Der Schnee liegt weiter. – Spätnachmittags Dreyers Spaltung und Gogolins Bosheit. Nach Sommers Eden.

Ich nenne dies nicht Arbeitsjournal, weil ich nicht weiß, was ich und ob ich arbeiten werde. Die Vorstellung, es einfach nicht zu tun, stellte mich gestern ein wenig ruhig, mäßigte, was wehtat; heute früh bin ich immerhin wieder um 5.30 Uhr hoch. Ich sollte mich in die noch offenen Verse von Argo versenken; das würde aber Dringendes, das ansteht, ignorieren. Vielleicht laufe ich nachher wieder, trotz der Kälte; wenigstens der Körper hat dann zu tun. Mit einem Mal hätte es Sinn, ein Journal mit „liebes Tagebuch“ anzusprechen, als einen Vertrauten (ein Vertrautes, denn es hat kein Geschlecht, auch wenn ich mir immer vorgestellt habe, darin mit einer Frau zu „sprechen“, „liebe Tagebüchin“ also), der (die) aber zugleich öffentlich ist. Eine „öffentliche Frau“ wäre eine Prostituierte, fällt mir dazu ein, was mir ziemlich zusagt, ja, mir ein Lächeln auf die Lippen legt, weil es eine solche wäre, die über Ästhetik bescheidweiß und sich für sie, ganz wie Anna im >>>> Wolpertinger, interessiert.
Ich muß den administrativen Kram beiseiteschaffen, der sich imaginär auf meinem Schreibtisch türmt, rechts im Ablagekorb, einem harten aus geflochtenem Bambus; obenauf, aufgeschlagen, habe ich Sommers >>>> Edens Garten gelegt, mit dem ich nur stückchenweise vorankomme; daß dem so ist, liegt am Thema: Eifersucht interessiert mich nicht, geht mir nicht nah. Geschrieben ist das Buch aber gut. Ich wollte es gestern zuendelesen, aber es zog mich nicht in sich hinein; nach dreivier Seiten ließ ich es wieder liegen. Ich fühle keinen „Auftrag“, es zu lesen – worüber ich wiederum froh bin, weil mein Urteil, in meinem jetzigen Zustand, nicht gerecht wäre. Die Protagonisten interessieren mich nicht, beide sind zu normal, zu durchschnittlich, um meine Anteilnahme zu erlangen, bzw. er ist zu normal; sie wird allein aus seiner Sicht geschildert. Das Leben „normaler“ Menschen hat sein völliges Recht, ist aber nicht literaturfähig, es sei denn, man erzählt davon, wie es Joyce tat, oder man breitet ein fantastisches Innenleben aus, eines der Selbstträume und wirklichen Verzweiflungen oder geheimer Lüste und Sehnsüchte, oder aber das Schicksal bricht über es herein, irgend ein Geschehen, das heftig genug ist, die Normalität zu gefährden oder gar zu zerstören; allein, daß da ein anderer Mann sein könnte, ein neuer Nebenbuhler, genügt nicht – mir nicht, anderen vielleicht: >>>> Helbig hat auf das Buch offenbar anders reagiert als ich. Es gibt auch die falschen Leser, womit ich sagen will, daß es auch Menschen gibt, die Bücher über Fußball spannend finden; das ist vollkommen okay, nur gehöre dazu nicht ich. Auch ich bin schon eifersüchtig gewesen in meinem Leben, sogar rasend; aber wenn ich darüber schrieb, bzw. schreiben wollte, kam mir das immer lächerlich vor, klein, bzw. fand ich Eifersucht d a n n angemessen, n u r dann, wenn ein anderer Mann das Weiterbestehen der Beziehung bedrohte; das ist in Edens Garten aber nicht der Fall; im Gegenteil, die Frau versichert dem Erähler mehrfach, daß sie sie nicht einmal infrage stelle. Wozu dann also Eifersucht? Es kann sein – auf Seite 157 ist das noch gar nicht sicher heraus -, daß ihre Wollust sich von jemandem anderen vögeln läßt, zugleich schläft sie aber doch mit ihrem Mann, entzieht ihm also gar nichts.
Hätte nicht Helbig geschrieben, das Buch habe ein überraschendes Ende, ich würde es wahrscheinlich wirklich beiseitelegen, nicht weil es schlecht geschrieben ist, das ist es wirklich nicht, sondern weil ich über das Gefühl, von dem erzählt wird, seit langem hinaus bin und über diese moderaten Formen von Mißtrauen sowieso, diese Nachschnüffeleien; da ist kein Rasen, nicht einmal ein solcher Wahn, daß er einen Mord wahrscheinlich machte. Dem Protagonisten fehlt das Zeug zum Otello; er ist vielmehr, und bleibt es, kleinlich. Jedenfalls bisher.
Hm.
Gut.
Ich les das Ding jetzt zuende, jetzt sofort. Anstatt mich weiterzubeschweren.
Zweiter Latte macchiato. 6.47 Uhr.

15.06 Uhr:

(…)
Wenn ich nur könnte, würde ich diesen Betrieb für immer verlassen, auch aufhören zu schreiben. Es hat keinen Sinn mehr, ich komme aus dieser Erkenntnis momentan nicht heraus, überlege auch, ob ich die Messe Leipzig cancle, alle Lesungen absage, mich insgesamt zurückziehe. Irgendwie ist alles sinnlos, das mit mir und der Literatur zu tun hat. Nach nunmehr achtunddreißig Jahren in diesem Betrieb ist mein Kampfgeist wie ausgehöhlt. Geblieben ist, auch und wegen solcher Leute wie XXX — Ekel.
Brief an meine Impresaria, heute, 14.45 Uhr.

