu meiner Poetologie des weiteren, daß Espressomehl viel Öl hat und man das Sieb vor jeder nächsten Verwendung deshalb auswaschen muß.)

(9.20 Uhr.
15 °C., bedeckt.)

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Welch eine schöne >>>> Ankündigung des Neapel-Hörstücks durch den Deutschlandfunk: „… die eigentliche Stadt einer modernen, zeitgemäßen Poetik“.


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(15.50 Uhr.)
Von der Lesung zurück. Rund vierzig Schülerinnen und Schüler der Kaufmännischen Schulen Hanau, alle jene, weniger diese, gut vorbereitet und mit mancherlei Fragen an die >>>> Vergana. Hübsch der Satz: „Und dann haben Sie ja dieses Mädchen auf den Strich geschickt….“ Wir hatten ein wenig darüber gesprochen, weshalb ich mich hier „selbst“ zum moralisch durchaus nicht einwandfreien Protagonisten der Novelle mache; es ging also um das, was mein Analytiker und ich einst, während des therapeutischen Prozesses, „schuldlose Schuld“ genannt haben, der wiederum alleine dadurch zu begegnen ist, daß man sie annimmt: als einen freien Akt, als Entscheidung; und daß es umgekehrt aber falsch ist, sie jemandem aufzuerlegen und zuzumuten, die oder der sich dazu, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sieht. Ganz zuletzt, an ihrem Grund, war unser Gespräch ein religiöses, zumindest metaphysisches. Ich sagte: „Wenn ich dieses Annehmen zum Thema einer Erzählung mache, muß ich es selbst, der Autor, als allererstes sein, der seine Schuld aktzeptiert. Ansonsten wäre die Erzählung bigott.“ Nicht von ungefähr sprachen wir vorher ein wenig über Kleist und Goethes Unverhältnis zu ihm, sprachen über die Romantik als Protestbewegung gegen die harmonisierende Klassik. Das ging sehr gut, auch dann, wenn kaum Vorkenntnisse vorhanden waren. Wir brauchen keine Vorkenntnisse, wenn wir sie im Gespräch vermittelt bekommen, so daß sie zu einem Teil des Gespräches werden, ohne daß sich die Partner gegenseitig Kompetenz bestreiten. Menschlichen Bildungsinhalte sind jederzeit kommunizierbar, und mit jedem. Diese anderthalb Stunden haben mich – wenn Sie das >>>> eitel nennen wollen, dann bitte – in dieser meiner Überzeugung ebenso bestätigt wie darin, daß jegliches Zielgruppenschreiben prinzipiell falsch ist. Denn es bedient nicht die Menschen, sondern alleine den Markt: den die Menschen bedienen. Jedenfalls bin ich gespannt, was mir die Lehrerin über den Fortgang dieses Mittags erzählen wird, über sein mögliches Nachwirken.

Eigentlich schliefe ich jetzt gerne, zumal nach dem für mich ungewohnten Mittagessen, das auf die Schule folgte. Aber ich habe mich um Europa zu kümmern, damit meine Skizzen heute nacht fertig werden und pünktlich morgen früh in Vilnius liegen. Immerhin kann ich Bach hören, weiter die Partiten und Sonaten für die Solovioline.

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