Irsee (1), darin für Janós Starker. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 22. Mai 2012: („Ich bin gefallen in Musik.“) – Und solch ein Glück dann nachts.


Argo-TS 560 bis 563.


9.09 Uhr:
[Arbeitswohnung. Bach, Cellosuiten (>>>> János Starker).]
Starkers Einspielungen dieser Suiten gehören für mich zu den überzeugendsten; sein Strich ist rigoros männlich, der Ton unsentimental perfekt, dennoch leidenschaftlich, ja heftig – was heißt hier also „dennoch“? – Mir war plötzlich nach ihm, als ich eben die Früharbeit an Argo zur Seite legte, um wieder einmal „vernünftig“ ein Arbeitsjournal zu schreiben, raus aus dem Mief des halb-Depressiven, das mich gestern nacht dabei erwischte, wie ich nach einem Spielfilm nach dem anderen vor dem Screen zusammensackte, also der Kopf übern Hals auf die Brust fiel; >>>> Mutlosigkeit ist ein klebriger Zustand, den niemand wirklich brauchen kann, der gerne vögelt – was bei mir immer heißt: der gerne arbeitet. So verschieden sind unsere Begriffe von Arbeit definiert, bzw. empfunden.
Die Texte für >>>> die Irsee‘er Meisterklasse an der Schwabenakademie sind gekommen: von neunzehn Bewerbungen habe ich zwölf auszuwählen. Interessanterweise haben sich keine jungen Leute angemeldet, was zum einen damit zu tun haben kann, daß für die Teilnahme ziemlich hohe Kosten anfallen – aber in anderen Kursen ist der Altersschnitt, heißt es, deutlich niedriger -, zum zweiten ist das angebotene Thema – Autobiografisches Schreiben und seine Poetisierung – eigentlich wirklich erst interessant, wenn genug Lebensgeschehen zu verarbeiten sind. Spannend, daß in meinem Kurs auch wirklich alte Menschen sitzen werden; die älteste Bewerberin ist 84. Ansonsten geht es sehr durcheinander: Ärzte, Apotheker, BWLer, Berufsschriftsteller, Lehrer – so das Ergebnis meines ersten Durchfliegens der Unterlagen. Jedenfalls werde ich mich nachher gleich dransetzen; man möchte gern so schnell wie irgend möglich bescheidwissen.
Ich wurde übrigens gebeten, den Kurs von einem Weblog begleiten zu lassen; da müssen die Teilnehmer freilich zustimmen. Also ist da ein erklärender Brief zu verfassen; außerdem kann ich zumindest bei den älteren Leuten nicht voraussetzen, daß sie einen Laptop haben und ihn zu benutzen gewohnt sind. Im übrigen werde ich es, sofern von den Teilnehmern gewollt, so halten wie seinerzeit beim >>>> virtuellen Seminar. Falls jemand der potentiellen Teilnehmer hier schon mitlesen sollte: schauen Sie sich da ein wenig um, bitte.
Des weiteren ist es sinnvoll, wenn die Teilnehmer meinen Roman >>>> Meere kennen, mit dem ich wegen vorgeblicher Autobiografie so hart gegen die Wand gelaufen bin; es wird über Auswirkungen eines Persönlichkeitsrechtes gesprochen werden müssen, das zur Quelle einer juristischen Abmahnindustrie geworden ist.

Nein, war kein guter Tag gestern, aber man muß durch sowas durch, darf es nicht wegschieben; sonst rächt sich das, zum Beispiel an der Gesundheit. Doch man ist dann ziemlich hautoffen und erträgt nicht, was man sonst achselzuckend weglegte; also löschte ich einen gar nicht mal so bedeutend hämischen Kommentar unter >>>> dem Gedichtentwurf. Auf offengelegtes Leid wird immer eingetreten, das ist ein Gesetz. Es ist uns internalisiert worden, daß wir uns nicht zeigen; wir sollen die Fesseln eigenhändig anziehen, sonst haben die andern zu viel Arbeit und müßten ja zudem, womöglich, ein eignes Leid erkennen, das sie mühsam selbst verstecken. Insofern ist die Aggression nachvollziehbar, die ich als Person und mit meiner Arbeit immer wieder auslöse, ebenso wie die Sucht, dennoch her- und herzukommen, um sich dann, erwartungsgemäß, überaus zu ärgern oder es einfach unmöglich zu finden, was ich tue, bin oder zu sein scheine.