17.57 Uhr:
Durch mit >>>> dem Buch. Gegen Ende, etwa mit dem Gespräch mit Lohmeier, gewinnt es, da hat Helbig recht, an Kraft, aber auch wieder um etwas, das ich für überraschend nicht halten kann. Na gut, seine Eifersucht hat die Partnerin nun wirklich vertrieben, so what? Und er ist beruhigt, weil er sich das nicht nur einbildet, die Trennung wird zur Gewißheit: die Abschiedsnachricht ist in ihrer, der Ehefrau, Handschrift geschrieben. Was davon geht mich etwas an? Nicht einmal die Sprache, die klar, ruhig geschrieben, wohlgesetzt ist. Dagegen dann Dreyer! Erst nahm ich s e i n e n Roman hervor, endlich, und der beginnt so:

Er flüsterte das Wort um es nicht zu vergessen.
Es ist schwierig ein Wort im Gedächtnis zu
behalten dessen Sinn man nicht kennt. So
trug er sein Wort vor sich her wie ein zer-
brechliches Gefäß. Er lief durch den Sommer
und achtete nicht auf den staubigen Schweiß
in den Augenwinkeln. Der Nebel der Nacht
wäscht ihn ab. Er lief unter dem Himmel
der nur Sonne war und achtete nicht der
schwarzen Flecke in seinem Blick.
Das steht, flatternden Satzes, im Prolog. Und dann der eigentliche Beginn. Sofort weiß ich, was da auf mich zukommt, welche Größe der Sprache:Landmann schrickt auf, stößt sich stählern am Ellbogen. Jäh herzsdchlagüberdröhnt erlischt das tosendviolette Traumlabyrinth: tosend – fahlstill – vorbei: wo bin ich: was ist geschehn. Glasgrau das Zimmer: ein Sarg, durchspießt von Hammerschlagspitzen: krachenden Schlägen des Weckers, häkelig in den Puls geschobenen.
Ernst-Jürgen Dreyer, >>>> Die Spaltung.
(Es gibt, neben der sehr schönen Stroemfeld-Ausgabe, auch
>>>> sehr preiswerte Exemplare im Taschenbuch.

Dennoch, die schweren 500 Seiten noch einmal beiseitegelegt und zu >>>> Gogolins Die Kinder der Bosheit gegriffen. Und sofort auch da wieder: Ausdruckskraft:Das Geräusch wiederholt sich, wiederholt sich, umkeist ihn, wird richtungslos, ununterscheidbar, hüllt ihn ein, sperrt ihn in einen Raum blinden Schalls und erzeugt, mit jedem neuen Schlag, in seinem Kopf eine Resonanz, einen schreienden Ton, der in gleichbleibendem Rhythmus an Höhe gewinnt, endlos ansteigend, bis er, auf dem Scheitelpunkt der Kurve, an der Schmerzgrenze, plötzlich unhörbar wird, als hätte ihm jemand ruckartig den Kopf unter Wasser gedrückt.
S. 11.
Und vier Seiten später:Im Treppenhaus lag die Stille wie uralter Staub.Ich werde jetzt erst einmal diesen Gogolin lesen, er liegt schon lange hier auf dem Stapel (noch länger allerdings stand der Dreyer im Regal, über den >>>> bereits mehrfach Parallalie geschrieben hat; nur habe ich weder auf ihn noch >>>> auf Montgelas früh genug gehört).

Mein Entschluß, nicht auf die Messe zu fahren, verfestigt sich. Morgen werde ich endgültig entscheiden. Aber was soll ich da? Aus einem Kinderbuch, das es nicht gibt und wahrscheinlich auch nicht mehr geben wird, vor Kindern lesen? Das Lügen mitmachen, Kindern vormachen? Aus >>>> einem in den Sand gesetzten Essayband vortragen auf der Messe, der ebenfalls ohne Nachhall blieb und obendrein bereits im Herbst erschien? Das sind alles unnötige Veranstaltungen, es ist reiner Betrieb, für niemanden außer einem onanierenden sich selbst Feiern gut: Tand. Die Idee, meine Anwesenheit sei wichtig, gar erwünscht, ist augenwischender Unfug: um sich selbst – um mir selbst, ich nämlich mir – etwas vorzumachen.

35 thoughts on “Der Schnee liegt weiter. – Spätnachmittags Dreyers Spaltung und Gogolins Bosheit. Nach Sommers Eden.

  1. Mir geht es ganz anders: Ich lese am liebsten von Menschen, die Sie “normal” finden. Wobei – bezogen auf die Literatur – sind ja die Wahnhaften die “Normalen” und also – aus meiner Sicht – die Langweiligeren. (Und deswegen, wenn schon denn schon, müssen die aus poetischer Gerechtigkeit sterben, statt immer wieder eine weibliche Leiche irgendwo zu drapieren.) Eifersucht interessiert mich ebenfalls nur mäßig. Und eben am wenigsten die Othello-Variante. Bei dem Stapel ungelesener Bücher, der hier rumliegt, ist das ein Kriterium, das zum Sofort-Ausschluss neuer Lektüren führt: Eine weibliche Leiche. Am besten schön drapiert (mit Tuch)! Und von einem Liebenden oder Ex-Liebenden reuig betrauert. OMG.

    Grade lese ich Barbara Pym. Es passiert gar nichts in diesen Romanen. Oder fast nichts. (Darin – aber beinahe nur darin – ähneln sie Jane Austen). Kein Wahn, keine Gewalt, keine Liebestragödien. Tea-Partys, Sticheleien, Wohltätigkeitsbasare, Büro-Alltage. Aber man tut sich weh. Oder gut. Und sie sind großartig (die Romane). “Barbara Pym is the rarerst of treasures; she reminds us of the heartbreaking silliness of everyday life.” hat Anne Tyler geschrieben.

    Das ganz “gewöhnliche” Leben. Man kann das wie Joyce beschreiben. Muss man aber nicht. (Ein “Muss” in diesem Zusammenhang finde ich ohnehin völlig unangebracht.) Man kann das nämlich auch wie Barbara Pym machen (durch scharfe, detailreiche Beobachtungen an Kleidung, Inneneinrichtung, Redeweisen, die ironisch dargestellt werden, aber niemals sarkastisch) oder wie Ivy Compton-Burnett (durch überbordende Dialoge, die kaum mehr durch erzählende Passagen aufgebrochen werden und die arg sarkastisch, geradezu vernichtend sind). Oder wie Alice Munro (mittels einer grandiosen Verdichtung der Sprache und des Geschehens auf wenige traumhaft klare Momente). Solche Literatur gibt es in deutscher Sprache nicht. Das ist auch traurig. Für manche. Wie mich. Dass es im Deutschen immer gleich um die ganz “großen” Themen gehen muss, die mich oft so arg langweilen.
    Aber ich gebe zu: Diese Autorinnen, die ich nenne, fänden in Ihnen wahrscheinlich keinen gewogenen Leser. (Entscheidend ist: Das sagt nichts über die Qualität der Literatur aus.)

