Argo-TS 696/696neben/697.
(Mut den Revisionen vom 14.6.2012).
Möller alias Balthus stand in Rheinmain an einer vom Verkehr chaotisch vollgestopften Rampe, die zu der offiziellen Lappenschleuse hinüberführte, durch welche man, sofern im Besitz eines gültigen Tickets, zum Flughafen kam, der sich weit auf einer der Molen ausdehnte, mit denen die Europäische Mauer je dreivier Kilometer lang in das Thetismeer faßte. Sichtbar hatten an denen die Säuren gefressen. In gut geschützten Kapseln, die wie metallische Wanzen seeseits der geradezu endlosen Mauerwand saßen, steuerten Abenteurer und Cyborgs die Reparaturmaschinen; Holomorfentechnologie war außerhalb des Europäischen Daches nicht einsetzbar, jedenfalls nicht ununterbrochen. Aber auch Robotanlagen hatten sich für Arbeiten auf Thetis als nicht sehr günstig erwiesen. Deshalb fanden hier grobe Frauen und Männer ein Betätigungsfeld, das sich ihnen noch allenfalls beim Militär eröffnet hätte; anders als dort aber herrschte an der Mauer keine hierarchische Disziplin. Solch eine scheuten diese nicht selten heftigen Menschen, deren Waghalsigkeit zu stur war, um sich fügen, geschweige sie in den Dienst einer allgemeinen Idee stellen zu können. Weder kam es ihnen auf Aufstieg oder sonstwie eine Karriere an, noch auf eine andere Macht überhaupt als auf die über alleine sich selbst. Außerdem wurden sie extrem hoch bezahlt, und ihre Innung – eine Art Gewerkschaft, die gleichwohl offiziell nicht anerkannt war – war gefürchtet, schon weil der Interkontinentalverkehr auf die Tätigkeit der Desperados angewiesen war.
Wenige wurden noch alt. Denn der ständige Umgang mit Säuren in zumal einer solch permanenten Thetisnähe griff den Organismus an; zumal galt unter ihnen, sowie sie draußen waren, nichts als ein Faustrecht. Drinnen lebten die, die von ihnen Mensch geblieben, in geschlossenen Gemeinschaften, die, wie die Castren im äußeren Osten, durchaus lagerähnlich, freilich unbefestigt waren. Sie selbst legten, daß unter ihnen das zivile Gesetzbuch nicht galt, entschiedenen Wert. In Pontarlier sprach man euphemistisch von Reinigungsdörfern, der offizielle Begriff war Casino. Wie ehemals die Wagenburgen der Zigeuner waren die Casinos nomadisch, zogen von Einsatzgebiet zu Einsatzgebiet. An den Flughäfen war es indessen zur – von Zarczynski hatte das einst boshaft so genannt – „Seßhaft“ gekommen; das Wort spielte auf den Umstand an, daß durchaus nicht alle Mitglieder der Innung ihr ohne Not angehörten. Zwar einte die meisten ein Ekel vor dem, was sie in ihren Dienst nahm: der nachthetischen Zivilisation typischer Illusionismus. Hinter manchen aber stand die kriminellste Vergangenheit. Denen war keine Wahl geblieben, wenn die Gefängnisdirektion ihnen so die Begnadigung anbot – ohne, selbstverständlich, eingestandenes Wissen Pontarliers. Nicht nur die Villa Hammerschmidt, nein, auch das Parlament hatte diesbezüglich immer schon lieber geahnt als gewußt. Selten saß Yaksha selbst, der Furchtbare, in den Gesprächen, stets aber einer der Mauerräte, meist hochkultiviert und vertrauenerweckend. Der hielt mit dem Risiko nicht hinter dem Berg. Bereits nach wenigen Monaten nahmen die Reinigungskräfte ein Aussehen an, das jede Rückkehr unmöglich machte, schon gar die versprochene, ja vertraglich garantierte ins bürgerliche Leben inklusive der neuen Identität. Und nach den zehn verpflichteten Jahren waren aller Gesichter zu faustgroßen Pusteln verquollen, jedes Atmen war geschädigt. Das aber hieß noch gutgegangen. Dennoch war es objektiv besser, ein solches kurzes, doch immerhin hitziges Leben als das eingesperrte und würdelose unter Yaksha1 auf Rügen zu führen. Auch dort sah niemand das Meer so weinrot, wie es war. Yaksha hatte außerdem recht: „Sie leben wieder in völliger Freiheit.“ Wer die zehn Jahre überstand, war allerdings, abgesehen von den körperlichen Deformationen, auch seelich außerstande, sich noch in zivil regulierte Sozialitäten einzufügen. Das mit einem Herzensdrittel doch immer ersehnte bürgerliche Dasein war dann erst recht, was es für diesen Menschenschlag früher schon gewesen: zu ruhig und zu harmlos, man hätte denn den Eindruck gehabt, in einer Fernsehshow zu leben.
