[Arbeitswohnung.]
Extreme Schwierigkeiten, morgens früh aufzustehen; Schachteltraum, aus dem ich keine Tür fand; verschiedene Ebenen, sprachliche Ebenen!, über ein Geseier aus verschliffener, haßgeladener Untersprache schob sich die Vernunft, aber es war nie zu spüren, wann sie gerecht genug war, das Verlassen dieses Traumes zu erlauben; immer schaute ich auf noch verschwiegene, noch stumme Attacken im Unterholz, das aus Baracken bestand; ich irrte in Barackenwäldern, die sich wie Containerhalden türmten. Konkreter kann ich es nicht erzählen.
Am Schreibtisch fand ich einen Brief meines Verlegers vor, auf den ich folgendermaßen reagierte:
Was man in der Tat will, ist, eine cleane Moral zu transportieren – ich verwende bewußt nicht das Wort “saubere”, um nicht geschichtliche Parallelen anzuspielen, die es s o nicht gibt. Sondern gemeint sind die multikulti-Kulturbürger:innen, kurz: multikulturelle Konsumenten mit unzweideutiger westlicher Haltung; sprich: Die Bücher dürfen nicht irgendwie anstößig sein. Links ist erlaubt, aber gewaltfrei, sozusagen sozialdemokratisch; der Afghanistan-Einsatz ist ein Projekt des Humanismus usw. „Ausgleichende“ Literatur also, man könnte von Glasperlenspielereien sprechen.
Nichts davon ist Argo. Aber Argo hat Wucht, und Argo hat eine Geschichte. Darauf könnte man setzen. (…) Thematisch bedient der Roman nahezu alle brennenden Probleme seit dem Mauerfall; man kann das Buch oder weite Partien des Buches wie eine politische Parabel lesen; es sind Schicksale darin erzählt, von Verkäuferinnen über Poeten, Beamten bis zu Soldaten und Terroristen; Hauptrollen werden von Frauen gespielt usw. (…) Zugleich kann Argo andere Leserschichten aufschließen und für den Buchhandel gewinnen, nämlich solche, die bereits mit dem Internet sozialisiert worden sind. Es ließe sich eine neue Schnittmenge aus konservativen und solchen Lesern gewinnen, die sich mehr als gedruckten und gebundenen Büchern den neuen Medien zugewendet haben; die „gut verdienende bzw. finanziell gut ausgestattete Frau mittleren Alters“ ist ja, wie alles andere, dabei zu altern und wird bald weggestorben sein; die dann gut verdienenden bzw. finanziell gut ausgestatteten Frauen mittleren Alters sind die heute noch jungen Frauen, die gerade mit allem Recht und viel Macht aus den Unis in die Leitenden Berufe strömen, und die sind k e i n e – wenn auch ich mal darf – „Bürgertanten“, sondern klug kalkulierende, scharf denkende Personen, die sich keineswegs von ihren Männern Boutiken hinstellen lassen, damit sie was zu tun haben; sondern die gründen ihre Boutiken selbst und bauen selbst ihren Wohlstand. Wenn also nicht immer nur auf den Jetztzustand gestarrt (der auch schon anders ist) oder gar zurückgeblickt wird, dann hat ein Buch wie Argo jede Chance.
Argo ist multiperspektivisch, also nicht linear erzählt, oder nur selten. Das entspricht den neuen Sozialisationen der Wahrnehmung: multi tasking. Argo hat sehr schnelle Schnitte und ist insgesamt schnell, zugleich aber episch ausgedehnt: Der Roman, die ganze (Anderswelt-)Serie, amalgamiert die klassische Auffassung von Literatur mit dem modernen Bewußtsein (…). Unser Problem ist ein anderes – unser Problem: – bin ich. Hätte Marcel Beyer Argo geschrieben, wär das Buch sofort auf Platz 1. Der eigentliche Hinderungsgrund ist Alban Nikolai Herbst. Das meine ich so persönlich, wie ich es hier schreibe; es geht um überhaupt nichts anderes, nämlich darum, daß Herbst aus der Ribbentrop-Familie stammt und sich dafür öffentlich nie mit Asche bestreut hat, sondern im Gegenteil selbstbewußt und schuldfrei auftrat. Doch dieses Problem werden wir überall haben, ob für Lesungen, ob für Talkshows, ob (…) für den Buchpreis. Ich bin mir unterdessen vollkommen sicher: Sowie ich gestorben sein werde, dreht sich die Chose. Wenn Herbst weg ist, wird man mit Herbst auch umgehen können. Leider ist es, wahrscheinlich, zu spät, noch einmal D’Annunzios Spiel aufzunehmen, also vom Pferd zu fallen (heute hätte man einen Autounfall), daran zu verscheiden und die Nachrufe zur Grundlage des Ruhmes zu machen, bevor man dann, mitten aus ihm auftauchend, lebendig “zurück”kehrt, als eulenspiegelnder Wiedergänger -.
(…)
Soweit dieses.
Ich beginne, die Lesungen zu planen, schreibe an mir bekannte Veranstalter usw. Es ist wichtig, daß das früh genug geschieht. Überhaupt kommt die Argo-Planung nun ins Rollen. Um die Subskription muß ich mich kümmern usw.
Dann Yüe-Ling. Der >>>> Literaturquickie drängt bereits. Aber ich komme immer noch nicht richtig hinein. Am >>>> Gerichtsvollzieher-Hörstück ist noch ein bißchen was zu modifizieren, aber wir wollen, meine Redakteurin und ich, noch den Eindruck einer anderen Redakteurin abwarten, die mehr als die meine mit realistischen Features befaßt ist; die meine nannte ich gestern eine „Kunst-Hörerin“, so, wie ich selbst Hörstücke als Kunstwerke herstelle; das neue Stück fällt da völlig heraus. Spannend, daß sie, meine Redakteurin, bei diesem realistischen Ding ein gleiches Ungenügen empfindet wie ich: keine Transzendenz. Doch das liegt am Thema selbst, am Dokumentarischen, an der – aber notwendigerweise – fehlenden Überhöhung. Man müsse, sagte ich ihr gestern am Telefon, der Tatsache ins Auge sehen, daß die Geschichte der meisten Menschen banal ist, und genau diese Banalität dokumentiert das Stück. Nichtbanale Geschichten sind nicht repräsentativ, was ein solches Feature aber sein soll. Selbstverständlich könnte man aus den Interviewten besondere Geschichten herauswringen, aber da wäre nur Platz für ein oder zwei, und schon wäre das Stück wieder Erzählung von etwas Besonderem. Das Besondere heißt so, weil es eben nicht allgemein ist.
Zu erarbeiten wäre eine Feature-Form, die das Allgemeine, nämlich Banale, in ein Besonderes überführt; genau so haben es viele Religionen mit dem Tod gemacht.
Darüber denke ich nach und schreibe aber erst einmal meine Briefe weiter.