    1. @Melusine zur Normalität. Selbstverständlich nicht. Übrigens gibt es auch bei Joyce keine Leiche. Ich verlange, ein weiteres Übrigens, auch keine Leichen, wirklich nicht. Sie sind aber Teil des Lebens, und zwar ein nicht geringer, nämlich dann, wenn man den westlichen Blick mal aus dem eigenen Zentrum herauslöst. Was mich insofern anödet, ist, von einer Normalität zu lesen, die für einen verschwindend geringen Bruchteil der Menschheit normal ist. Mich interessieren einfach Wohlstands-Probleme nicht, mich interessieren Leute nicht, die sich schon mit dreißig auf ihre Altersvorsorge stützen, ja für die das überhaupt schon ein Thema ist, während sie jung sind. Weshalb soll ich diese entsetzliche Banalität, die mich überall umgibt, in meiner Lektüre noch verdoppeln? Ich bin doch nicht mit siebzehn von zuhause abgehauen, um mir das Kleinbürgertum statt dessen in die Dichtung zu holen. Die Normalität muß gebrochen werden, etwa durch die Sprache – um an Aldous Huxleys großen Gesellschaftsroman Point Counter Point zu denken, auf deutsch: >>>> Kontrapunkt des Lebens.Ich schlage nur irgend eine Seite davon auf und bin gebannt:

      Das Hündchen gehorchte endlich. Die Katze hörte auf zu fauchen, das Fell auf ihrem Rücken glättete sich, und sie schritt majestätisch davon. Mrs. Bidlake setzte ihr Jähten und ihr verschwommenes, unendliches Nachdenken zwischen den Blumenrabatten fort. Gott, Penturicchio, Löwenzahn, Ewigkeit, der Himmel, die Wolken, die frühen Venezianer, Löwenzahn…

      Um von den großen Stellen nicht zu schweigen, etwa dieser kleinen großen Stelle:

      Alles ist unglaublich, wenn man die Kruste von Alltäglichkeit abzuschälen vermag, mit der unsere Gewohnheiten es umkleiden.

      Genau das meine ich, daß dieses die Aufgabe eines Dichters ist, seine, wenn Sie so wollen, Vision. Mit den von Ihnen recht süffisant, also rhetorisch zitierten “weiblichen Leichen”, die zurückblieben, hat das wenig zu tun. Obwohl – auch >>>> in der Vergana bleibt eine Leiche, und ich weiß von Ihnen selbst, sie hat sie nicht “gestört”. Wenn ich die Wirklichkeit, als Dichter, nicht verwandle, in Huxleys oder auch eines oder einer anderen Sinn, dann habe ich kein gutes Buch geschrieben, sondern dem, was sowieso schon ist, nur noch etwas, das sowieso schon ist, hinzugetan. In der Ästhetik nennt man das eine schlechte Verdopplung.

      Nein, mein Urteil, wenn Sie meine Stellungnahme denn so verstehen wollen, sagt über die Qualität von Literatur nichts aus, oder nur wenig; das habe ich in meinem Beitrag aber selbst so geschrieben.

      (Beide Huxley-Zitate stehen hier in der Übersetzung Herberth E. Herlitschkas.)

    2. Die Vergana ist ein guter Text, dennoch – gegenwärtig lese ich keinen mehr, auf dessen Klappentext mir die weibliche Leiche schon angekündigt wird. Man muss ja irgendwie auswählen, weil es einfach zu viele und sogar viel zu viele gute Texte gibt.

      Wir können uns weiter die Namen um die Ohren schlagen, jener Autorinnen und Autoren, deren Texte wir schätzen. (Sie kennen keine einzige von denen, die ich genannt habe, stimmt´s?)

      Ich weiß, dass Sie den “Realismus” bekämpfen. Was immer Sie damit meinen. Sicher nicht Fontane, nehme ich an. Oder Jane Austen. Oder doch? Oder Virginia Woolf? Oder Ford Maddox Ford? (Sehen Sie, ich betreibe schon wieder name dropping. Das mache ich nur, wenn ich schlechte Laune habe. Sorry.) Am “realistischsten” – in durchaus negativem Sinne – wäre doch Literatur, die davon handelt (und von sonst nichts), wie Literatur gemacht wird. Finde ich.

    3. Natürlich gibt es im “Ulysses” von James Joyce Leichen, nur eben nicht an dem Tag des Geschehens, nämlich Leopold Blooms Vater Rudolf, der sich umbrachte, und Leopolds Sohn Rudolf (Rudy), der nach 11 Tagen starb. Beide Tode spielen natürlich eine große Rolle im Leben Blooms.

  2. Realismus ist … … immer noch der beste Weg, wenn man zeigen will, wie brüchig die Realität ist!

    Ansonsten gebe ich Melusine absolut Recht, auch was die von ihr benannten Autoren betrifft, ob nun die Pym, die Compton-Burnett oder die grandiose Alice Munro. Ich würde aus der kleinen Kiste meiner Lieblinge noch Henry Green und Walker Percy dazunehmen. Um große Erzähler geht es. Und die können erzählen, was sie wollen!

    1. @Melusine und PHG, Realismus ff. Ich “bekämpfe” den Realismus nicht, nicht mehr. Realität interessiert mich nicht. Ich halte sie nämlich nicht für brüchig, sondern für durchgehend das, was der Fall ist, keine darunter, kein darüber hinaus. Realität ist strikt deterministisch organisiert, wenn A dann B und nicht nicht-A. Kalkül des logischen Schließens, chemische Prozesse, elektrische Prozesse, magnetische Prozesse, Punkt.
      Alles andere geht über den Realismus hinaus und wird von uns geschaffen. Das interessiert mich: das Fiktive, das in die Realität eingreift und sie verändert. Wie der Glaube, für den es völlig egal ist, ob es das, woran man glaubt, auch gibt. Orientiere ich mich an dem, was es gibt, komme ich keinen Schritt aus dem Gefängnis heraus; im Gegenteil, ich muß es fast ignorieren (ganz kann ich es nicht, um mir nicht die Lebensgrundlagen wegzuschneiden; man darf die Macht der Realität auch nicht unterschätzen: eine Steuererklärung ist eine Steuererklärung; nur hat sie in meiner Kunst nichts zu suchen, weil sie ihr sonst das Blut aussaugt, von innen).

    2. Wir leben ja gar nicht … … zuerst in dieser naturhaft zu verstehenden Realität, in der das Prinzip von Ursache und Wirkung alles festlegt und unfrei macht.

      Wir leben in einer von Menschen gemachten Realität, die täglich, stündlich, durch jeden von uns, gebaut und umgebaut wird. Diese Realität ist in der Tat brüchig, um nur das Wenigste darüber zu sagen. Diese Realität ist das Imaginäre. Wir sprechen also beide von der selben Sache. Wir haben nicht Newton zum Ahnherren.

    3. @PHG Walker Percy – long time not seen! (Ich bin schon auf dem Weg zum Regal. Als ich 20 war, habe ich alles, was von ihm zu kriegen war, “verschlungen”. Irgendwie macht es doch Spaß, das name dropping!)