Was Mauerrat und Gefängnisleitung indessen verschwiegen, waren die genetischen Kapriolen, die der Nachwuchs solch Freigelassener schlug. Da man so unter sich blieb, schloß sich der allergogenen Formenfreude der Natur das Erbgut dieser Menschen auf. Bereits ihre Enkel waren nicht länger Frauen und Männer. Viele von ihnen wären ohne hochtechnisierte Prothetik nicht mehr lebensfähig gewesen. Doch sorgte Pontarlier dafür, die Entwicklung dieser Arten vermittels wiedernächster Freiwilliger ins alte Erbgut zurechtzukreuzen. Dabei gehörte es zur Evolution, daß der Mensch sich mit den Maschinen verschnitt. Zum Beispiel wuchs ein ausgesprochen solider, wenn auch Seitenweg der Genetik mit dem gehandhabten Werkzeug zusammen. Diese Wesen wurden mit demselben Öl betankt, das die Geräte schmierte. Sie kamen von der Mauer nie wieder los – nicht metaphorisch, obwohl: das auch, vielmehr konkret bis zum Tod. Sie konnten sich vom Rost ernähren, den sie von den Oberflächen schliffen. Andere spritzten ihre Ausscheidungen in Löcher und Risse. Die härteten in der Mauer aus und gaben ihr erneuerte Stabilität.
Wenige wurden noch alt. Denn der ständige Umgang mit Säuren in zumal einer solch permanenten Thetisnähe griff den Organismus an; zumal galt unter ihnen, sowie sie draußen waren, nichts als ein Faustrecht. Drinnen lebten die, die von ihnen Mensch geblieben, in geschlossenen Gemeinschaften, die, wie die Castren im äußeren Osten, durchaus lagerähnlich, freilich unbefestigt waren. Sie selbst legten, daß unter ihnen das zivile Gesetzbuch nicht galt, entschiedenen Wert. In Pontarlier sprach man euphemistisch von Reinigungsdörfern, der offizielle Begriff war Casino. Wie ehemals die Wagenburgen der Zigeuner waren die Casinos nomadisch, zogen von Einsatzgebiet zu Einsatzgebiet. An den Flughäfen war es indessen zur – von Zarczynski hatte das einst boshaft so genannt – „Seßhaft“ gekommen; das Wort spielte auf den Umstand an, daß durchaus nicht alle Mitglieder der Innung ihr ohne Not angehörten. Zwar einte die meisten ein Ekel vor dem, was sie in ihren Dienst nahm: der nachthetischen Zivilisation typischer Illusionismus. Hinter manchen aber stand die kriminellste Vergangenheit. Denen war keine Wahl geblieben, wenn die Gefängnisdirektion ihnen so die Begnadigung anbot – ohne, selbstverständlich, eingestandenes Wissen Pontarliers. Nicht nur die Villa Hammerschmidt, nein, auch das Parlament hatte diesbezüglich immer schon lieber geahnt als gewußt. Selten saß Yaksha selbst, der Furchtbare, in den Gesprächen, stets aber einer der Mauerräte, meist hochkultiviert und vertrauenerweckend. Der hielt mit dem Risiko nicht hinter dem Berg. Bereits nach wenigen Monaten nahmen die Reinigungskräfte ein Aussehen an, das jede Rückkehr unmöglich machte, schon gar die versprochene, ja vertraglich garantierte ins bürgerliche Leben inklusive der neuen Identität. Und nach den zehn verpflichteten Jahren waren aller Gesichter zu faustgroßen Pusteln verquollen, jedes Atmen war geschädigt. Das aber hieß noch gutgegangen. Dennoch war es objektiv besser, ein solches kurzes, doch immerhin hitziges Leben als das eingesperrte und würdelose unter Yaksha1 auf Rügen zu führen. Auch dort sah niemand das Meer so weinrot, wie es war. Yaksha hatte außerdem recht: „Sie leben wieder in völliger Freiheit.“ Wer die zehn Jahre überstand, war allerdings, abgesehen von den körperlichen Deformationen, auch seelich außerstande, sich noch in zivil regulierte Sozialitäten einzufügen. Das mit einem Herzensdrittel doch immer ersehnte bürgerliche Dasein war dann erst recht, was es für diesen Menschenschlag früher schon gewesen: zu ruhig und zu harmlos, man hätte denn den Eindruck gehabt, in einer Fernsehshow zu leben.
Was Mauerrat und Gefängnisleitung indessen verschwiegen, waren die genetischen Kapriolen, die der Nachwuchs solch Freigelassener schlug. Da man so unter sich blieb, schloß sich der allergogenen Formenfreude der Natur das Erbgut dieser Menschen auf. Bereits ihre Enkel waren nicht länger Frauen und Männer. Viele von ihnen wären ohne hochtechnisierte Prothetik nicht mehr lebensfähig gewesen. Doch sorgte Pontarlier dafür, die Entwicklung dieser Arten vermittels wiedernächster Freiwilliger ins alte Erbgut zurechtzukreuzen. Dabei gehörte es zur Evolution, daß der Mensch sich mit den Maschinen verschnitt. Zum Beispiel wuchs ein ausgesprochen solider, wenn auch Seitenweg der Genetik mit dem gehandhabten Werkzeug zusammen. Diese Wesen wurden mit demselben Öl betankt, das die Geräte schmierte. Sie kamen von der Mauer nie wieder los – nicht metaphorisch, obwohl: das auch, vielmehr konkret bis zum Tod. Sie konnten sich vom Rost ernähren, den sie von den Oberflächen schliffen. Andere spritzten ihre Ausscheidungen in Löcher und Risse. Die härteten in der Mauer aus und gaben ihr erneuerte Stabilität.