Ansonsten? Meine liebe Leserin! Ich warte auf Nachricht vom WDR wegen >>>> Galouye; die Redakteurin will das Stück heute oder morgen abhören. Danach wird es noch einmal an die Montage gehen, für die letzten feinen Schnitte; dann wird diese Arbeit fertig sein und für ihre Ausstrahlung bereitliegen. Und ich muß mir einen Arzttermin für die Bescheinigung zur >>>> Tauchbefähigung geben lassen; das brächte ich gern noch diese Woche hinter mich. Wird wohl ein Querdurch-Check werden. Das letzte Mal hab ich sowas machen lassen, als ich noch in Frankfurt lebte; das liegt also mindestens siebzehn Jahre zurück, eher zwanzig. So richtig reizen tut‘s mich nicht. Und für meinen Jungen will ich mir heute eine Waldorfschule ansehen; Empfehlung seiner Cellolehrerin. Mit dem normalen Schulsystem scheint er so wenig kompatibel zu sein, wie ich es in Kindheit und Jugend war. Manchmal denke ich, daß das schon komisch ist, was sich alles vererbt, bzw. ungewollt weitersozialisiert. Restlos entschieden bin ich aber noch nicht, schon, weil ich selbst Leistungsherausforderungen mag, ebenso wie Prüfungen, aber, eben, erst, seit ich älter war als zwanzig, seit ich nämlich wollte, ich selbst, und nicht mußte; vorher war das für mich Grausen. Ob das bei meinem Jungen ähnlich ist, weiß ich nicht. Anders als ich damals geht er gerne zur Schule, steht oft sogar früher auf, als er muß, um früher, als er muß, dortzusein. Das wäre mir nie eingefallen.

Janós Starker. Wie bekommt man diesen T o n hin? Meine Handgelenke sind nicht sehr beweglich; zuviel Kraftsport, vielleicht, in meinem Leben; und das Alter, selbstverständlich, irgendwann dann doch. Jedenfalls muß aus dem Gelenk gestrichen werden; bei mir aber geht immer der Unterarm mit. Dennoch, es wäre einfach schön, gelänge mir ein Klang, und sei‘s allein für mich.

Wieder einmal Lust auf Gedichte: sie zu schreiben. Wie man über Frauenkörper, bebend und doch hart entschieden, streicht.

19.30 Uhr:
[Janós Starkers Bach-Suiten, da capo.]
Bin in diese Musik gesunken.
Und der erste Text für >>>> Irsee, einer 69jährigen Bewerberin, ist ausgesprochen intensiv und gut; paar kleine Ausdrucksmäkeleien hätte ich vorzubringen, und ich würde an der Dramaturgie ein bißchen feilen; aber insgesamt? Du meine Güte, wenn das so weitergeht, ist‘s ein Geschenk, mit diesen Menschen arbeiten zu können. Allerdings wird es schwierig werden, die Auswahl zu treffen, falls es mit dem Niveau so weitergeht. Ich brauch also ein Bewertungssystem, etwa nach Punkten; ansonsten, vielleicht ist das gerechter, könnte ich nach Eingangsdatum entscheiden. Sieben sollen ins Kröpfchen. Hm.

Ein ziemlicher Ärger, der sich über fast zwei Jahre erstreckte, ist beigelegt, aber es brauchte eine Anwaltskanzlei im Cc meiner letzten Mail, die ich heute früh hinausschickte. Keine fünf Minuten später kam die Antwort, vier Stunden später lag der Vertrag, um den wir derart gerungen, endlich im elektronischen Postfach. Ich kann digital signieren, das war hilfreich. Nun fällt schon mal eine riesige Last von mir – vorausgesetzt, die Vereinbarung wird nun auch eingehalten. Und ein weiterer Bulle war vom Eis zu holen, das nicht nur der Sommerhitze wegen (31 Grad!) schmolz. Dann schon Nachricht der Waldorfschule. Sie wollen aber erst die letzten vier Zeugnisse des Jungen sehen. Ich zeigte ihm die Mail. Er wurde richtig blaß. „Ich habe das vermeiden wollen, wollte erst einmal von Angesicht zu Angesicht sprechen. Die Wahrheit, Junior, steht nie in den Zahlen. Aber die Menschen glauben den Zahlen meistens mehr als der Wahrheit. Damit müssen wir nun leben.“ Er übte wunderbar am Cello, rennt mir täglich mehr voran.
Anruf der Redakteurin: sie höre heute abend; ob sie die Sendung, wenn, dann schon am 7. Juni ausstrahlen lassen dürfe? Nun war ich davon ohnedies ausgegangen. Bin aber etwas zittrig, weil meine Freundin C., die probegehört hat, schrieb, das Stück sei rätselhaft, bewundernswert gemacht, aber mehr Hörspiel als Feature. Was stimmt. Ich kenne diesen Einwand. Schon mein Rundfunk-Mentor Zenke, der mich überhaupt erst auf O-Töne „gesetzt“ hat, dreizehn Jahre ist das her, hatte ihn immer mal wieder auf den Lippen. Dennoch hat das Stück, halt nur auch, Feature-Character; nur darauf kann ich mich verlassen. Die Redakteurin wird hören, was das ist, das sie da bekommt. Und zu Fronleichnam, daran hatte ich gar nicht gedacht, paßt es wie eine Ampel Weihrauchs in die Kirche – doch nicht, daß Sie jetzt etwas Falsches denken! Den Zusammenhang stiftet nun erst die Realität.
Ich bin gefallen in die Musik.