    4. @ANH Ein Roman über Steuererklärungen müsste nicht öde sein. Ich stelle mir eine Finanzbeamtin vor, vor sich den Stapel mit Steuererklärungen aus einem bestimmten Jahr, lassen wir es Personen von Ha- bis He, sein. Und dann kommt das alles in Spiel: Ihre Ablenkungsmanöver, was ihr so durch den Kopf geht. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder, aber gedanklich dauernd mit dem Kerl beschäftigt, der nachmittags im Coffee Shop gegenüber die Maschine bedient; sie registriert jede Veränderung in der Art, wie er sie bedient, wenn sie sich um 14.30 Uhr ihren Kaffee holt, wie er lächelt und sie spekuliert den ganzen Tag über die feinen Unterschiede dieser kurzen Begegnungen, die ihren Tag zu einem gelungenen oder misslungenen machen können. Von ihren Launen und kleinen Missgeschicken und Bemerkungen der Kollegen, vom Funktionieren des Lifts und sonderbaren Telefonanrufen hängt dann ab, wie sie mit den Erklärungen, die vor ihr auf dem Tisch während einer Woche “abgearbeitet” werden, umgeht. Ob sie nachforscht oder abhakt. Ihr unvorhersehbares Verhalten löst Katastrophen aus….

      (Was ich meine: Jeder “Stoff” kann Literatur werden. Nichts ist nicht “literaturfähig”.)

    5. Wer andere Menschen zu Tode langweilt, kommt nicht in den Himmel, das ist wohl schon mal klar! Natürlich kann man alles zu einer literarischen Erzählung verdichten und verlebendigen, Betonung auf “kann”, so daß hier wohl alle recht haben. Wie langweilig!

    6. @Schlinkert. Es haben nicht alle recht. Daß man “alles” zu einer literarischen Erzählung verdichten könne, mag sein; man kann es aber nicht im Rahmen des Realismus. Oder der Begriff wird so weit gespannt, daß er keine Aussage mehr hat, weil er keine Position mehr beschreibt – oder eben jede.
      Nein, hier haben de facto n i c h t alle recht.

    7. @ANH Auf jeder anderen Website hätte ich einen Smiley hinter meinen Text geworfen – natürlich haben nicht alle recht, das wäre wirklich langweilig. Ansonsten sehe ich das wie Sie, es ist das eben nicht real Deutbare, das Unfaßbare, das aus der Welt einen interessanten Ort macht und der Literatur ihre Eigenheit gibt und ihren Wert über die Unterhaltung hinaus ausmacht. Eben deswegen interessiere ich mich auch mehr für die Forschung eines Max Dessoir vor hundert Jahren als etwa für die Gehirnforschung heutzutage, in der alles auf Mechanik runtergebrochen wird. (“Das Blut vieler Jahrtausende rinnt in unseren Adern. Sein Pulsschlag ist nicht immer regelmäßig, sondern wird manchmal arhythmisch, wie er einst gewesen war. Gerade wenn wir am weitesten in die Zukunft zu schauen meinen, sind wir am engsten mit der Vergangenheit verbunden. Das ist der unbestimmt gefühlte Zauber dieser Sphäre, daß sie die Gegensätze wirklich eint. Der Ekstatiker erlebt im Bilde kommender Vollendung die Wünsche des Primitiven, wie er die höchsten Strebungen in schmerzhaft schöner Verschmelzung mit fleischlichen Instinkten erlebt. Zwar scheint dies – in logischer Erstarrung – ein unerträglicher Widerspruch. Aber der wirkliche Mensch lebt da am intensivsten, wo er sich am stärksten widerspricht.”
      Max Dessoir: Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung. Dritte Auflage 1919, zuerst 1917. S.12.)

    8. “… die Gehirnforschung heutzutage, in der alles auf Mechanik runtergebrochen wird”. Das halte ich für eine fragwürdige Behauptung – das Wort “Mechanik” sowieso, das auf Ding- nicht aber subatomare Verhältnisse, und auch da immer nur bedingt, Anwendung finden kann. Hirnforschung ist freilich, jedenfalls meinem Wissensstand zufolge, in erster Linie empirisch, nämlich als Naturwissenschaft. Die Ergebnisse interessieren mich brennend, eben weil sie Aussagen über Kommendes mit zumindest Wahrscheinlichkeiten zulassen. Außerdem steht Gegnerschaft zur Naturwissenschaft in einer höchst üblen christlichen Tradition. Ohne empirische Erkenntnis säßen wir alle noch heute nicht zwar auf den Bäumen, wie Kästner meinte, der uns falsch mißverstanden vom Affen abstammen ließ, aber spähten noch immer über die Savanne, wüßten uns der Freßfeinde nicht zu erwehren und hätten es nicht einmal zu den Zeichnungen von El Castillo gebracht.

    9. Nur daß die Gehirnforschung behauptet, sie erforsche das Ich, indem sie das Gehirn erforscht, d a s stört mich ungemein, weil es eine naturwissenschaftliche Anmaßung ist und jenseits ihres Auftrages. Eine Verknüpfung der Erkenntnisse der Kunst und der Philosophie und der Gehirnforschung wäre wünschbar, scheint mir aber im Moment aufgrund der Trennung besagter Bereiche kaum möglich. Leider. Insofern bin ich keineswegs gegen die Naturwissenschaften eingestellt, lasse mir von ihnen aber nicht über das Maß hinaus meine Welt erklären, in der es eben wesentlich mehr gibt als das “Erklärbare”.

    10. Das Ding ist, das stimmt nicht, zumal unser aller Leben nicht geregelt, nicht hervorsehbar ist, schauen Sie sich den Herrn Herbst an, vorgestern noch am Boden und alle machten sich Sorgen, jetzt ist er wieder da und das ist gut so, wie wollen sie dass denn real beschreiben?

