Die hiesigen Menschen essen zu viel. Ein privates Arbeitsjournal am Sonntag, dem 23. Juni 2013. Und ein nächtlicher Nachtrag zur Sommersonnenwende: Der Feen wirkliche Zeit.

8.50 Uhr:

Eigentlich hatte ich gestern nacht noch, liebes Arbveitsjournal, ein wenn auch nur Bißchen in Dich hineinschreiben wollen, allein aber, weil es der erste Tag nach der Sommersonnenwende war, die ich ungern unbenannt lasse: Von nun an werden die Tage wieder kürzer. Aber nicht das ist eigentlich der Grund, sondern der Traum, von dem >>>> sehr schlecht Oehring erzählt hat; Falk Richter macht ihm vor, bzw. nach, der das eigentliche Thema – Kontaktlosigkeit, sich auflösende Liebe usw. – – wie man es also neu erzählen k a n n, ganz unverschmockt und ohne Kitsch; ich begann gestern auch mit dieser Kritik.
Durch >>>> das Festival bleibt allerdings >>>> Neapel gerade etwas stecken; außerdem beschäftigt mich unterschwellig der Steuerbescheid, bei dem ich zumindest die für meine Verhältnisse horrende Umsatzsteuer prüfen müßte, die ich nun zahlen soll und von der ich momentan aber nicht weiß, wie. Wobei ich nicht wirklich bezweifle, daß die Forderung zu unrecht besteht, sondern ich müßte auf ein „Tricksen“ sinnen, wofür ich aber keine Zeit habe. Hm. Und dies alles vor der ersten Reise nach, sagen wir, Dschinnistan, wohin ich mich eben für das Neapel-Hörstück zurückziehen will, um das Typoskript möglichst binnen dieser einen Woche fertigzustellen. Eigentlich wollte ich für die Arbeit noch einmal nach Neapel fliegen, wo ich ja preiswert und familiär unterkommen kann, aber ich fand so kurzfristig keinen Flug mehr, den ich mir hätte leisten können. (Bekäme ich, wie beim WDR immer, auch vom DLF die ganze Produktion, dann wäre das Steuerproblem übrigens sofort vom Tisch; vielleicht ist es das, was mich nicht vollkommen unruhig macht, sondern es obwaltet in mir zugleich eine seltsame Ruhe; ich muß auf jeden Fall noch mit der Redakteurin darüber zumindest telefonieren.)
Also. Ich werde am Mittwoch fliegen; eine Woche später wieder, für eine nächste Woche, in Berlin, dann geht es nach Amelia und auf die Isola del Giglio, zusammen mit meinem Sohn und seinem derzeit besten Freund. Amelia bedeutet aber auch Arbeit, für mich, nicht für die Jungs, nur wollte ich da noch einmal ganz die jetzt fertigen Fahnen von Argo durchgehen und ebenfalls, zusammen mit >>>> HS, die für den Andruck zu perfektionierenden Fahnen des Giacomo Joyce. Da immerhin „darf“ ich wieder Wein trinken: Heute ist der 27. Tag meines Ramadans.
Latte macchiato, Morgenpfeife.
Und verschlafen. Tiefes Schlafbedürfnis, offenbar, des Körpers, der gestern tatsächlich auf 70,5 kg herunterwar – das sind, >>>> seit dem 23.5., als ich das Lauf- und Krafttraining wieder aufgenommen habe, 10 1/2 Kilogramm Körpergewicht weniger innerhalb von etwas mehr als einem Monat; rechnen Sie da das Gewicht durch Zunahme der Muskelmasse drauf, kommen Sie auf noch mehr verlorenes Fett. Dabei galt ich auch vorher als schlank; nur ich selbst war diesbezüglich skeptisch. Einerseits gibt mir nun der „Erfolg“ nicht wenig Kraft, andererseits merke ich, daß ich neuerdings zu mich immer wieder mal umflatternden Gedanken neige, die anorektischen Mustern folgen: „rein“ werden, alles „Überflüssige“ von mir tun, mich „klären“ usw. Und tatsächlich, wenn ich jetzt durch die Straßen gehe und sehe, was die Leute, die bei diesem herrlichen Wetter draußen vor den Restaurants sitzen, auf ihre Tellern gehäuft haben, denke ich immer wieder, und manchmal fast erschrocken, ja sogar leicht angeekelt: Was stopfen die für unfaßbare Mengen in sich hinein! Entsprechend mein eigenes Eßverhalten, das man momentan wirklich nicht hedonistisch nennen kann – von den Begeisterungs-, ja, tatsächlich, –anfällen abgesehen, mit denen ich direkt nach den Trainingseinheiten in die frische Scheibe gekühlter Ananas beiße: Ich sauge sie jedesmal, schlürfe, schlinge sie geradezu aus. Das ist jedesmal absolut rauschhaft. Ansonsten, außer Obst, mal einen Salat, viel Haferflocken und neulich ein paar magere Hähnchen-Straccetti, die ich aber gar nicht aufbekam. Vor noch zwei Monaten wäre es auch für mich ein Klacks gewesen.
Nun geht das Training aber zeitlich auf die Arbeitskontinuität; ich bringe sehr viel weniger zuwege als vorher, denn bin nach dem täglich bis zu zwei Stunden währenden Sport so ausgelaugt, daß ich wenigstens eine Stunde schlafen muß; das sind dann schon drei Stunden täglich, die von der Arbeit abgehen, und daß ich morgens länger schlafe, ich also nicht mehr wirklich zu meiner „klassischen“ Frühmorgenarbeit komme, rechnet sich da noch obendrauf. Deshalb werde ich nicht drumrumkommen, die Sportzeiten wieder zu beschränken; sagen wir, wenn ich die 70 kg Körpergewicht fest eingenordet habe, nur noch jeden zweiten Tag trainieren – dann nicht mehr, um Fett zu verlieren und Muskel aufzubauen, sondern um den erreichten Stand einfach zu halten. Ich habe ja nicht vor, mich auf Olympia vorzubereiten. Das muß ich mir jetzt wieder und wieder sagen.
Auch hier schlägt mein Suchtverhalten durch: daß ich nichts – gar nichts von dem, worauf es mir ankommt – „moderiert“ tun kann, sondern immer mit ganzem Einsatz, bis an meine physischen Grenzen, an etwas herangehe, das ich mir vorgenommen habe. Das ist nicht ohne Zwanghaftigkeit zugleich mit einer Art von moralischem Bewußtsein verbunden. Denn erreiche ich ein gestecktes Ziel n i c h t, bekomme ich ein schlechtes Gewissen und trage es auch latent mit mir dauerherum. Seit meinem Auszug aus dem Mutterhaus, mit sechszehn/siebzehn, vor allem aber mit Beginn des Abendgymnasiums, 1973, steht mein Leben unter dem Zeichen einer ausgesprochenen Arbeits-, d.h. Leistungssucht, von der sich durchaus sagen läßt, ich hätte die Werte meiner von mir doch fast lebenslang bekämpften Mutter vollkommen internalisiert und in mein eigenes Leben weitergetragen.
Dschinnistan: Ebenfalls erwische ich mich neuerdings bei der Idee, einmal in kirchliche Klausur zu fahren: für eine Schweigewoche, für eine Meditationswoche, für eine Fastenwoche (zu der mir übrigens das Schweigen ganz besonders passend vorkommt); irgendwie (:sorry für den unklaren Ausdruck) will ich eine Weiche umstellen, nachdem Argo jetzt fertig ist und damit der gesamte Deters-Zyklus, der 1981 mit >>>> „Die Verwirrung des Gemüts“ begann und über den >>>> „Wolpertinger“ in die mit dem nun neuen Roman abgeschlossene Anderwelt-Trilogie geführt hat. „Traumschiff“, das Sterbebuch, möchte ich aus einer ganz anderen Perspektive anfangen. (Auch dem entspricht mein wiederaufgenommenes Körpertraining, andererseits; Klärung eben: wo stehe ich ich, wohin will ich weiter?)