In einer dreiviertel Stunde radle ich in die Bar, angenehm verschwitzt vom Tag, unrasiert heute und ungeduscht ebenfalls. In weißen aufgekrempelten Jeans aus Tuch, weißem Hemd, Sneakers; die Lederjacke, eventuell für die Rückfahrt, im Fahrradkorb. Will mir für die Fahrt eben noch diese Suiten auf den mp3-Player laden. Singe und singe und pfeife furchtbar falsch. Das Tolle ist, daß ich das selbst höre und es mich in keiner Weise stört.

(Beelitzer Spargel, Pellkatoffeln, zerlassene Butter, Cidre. So zum Abend und zu Bach. Espresso danach und einen überreifen Epoisse zum aufgebrochenen Granatapfel).

23.40 Uhr:
[Bach, Cellosuiten, Starker (Aufnahme von 1991).]
Geradezu besinnungslos vor Musikglück, schweißüberströmt, es fließt und tropft nur so von mir hinab. Solch ein Wahnsinn ist das, mit diesen Suiten durch das Nachtberlin zu radeln. An einer Ampel Liebknechtstraße, also Fortsetzung von Unter den Linden, spricht mich eine junge schöne Frau, die ebenfalls radfährt, an: „Was dirigieren Sie denn da so schön?“ „Ach, ich höre Bach.“
Nun hätt ich sie einladen können auf einen letzten Drink, wer weiß denn schon, aber ich wollte aus dieser Musik nicht hinaus, habe noch jetzt die Hörer des mp3-Players in den Ohren, weil ich auf keinen Fall unterbrechen möchte. Das ist wirkliches Glücklichsein.
Aber nie sah ich >>>> die Bar so leer.

Was nur halb stimmt, weil alle draußen saßen, und da war es voll. Wir planten unsere Fernsehsendung für 2014: „Schlechte Bücher“ wird sie heißen. Mehr darf ich noch nicht verraten. Gute Nacht.

(Tagsüber, über die große Anlage, habe ich Starkers Aufnahme von 1997 gehört.)

4 thoughts on “Irsee (1), darin für Janós Starker. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 22. Mai 2012: („Ich bin gefallen in Musik.“) – Und solch ein Glück dann nachts.

  1. Dass ihnen der Kommentar hämisch rüberkam, tut mir sehr leid. Ich bin nur über das Verb gestolpert eben vermutlich weil die Referenz meinen Kontext überstieg.

    Ich hätte das anders formulieren können.

    1. Sehr geehrter Herr Benjamin, ich weiß gerade gar nicht, welches Verb Sie meinen. Wenn es >>>> um “blauen” ging, dann bezieht sich meine Bemerkung zu dem hämischen Kommentar nicht auf den Ihren. Den habe ich verstanden und völlig korrekt, auch sehr nachvollziehbar gefunden und >>>> so darauf geantwortet.
      Nein, Sie waren nicht gemeint. Der, der gemeint war, wird es wissen; man kann ihn jetzt aber nicht mehr, also unter dem Gedicht nicht, lesen. Und das ist gut so. Für Ihren Einwand hingegen bin ich sogar dankbar.

  2. Lieber ANH, was für ein schöner Tagebuch-/Arbeitsjournaleintrag – im gesamten einer über die Kraft der Musik; dieses Gefühl hatte ich zumindest, so, wie sich der Tonfall im Fortgang des Tages veränderte. Ja, dies mag zweifellos auch mit dem Ärger, der sich klärte, und der Arbeit, die voranging, zusammenhängen. Aber wie sie so schlicht und nah an der Musik über diese geschrieben haben heut, im Fortgang des Tages eben, das hat mich berührt. Danke.

    Ihr mg

    PS: Der Schlußsatz Ihres Gedichtes von Gestern ist große Klasse – er rundet, ohne zu beschönigen.

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