    11. “jenseits ihres Auftrags”@Schlinkert. Wer hat denn den Auftrag erteilt? Von einem solchen doch schon deshalb gar nicht gesprochen werden, nicht für die Naturwissenschaft, allenfalls für die Naturwissenschaft in Hinsicht auf etwas, zum Beispiel: wie müssen bestimmte Materialien beschaffen sein, um bestimmte Funktionen zu erfüllen usw. Da hinter sind oft industrielle Interessen – aber hinter der Erforschung des Ichs? Da das Ich in der Natur ist – wo denn sonst? -, ist selbstverständlich auch dieses ein Gegenstand der naturwissenschaftlichen Erforschung. Die Frage ist immer nur – aber das ist bei der Oberflächenuntersuchung eines Materials ganz das gleiche -, ob eine naturwissenschaftliche Aussage sich empirisch beweisen läßt oder mit welcher Wahrscheinlichkeit usw. Derselben Bedingung haben sich die anderen Wissenschaften zu stellen.
      Daß es mehr gebe als das Erklärbare, ist eine Behauptung, allenfalls ein Glaube, ein Überzeugtsein, für das es aber wiederum, und sehr wahrscheinlich, erklärbare Gründe gibt – etwa diejenigen, die zur Zeit noch keine Erklärungen haben, so, wie man den Donner durch Donar erklärte usw. Die Dinge und Wesenheiten sind entweder notwendig entstanden oder zufällig oder durch eine Kombination aus Zufall und Notwendigkeit. Welches ominöse Andere soll denn sonst noch wirken? Gott? Falls der, wenn man ihn hypothetisch mal zuläßt, dann gehört er in die Kategorie der Notwendigkeit, einer nämlich, aufgrund deren wir handeln. Die Frage ist nur, ob nicht Zufall selbst eine Kategorie ist wie Donar. Mir scheint das sehr wahrscheinlich zu sein – gemessen an der Erfolgsgeschichte der zunehmend praktisch gewordenen Naturwissenschaften. Ihnen gegenüber ist mein Verhältnis das eines sehr bescheidenen Menschen, obwohl Bescheidenheit nun wirklich nicht zu meinen Stärken gehört. Die Hofart mancher Geisteswissenschaftler gegenüber der Naturwissenschaft finde ich unterdessen geradezu bizarr.

    12. Der Auftrag @ANH der Wissenschaften ist die Forschung hinein in unbekanntes Gebiet, so gesehen brauchen sie Zeit, Geld und Material, dies zu leisten. Ich bin den Naturwissenschaften auf eine ähnliche Art zugetan wie Sie, denn ich benutze deren Produkte und freue mich über eine schmerzfreie Zahnbehandlung, obwohl ich, vereinfacht gesagt, keinen Zugang habe zu der dazu notwendigen Forschung. Ebenso kann ein Naturwissenschaftler sich an einem Roman berauschen, einem Gemälde oder an philosophischen Gedanken, ohne (wiederum vereinfacht gesagt) die Hintergründe begreifen zu können. (Es gibt natürlich auch Mischbegabungen, keine Frage.) Was mir aufstößt, und das ist kein anderes Thema, ist die kalte, ergebnisorientierte Wissenschaftspolitik, die die Geisteswissenschaften ins Abseits drängt (durch die Einführung des Bachelors mit dem denkfeindlichen Punktesystem und die Beschneidung und Abschaffung von geisteswissenschaftlichen Studiengängen), während die auf Produktion ausgerichtete Naturwissenschaft zu einem guten Teil üppig unterstützt wird, was dazu führt, daß die empirische Wissenschaft mit all ihren Zahlen und Statistiken und Produkten die Deutungshoheit hat, vor allem auch, wenn es um Macht und Geld geht. So dient die Erforschung des menschlichen Gehirns und der menschlichen Psyche (unausgesprochen) auch dazu, den Menschen effektiv und produktiv zu machen, zum Beispiel dem Soldaten die Tötungshemmung zu nehmen, denn wenn der Soldat (praktisch von zuhause aus) am Joystick(!) arbeitet und Drohnen die Arbeit machen läßt und auch sonst alles nur noch aus biochemischen Vorgänge besteht, läßt sich so ein Mensch leicht “richtig” einstellen, vor allem wenn er daran glaubt (Glaube ist immer dabei!), daß die uns von den Naturwissenschaften geschenkte Welt die richtige ist. Es geht also durchaus auch um politische Belange, über die ständig und dringend nachgedacht werden muß, und zwar auf Grundlage des Überlieferten und des Selbsterlebten, und eben dazu müssen die Geisteswissenschaften und die Kunst ihren Platz behaupten und auf ihre Art auftragsgemäß ihre Beiträge liefern, damit ein Regulativ in der Welt ist – im besten Falle, denn natürlich ist alles manipulierbar, wie wir aus der Geschichte nur allzu gut wissen. Letztlich geht es immer um Bildung hin zu einem humanistischen Weltbild, und eben dafür braucht es quasi gleichgewichtige und gut ausgestattete Forschung, selbst wenn sie manchmal durchaus vorhersehbar nicht wirklich weiterführt, sondern “nur” Fehler oder Fehleinschätzungen beweisen kann.

    13. @Schlinkert: Natur- ./. Geisteswissenschaft. Die Geisteswissenschaften – Theologie zählt ja dazu – hat über mehr Jahrhunderte Menschen versklavt, gefoltert, erniedrigt als die Naturwissenschaft, deren Vertreter nicht selten eben zu diesen Gefolterten gehörten. Ich gebe aber zu, daß die Naturwissenschaft durch Erfindungen wie die Atombombe gewaltig aufgeholt hat, um das zynisch zu formulieren. Nehmen tun sie sich beide nichts.
      Was de facto nicht stimmt, ist, daß die Naturwissenschaften die Deutungshoheit aufgrund einer ergebnisorientierten Wissenschaftspolitik erlangt hätten; tatsächlich haben sie sie erlangt, weil ihre Ergebnisse brauchbar und weiterführend waren; nichts hat die vergangenen anderthalb Jahrhunderte derart geprägt wie die Physik. Wobei auch hier modifiziert werden muß, insofern eine – wenn nicht die – Grundlage der Naturwissenschaften die Mathematik ist, eine reine Geistesdisziplin. Es gibt ja keine Zahlen in der Natur, sondern es gibt ihre Vorstellung. Dennoch sind die sich aus ihr ergebenden Verhältnisse conditio sine qua non jedes naturwissenschaftlichen Denkens.
      Ihre, Schlinkerts, Klage über Ergebnisorientiertheit der Ausbildung teile ich; sie hängt aber, diese Orientierung, an der kapitalistischen Ausrichtung von Welt, nicht an den Naturwissenschaften, kurz: sie hängt an den Werten, und die sind abermals keine Gegenstände der Natur-, sondern der Geisteswissenschaften. Auch Werte kommen in der Natur nicht vor. Ich kann Ihnen Ihre Argumentation also herumdrehen und die gut verifizierbare These aufstellen, daß an dem von Ihnen als ein solches diagnostizierten Unheil nicht die Naturwissenschaften schuld haben, sondern ganz im Gegenteil die Geisteswissenschaften selbst, eine bestimmte Ausrichtung der Geisteswissenschaft, die sich ihrerseits die Naturwissenschaften nutzbar gemacht hat. Das Unheil kam nicht mit der Entwicklung von Zyklon B, sondern aus der Ideologie, die es “anwenden” ließ.