Also heute die beiden Kritiken zu vorgestern und gestern abend schreiben; allerdings um 11 Uhr Treffen mit meiner Impresaria >>>> Barbara Stang, dann laufen, schlafen, und um 17 Uhr kommt >>>> Moritz Gause hierher; das wird ein schönes Gespräch von jungem mit dem älteren Autor werden; vielleicht setzen wir uns irgendwo nach draußen hin. Und am Abend daheim bleiben; eigentlich nähme ich da die Neapel-Arbeit gern wieder auf.

Ein sehr langes, sehr persönliches Arbeitsjournal, Leserin. Sehen Sie mir die vielleicht allzu intimen Gedankengänge nach.
Ihr
ANH

P.S.: Mein Flieger nach Dschinnistan hebt am Mittwoch früh um 6.55 Uhr ab. Gegen 11 Uhr werde ich in Gemara landen. Es kann sein, daß ich dann eine Woche lang – siehe „Klausur“ – in Der Dschungel gar nichts schreibe – einfach, um mich rein auf das Neapel-Hörstück zu konzentrieren.

23.10 Uhr:
[Wieder am Schreibtisch.]
Ein Nachtrag noch zur Sommersonnenwende: Zwei bis drei Tage, erfuhr ich heute, brauche der kosmische Einfluß, um auf Erden wirksam zu werden, was bedeutet, daß die „spürbaren“ Auwirkungen, sagen wir: ahnbare, jetzt erst greifen. So daß es zum Beispiel die heutige Nacht ist – zumal eine, die glänzend ein goldener, nicht etwa silberner Vollmond beleuchtet -, in der sich die Geister mit uns vermischen. Und ihr Gelächter ist, über >>>> AscheMond, groß.