    14. @ANH: Ich spreche ja von den heutigen Zuständen, die, da haben Sie selbstredend recht, sich unterscheiden von denjenigen, die zuvor herrschten, als nämlich die Glaubens-Denker die Naturwissenschaften bekämpften – sehen wir also zu, daß sich das Verhältnis nicht umdreht, sondern ein Miteinander entsteht. Ich will ja diese Trennung keinesfalls akzeptieren, vor allem dann nicht, wenn das dazu führt, die kapitalistische Ausrichtung der Welt samt Wachstumswahn weiter zu befördern, statt zu einem fairen Miteinanderhandeln zu kommen, das in seinem Ergebnis die Möglichkeit bietet, Kunst und Kultur zu fördern und zu leben und nicht Gefahr läuft, die Versklavung und Tötung von Menschen aufgrund eines Glaubens oder einer politischen Ideologie und mithilfe der Möglichkeiten einer hochspezialisierten Industrie (wieder) möglich zu machen. Imgrunde geht es immer um Verantwortung gegenüber der “Schöpfung”, um das mal unzeitgemäß auszudrücken.

    15. Nur mal so am Rande und darüber hinaus… Hm. Depressionen? Für einen alltagstauglichen Schriftsteller ein klarer Fall: Sie sollten etwas tun, etwas für Sie völlig unübliches: schreiben Sie ein Drehbuch zu einem Tatort-Krimi! Den Inhalt schenke ich Ihnen, ist schnell erzählt: Kriminalkommisar Deters und sein Adlatus Herbst ermitteln in kuriosen Fällen, so irgendwie, äh, wie Akte X – oder so. Was niemand im Präsidium weiß, es gibt nur den Deters und der Herbst ist eine Erfindung seines Geistes, hervorgerufen durch eine akute polymorphe psychotische Störung. Ach ja, das Präsidium gibt es auch nicht, ist ebenfalls nur eine Einbildung – unser Mann sitzt in einem weißen Raum…
      Das ist sehr wohl ARD-tauglich und wird sich in Serie, frisch geschnitten vom Laib, bestens verkaufen! Und mit Nachdruck: keinen Til Schwaiger in der Hauptrolle – eher Tilo Prückner…

    16. Brecht und Th. Mann haben ja während der Zeit ihrer Emigration in den Vereinigten Staaten von Nordamerika gemeinsam eine Erzählung für den Reader’s Digest verfasst – in cognito selbstverständlich, um zu sehen, wie und ob es an kommt.
      Es -ich meine die Erzählung- kam nicht an.

    17. @tom: U-Romane. So etwas kann auch gar nicht ankommen. Das Geheimnis solcher Literatur besteht darin, davon bin ich überzeugt, daß ihre Autor:inn:en wirklich an sie glauben. So etwas spüren Leser. Sie spüren eine Authentizität, deren Ontologie sie teilen.
      Das gilt für den wirklich erfolgreichen Kitschroman, etwa für die Bücher Rosamund Pilchers. Sie meint es wirklich ernst und gut.
      Etwas anderes ist Massenware, die sich nach Art von Groschenheften konsumiert. Das kann tatsächlich jeder schreiben, wird aber nie wirklich erfolgreich werden; mag aber sein, daß es die Miete zahlt.

    18. @ANH; NW Schlinkert wir könnten hier sicherlich beliebig viele beispiele für naturwissenschaftliche errungenschaften aufzählen, die das leben entweder leichter machten, oder solche, die es zur hölle machten. ebenso könnten wir listenweise kunstwerke, auch literarische, walker percy’s etwa, aufführen und andererseits schmählich misslungenes. doch das führt zu nichts.
      ich habe auch keine lust mich auf das argument einer schmerzfreien und aller wahrscheinlichkeit nach nicht zum tode führenden zahnbehandlung einzulassen, die sich wohl niemand davonwünschen würde. wohl aber – das ist die verdunkelte kehrseite dieses arguments – würde die mehrheit der weltbevölkerung es kommentarlos hinnehmen, wenn das, sagen wir einmal: mabinogion für immer aus der welt verschwände. somit ist Ihr, anh, argument letztlich ein quantifizierendes. und das bringt mich zu meinem eigentlichen punkt:

      die naturwissenschaften verfügen im wissenschafts-‘betrieb’ unterdessen über eine deutungshoheit, die eben nicht nur von ihren ergebnissen her den status der leitwissenschaft(en) zementiert, sondern auch von der art und weise her, wie ergebnisse erzielt werden. deshalb bin ich hier systematisch eher auf seiten schlinkerts. die art und weise der naturwissenschaften (übrigens auch mancher sozial-, heute gern empirischen kulturwissenschaften), ergebnisse zu erzielen, ist dominant (nicht, bitte, ausschließlich) die quantifizierung. und eben diese wurde, schleichend oder ganz offen, in den letzten zehn jahren auf bereiche übertragen, in denen sie nichts zu suchen hat. forschungsförderung etwa, personalpolitik, schulreform, ausbildung von lehrern und wissenschaftlern (wo es doch idealerweise beides in einer person geben sollte und schon gab); gar das selbstverständnis ganzer universitäten hängt an dieser methode (ich bin nicht ironisch, man kann dies vom internationale ranking bis zum anzukreuzenden evaluations-fragebogen bei stellenbewerbungen getreu ablesen). ohne frage, anh, kooperieren hier naturwissenschaften und kapitalistische ökonomie (in der, übrigens, der begriff wert seinen ursprung hat), doch ihr geschliffenstes instrument hat ihr damit schlicht die neue leitwissenschaft in die hand gedrückt. – dafür, wiederum, kann man sie nicht verantwortlich machen, doch die genealogien sind zu benennen. verantwortlich, so fürchte ich zumindest, dürfte meist die inhärente bequemlichkeit der menschen sein, die glauben, mit zwei blicken auf eine bunt gezeichnete graphik könne man sachverhalte erfassen, deren kompliziertheit (eingefaltetheit) kluge reflexion oder gar diskussion erforderlich machte.

      um doch einmal ad hominem zu gehen: Sie, anh, waren klug und spürsinnig genug, Ihren sohn auf eine walldorfschule wechseln zu lassen. sonst könnten Sie an staatlichen gymnasien – übrigens auch in ländern, die jahrzehntelang und nicht ohne chauvinismus auf deren seite, als “bildungsbastionen” galten – die folgen dieser methodischen deutungshoheit hautnah miterleben. lesen Sie weiter den scientific american, unbenommen; aber nicht jeder, der unheilige allianzen benennt, lässt sich als christlicher fundamentalist oder fortschrittsfeindlicher spinner qualifizieren. – umgekehrt, jedoch, spielt Ihr “umdrehen des spießes” (11.3., 18:49) jenen funktionären in die hände, welche die neuschaffung der geistes-, heute gern kulturwissenschaften, nach naturwissenschaftlichem paradigma fordern (dies, natürlich, nicht laut, sondern handelnd), faktisch also ihre abschaffung. dann hätte man ja endlich, endlich das missbrauchsproblem gelöst…

      @ NW Schlinkert:

      Eine Verknüpfung der Erkenntnisse der Kunst und der Philosophie und der Gehirnforschung wäre wünschbar

      die klugen verknüpfen schon länger. vielleicht HIER ein lesetipp?