Nix gearbeitet heute, aber einem schönen Plaudern mit morgens >>>> Stang und ihrem klugen Partner geführt, direkt mit Blick auf die ziemlich faschistoide Architektur der Volksbühne, nachmittags mit Moritz Gause, und dann rief Broßmann an, ob ich nicht zum Essen kommen möge. Das durchbrach meine unterdessen Nahrungsgewohnheit gewaltig, und die Rippchen, auch wenn sie von schwarzen Schweinen Spaniens stammen, liegen mir doch ziemlich schwer im Magen. Witzig, wie unmittelbar mein Körper reagierte: Er schickte mich, kaum, daß ich hier wieder zurückwar, aber auch sofort aufs Klo.
Dafür waren die frischen Prinzessbohnen, gedünstet mit einer Handvoll Sesamsamen, superb; außerdem gab’s zweierlei Linsen, und unbestreitbar und -bestritten gehören Hülsenfrüchte zum gesündesten, das wir essen können. Getrunken: Wasser. Hernach allerdings einen Espresso, für den ich dem Zucker nicht widerstehen könnte, allerdings nur beim ersten Täßchen; beim zweiten blieb ich standhaft.

Jetzt kopiere ich, >>>> für Dschinnistan, meine gesamten Neapel-Aufzeichnungen aus Der Dschungel in eine einzige Datei, damit ich ab Mittwoch nicht immer im Netz suchen muß – schon deshalb, weil ich nicht weiß, wie es in Nähe Marah Durimehs mit einem Netzanschluß bestellt sein wird. Das stört mich nicht, weil ich ohnedies in der dann folgenden Woche hier schweigen, sondern allein an dem Neapel-Hörstück schreiben will.
Ich hoffe, daß es Ihnen allen gutgeht, sogar der >>>> Missy FF.

9 thoughts on “Die hiesigen Menschen essen zu viel. Ein privates Arbeitsjournal am Sonntag, dem 23. Juni 2013. Und ein nächtlicher Nachtrag zur Sommersonnenwende: Der Feen wirkliche Zeit.

  1. Lieber ANH, als Aufsichtsratsmitglied der von mir initiierten Dschinn-Stiftung bin ich an Ihrem Vorhaben äußerst interessiert. Bereits ab 2014 vergeben wir Reisestipendien für Künstler:innen, die sich in diese unwegsame Region auf den Weg machen. Falls Sie lebendig zurückkehren, stehen wir einem entsprechenden Antrag Ihrerseits für das kommende Jahr mehr als wohlwollend gegenüber.
    Bitte vergessen Sie aber die Nahrungsaufnahme nicht ganz. Allzu magere Männer werden nicht gefördert.

    Herzlich, Ihre
    Miss TT

    1. Liebe Frau Phyllis, seien Sie beruhigt: Nichts liegt mir ferner als Magerkeit.

      Was eine Förderung weiterer Exkursionen nach Sitara und dem Weg dahin anbelangt, so werde ich sehr gerne auf Ihr freundliches Angebot zurückkommen.

      Aber noch bin ich ja in Berlin.

    1. Liebe Missy FF, da Frauen, die “ooch” sagen oder gar schreiben, prinzipiell ohne Eros sind – ja, sie haben nicht einmal Sex, noch hatten sie ihn, als Ausstrahlung, je – interessiert mich Ihre Meinung exakt so intensiv wie der Inhalt eines Mülleimers in Kleinviechersdorf. Allerdings muß ich zugestehen, daß beide, Meinung und Inhalt, einander signifikant ähneln.
      Mit einem herzlichen Gruß
      Ihres ANH.

    2. Hier, liebe Missy FF, muss ich mal kurz einhaken: Jugend spielt sich vor allem im Kopf ab. Und ANH macht in seiner Offenheit, seiner Begeisterungsfähigkeit und seiner Lebenslust einen außerordentlich jugendlichen Eindruck auf mich. Männer oder Frauen jedoch, die wie Sie solche merkwürdigen Abwehrreflexe zeigen gegen Unübliches, wirken auf mich immer verknöchert. Alt.

      Vielleicht gehen Sie mal ein bißchen an die frischen Luft, spazieren, Sonne (aus Versehen schrieb ich eben “Sinne”) tanken. Mir hilft das meistens.

      Gute Besserung.
      mg

    3. @Missy FF & @Gause. Mißchen FF: Es ist einfach zu viel Aufwand, Sie zu löschen.

      Moritz Gause: Die Mißgunst hat ihre Möse verklebt. Kann aber sein, daß sie ein “Mann” ist. Dann stünd es um ihr Geschlecht noch viel schlimmer. (Manchmal macht es Freude, ein bißchen ordinär zu sein: wie’s aus dem Unterleib tölt, so schallt es in ihn zurück.)

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