    19. Gedankenübertragung? @anh: den von Ihnen verlinkten Threat las ich zuvor nicht. Ich reagierte nur auf den Eintrag des Arbeitsjournals. Gelegentliche Vorbeischauer Ihres Blogs können ob der Textfülle nicht immer auf dem Laufenden sein. Mein Text war übrigens mitnichten böse gemeint. Das Sie diese Probleme mit dem Verlag (BL) haben, irritiert mich. Aus persönlicher Bekanntschaft heraus habe ich den Verleger CL und seine Mann/Frauschaft nur in bester Erinnerung – nun, liegt auch einige Jährchen zurück, vielleicht hat die Verlagsphilosophie (Familienbetrieb) unter dem Umzug nach Köln gelitten?
      Apropos Inhalte und Stil: bleiben Sie den Ihren treu – Wolpertinger und Thetis sind schon einzigartig. Jeder Leser sollte seine Autorin/seinen Autor finden dürfen.

    20. @Aikmaier Ich habe Detlef B. Linke vor einigen Jahren gelesen – warum es mich nicht recht überzeugte, kann ich heute aber leider nicht mehr sagen. Ich meinte aber auch eher eine Verknüpfung in der Praxis eines echten Studienganges, eines Studium Generale im besten Sinne – vielleicht ergibt sich ja hieraus etwas: http://www.udk-berlin.de/sites/content/e177/e94/e173156/e186116/infoboxContent188574/sg_vrlvz_kommentiert_ger.pdf

    21. @Jack. Vielleicht besteht eines der Probleme darin, daß ich mit dem BL-Verleger nie etwas zu tun hatte, sondern immer nur mit dem “aufgekauften” Imprint-Verleger, der, so mein Eindruck, selbst um sein Überleben ringt. Hätte er mit mir darüber gesprochen, ich wäre längst nicht so verstimmt; aber er steckt vor seinen Autoren den Kopf in den Sand und tut so, als gäbe es ihn nicht. Jemand anderes gab sich aber nicht als zuständig zu erkennen. Meinerseits konnte ich, ohne unloyal zu werden, aber jemanden anderes auch nicht kontaktieren. Wobei ich einer Sekretärin sehr dankbar bin, die ihrerseits tat, was sie nur irgend konnte. Aber sie ist, selbstverständlich, nicht entscheidungsbefugt. Dennoch fühle ich mich ihr verpflichtet: da war wenigstens ein menschliches Wort.

    22. Alles verdichten? Nein, das kann man nicht. Und selbst dann, wenn man es könnte, dann wäre es nicht sinnvoll. AS hatte schon Recht, als er in seinen Berechnungen schrieb, dass von den tausenden von Snapshots, die zusammen genommen das Kontinuum eines Tages ausmachen, nur wenige ‘belangreich’ sind, wenn man meint, etwas zu Literatur machen zu müssen.

      Und hier treffen wir auch wieder auf ANHs Aussage, gegen die Melusine argumentierte. ANH und AS sitzen da nämlich im selben Boot. Und das fährt schon seit dem 14. Jahrhundert, als Boccaccio das Decamerone schrieb. Die Italienische Renaissance ist die Geburtsstunde der ‘Novella’, von der alle unsere seither benutzten literarischen Prosaformen abstammen. Novella heißt NEU und meint, dass hier von Ereignissen erzählt wird, die überraschend sind, die anders sind, die ungewöhnlich sind, unvorhergesehen, eben in jeder möglichen Hinsicht NEU. Alles andere war nicht erzählenswert. Und man wäre damals sehr erstaunt gewesen zu vernehmen, dass jemand der Ansicht ist, ALLES sein letztlich literaturfähig.
      Letztlich ist das eine Ansicht, die erst in der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts aufkam. Da findet erstmals der Alltag Eingang in das Erzählen. Und das war damals noch so neu, dass die Leute sich darüber aufgeregt haben, dass Joyce Leopold Bloom beim Scheißen auf dem Lokus schildert.
      Aber dadurch, dass der Alltag literaturfähig wurde, ist das Gesetz der Novella nicht ungültig geworden. ANH hat deshalb Recht, wenn er sich von dem, was er Realismus nennt, abwendet. Boccaccio hätte ihm völlig zugestimmt

    23. @ ANH – Da das Ich in der Natur ist – wo denn sonst? Ich glaube, Sie verwechseln hier etwas, wie Schlinkert übrigens auch. Das ICH ist nicht in der Natur. Keineswegs. Das ICH ist in der Grammatik!

      Sie meinen beide auch gar nicht das ICH sondern das ‘Bewusstsein’. Das ist freilich in der Natur, und es ist eine vollkommen legitime Frage, wenn die Gehirnforschung nach der Entstehung des Bewusstseins und den Bedingungen seiner Möglichkeit fragt. Eine der spannendsten Fragen überhaupt übrigens! Weil es ein so großes, faszinierendes Rätsel ist. Ich habe es in einer Erzählung mal den “Schatten Gottes” genannt. Aber das gehört nicht hierher.

    24. @PHG In der Tat meinte ich das Bewußtsein seiner selbst, kurz das ICH. Die Erforschung desselben ist tatsächlich sehr, sehr spannend, für mich allerdings eher als soziokulturelles Moment denn als biochemisches, obwohl natürlich die Erkenntnisse im Sinne eines gedeihlichen Miteinanders ineinandergreifen sollten, wie ich oben bereits betonte. Ich schrieb einmal einleitend dies hier:
      >>Das Sich-selbst-Erkennen im Spiegel ist ohne Zweifel ein Beleg für das Bewußtsein seiner selbst. Einigen höheren Tieren wird ein solches Bewußtsein zuerkannt, dem Menschen ist es essentiell. Das „andere Ich” im Spiegel zudem als ein (potentielles) „Du” erkennen zu können ist darüber hinaus Grundlage der Fähigkeit zur Empathie, mithin Grundlage des Zoon politikon, des sich in Gesellschaft handelnd entfaltenden Menschen, überhaupt. Der antike Narziß in Ovids ‘Metamorphosen’ geht zugrunde, als er sich in sein eigenes Ebenbild verliebt, dann aber erkennen muß, daß ihm der Gegenstand seiner Liebe unerreichbar bleiben wird. Die Sehnsucht findet kein Gegenüber, es kommt nicht zu einer Vereinigung, selbst nicht im Tod. Jacques Lacan wendet sich in seinen Schriften, vor allem auch in ‘Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion’ (Konzept 1936; 1949), gegen die Vorstellung eines eindeutigen Ich als Kern des Subjekts. Die Ich-Bildung findet nach Lacan noch vor dem Erlernen der Sprache statt im Wechselspiel von Selbsterfahrung und visueller Wahrnehmung, und erst mit dem Eintritt in die Sprache nimmt das so geformte Ich einen im Zeichensystem vorgeformten Kontakt mit dem Anderen auf. Auch Martin Buber beschreibt in ‘Ich und Du’ (1923) das Ich des Menschen als grundsätzlich „zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung”. Buber sieht in den Grundworten der Sprache, den Wortpaaren Ich-Du und Ich-Es, die wesentliche Grundbestimmung des Menschen als denkendes und handelndes Individuum. Ihm ist „Ich sein und Ich sprechen” eins, aber auch das „Du” ist ihm kein Außen im Sinne des „Es”, denn das Es grenzt an andere Es, während das Du nicht grenzt, dennoch aber die „Welt der Beziehung” stiftet. Hans-Georg Gadamer betont, daß das Verstehen des Anderen, respektive des Du, „eine Weise der Ichbezogenheit ist“, und da dies „ein wechselseitiges Verhältnis ist, macht es die Wirklichkeit des Ich-Du-Verhältnisses selbst mit aus“.<< Wie gesagt, dies nur einleitend und quasi als Hinleitung auf ein damit eng verbundenes Thema, nämlich das poetische Ich.

    25. Auch das Selbstbewußtsein ist nicht das Ich. Denn das Selbstbewußstsein ist was es ist. Das Ich ist nicht was es ist, aber es ist was es nicht ist.

    26. @PHG zum Ich. Auch Sprache ist in der Natur, sogar hörbar. Sie ist das wahrnehmbare Verhältnis zwischen den Subjekten, das sie regelt. Jeder Vogel hat Sprache, Bienen haben Sprache, Löwen haben Sprache. Ob sie deswegen auch, alle, ein Ich haben – als eine bewußte Instanz – kann ich nicht sagen. Je komplexer aber ihre Sprache ist, desto wahrscheinlicher wird das Bewußtsein. Genau hier beginnt Grammatik, eine bedeutende, sogar vielleicht setzende Rolle zu spielen. Was Sie als Ich bezeichnen, das nur in der Sprache sei, ist die das Subjekt in der Grammatik, dem freilich jedes andere Subjekt zum Objekt wird. Dies gilt aber nur, sofern Sprache als ein Mitteilungssystem jenseits des Empfindens verstanden wird; es gibt auch Kulturen, die das anders auffassen und deshalb exakte Ich-Grenzen, die das Objekt setzt, nicht kennen, bzw. weniger wichtig finden. Aber auch dies ist in der Natur, weil es sich innerhalb des Gehirns abspielt. Mann kann vielleicht sagen, es sind die Schatten, die einige Gehirntätigkeit auf unser trennendes Bewußtsein wirft. Gehirntätigkeit als solche ist aber Prozessen unterworfen, die Gegenstand naturwissenschaftlicher Untersuchung sind, weil es sich eben um natürliche Prozesse, Prozesse der Natur, handelt, die bei einigen Wesen vorkommen, bei anderen nicht oder weniger – soweit wir jedenfalls wissen (können, bisher). Wird das Gehirn in seinen physiologischen Prozessen gehindert oder besonders befördert, etwa durch Drogen, verändern sich seine Wahrnehmungsprozesse und also auch die Sprache. Mit dem Tod des Gehirns hört die Sprache des jeweiligen Subjektes auf. Es gibt, insofern, nichts außerhalb der Natur, jedenfalls nichts, von dem wir wissen, geschweige, das wir uns vorstellen können; es hätte, gäbe es etwas außerhalb der Natur, für uns auch gar keine Bedeutung, weil es zu uns keinerlei Beziehung hätte. Allerdings kann die I d e e von etwas außerhalb der Natur, z.B. die Idee Gottes oder mehrerer Gottheiten, Wirkung auf uns haben und praktisch werden; als Idee und Vorstellung ist sie aber wieder in der Natur, nämlich als nicht nur Sprache, sondern auch – und besonders – als Empfindung. Daß wiederum auch das Du in der Natur ist, erleben wir sofort, wenn es uns küßt oder schlägt; wir erleben es außersprachlich; schon deshalb ist der Solipsismus Bizarrerie: Er macht die notwenidge Grundverfaßtheit der Grammatik zur Ontologie. Das ist, als würde ich aus der binären Funktionsweise eines Computers erschließen wollen, daß es keine Kochstelle auf dem Gasherd gibt oder daß Kühe nicht notwendigerweise Vegetarier sind.

    27. @tom. Das Ich ist, was es ist, aber immer nur momentan oder jedenfalls in begrenzten Hinsichten. Es ist ein sich wandelndes Festes; man kann auch sagen, die Ichkerne seien immer selbstgewiß, aber variabel. Das läßt sich sehr leicht in unser aller Alltagserfahrung erleben: wenn wir, selbst als Fünfzigjährige, wieder “zuhause” sind, das heißt, bei unseren Eltern, ist unser Ich immer wieder Kind; ein Teil dieses Ichs ist es. Das wird sofort anders, wenn wir als Vorgesetzte mit Angestellten sprechen oder selbst als Eltern mit Kindern; wiederum, wenn wir mir einer Politesse sprechen, die unser Auto aufschreiben will; wieder anders, wenn wir im Sportclub sind. Usw. Indem sich die Wahrnehmung unseres Ichs verändert, verändert sich das Ich. Aber nicht in der Grammatik, wie ich hierüber Gogolin schrieb, weil die Grammatik die Verhältnisse formalisiert; deswegen ist das Ich in Grammatik, nämlich das Subjekt, leer. Ich will das mal so ausdrücken: Das Ich, das wir erleben (empfinden, denken, bewußt “haben”), entsteht in der Sprache immer aus dem ganzen Satz.

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