14. Februar 2025
Karlsruhe
“Briefe nach Tiest”
ANH erzählt und liest
Circus 3000, Alter Schlachthof 13a, 19 Uhr
18. Februar 2024
Berlin
In der Reihe “Das Werk” des Literarischen Colloquiums (LCB)
Eine ANH-Werkschau. Mit ANH und (Moderation noch nicht klar).
LCB, Am Sandwerder 5,
Berlin-Wannsee, 19 Uhr
Liebeserklärung. Louis Aragon.
Das Buch ist nämlich nicht möglich. Sein Autor war doch Stalinist? Gewiß! Ich weiß nicht, was mich bei den Kommunisten am meisten verwundert: wenn sie sich darauf versteifen, recht zu haben, selbst wenn sie unrecht gehabt haben, oder aber umgekehrt, wenn sie unbedingt unrecht gehabt haben wollen. Das erscheint 1972 bei Volk und Welt in Ost-Berlin! Es läßt sich als Abrechnung mit dem Dogma lesen. Poetisch ist das lebensgeschichtliche Nebensache.
Erklären Sie mir lieber, wie es gelingen konnte, literarästhetische Hochseilakrobatik zu betreiben und sie zugleich zu verspotten… einer der brillantesten Mittelstürmer des Strukturalismus… zudem eine Geschichte zu erzählen, ja, mit Gänsehaut und Jauchzen, eine Weise von Liebe und Tod? Meine Geschichte ist vielleicht die aller Männer, die eine Frau wirklich lieben… Ach, Sie sprechen über die Realität! Man wird nie wissen, was mit dem Wesen war, mit dem man gelebt, geliebt, geschlafen, manchmal geweint hat, ein ganzes Leben lang… Niemals. Und Formulierungen, für die ich bedenkenlos Adornos Gesamtwerk herschenken würde: Man erblickte einen schon blassen Himmel, der aussah, als hätte er zu viele Muscheln gegessen. – Dieser Montag, der 17. Februar, geht mit einer Langsamkeit zu Ende, daß die Uhren den Mut verlieren könnten. Sowie die Liebeserklärungen! Ich hatte mich zum Schatten einer Frau gemacht, die in mein Leben eingedrungen war wie ein Luftstrom ins Zimmer. Und dann spricht sie, spricht sie, und ich werde nicht wiedergeben, was sie sagt. Dazu müßte man lasterhaft sein. Man kann Wasser nicht wiedergeben. Bestenfalls Tränen. Aber Wasser? Zudem ist dieser Roman vollgesogen mit unsrem Jahrhundert. Die Métrostationen hatten eine andere Atmosphäre bekommen, seit man dort in Gruppen die Treppen hinunterrannte, um der Polizei zu entwischen. Das ist das, was wir Semantiker einen Bedeutungswandel nennen.
Wollen Sie wissen, worum es geht in dem Buch? Kein Wort davon! Wir tragen unser Thema im Titel: Ich war bei dem „Als ich so alt war wie Sie…“ stehengeblieben, genau das könnte ich zu Marie-Noire sagen, sie würde mich ungläubig anschauen, für sie bin ich nie so alt wie sie gewesen, und übrigens stimmt das, ich bin nie mit Schwimmflossen über den Strand gelaufen, ich nehme die Gespräche meiner Freunde nicht auf Tonband auf, ich ließ mich aus den ‘Deux Magots’ rauswerfen, weil ich die Vermessenheit hatte, mitten im Juli 1922 ohne Jackett dort hineinzugehen, und wenn ich auf den großen Boulevards mit einem Bart entlangspazierte, so war es ein falscher. Ohne solche Hinweise ist die Weltgeschichte unverständlich. – Stellen Sie sich vor: Man glaubt, es spräche der Autor hier selbst. Dabei spricht Goeffrey Gaffier, seine Figur.
Als ich „Blanche“ erstmals in die Hand bekam, war ich siebzehn. Das Buch stand in der Bibliothek, ich hatte, das vergeß ich nie, die Seite 217 aufgeschlagen: …der Roman beginnt, wo die Regel mißachtet wird… Natürlich ist es viel wahrscheinlicher, daß ich, das vergeß ich erst recht nie, zuerst auf Seite 194 blickte: … als ob man in seinen Briefen weniger lügt als in seinen Romanen… Sowas berauschte mich damals, wenngleich ich den linguistischen Aspekt nicht kapierte und mir Chomsky so kreuzwurscht war wie Saussure. Vergessen Sie nicht, man hatte mich vom Gymnasium gefeuert, ich fing grade meine Lehre an. Zweimal hintereinander las ich das Buch; heute weiß ich, daß ich überhaupt nicht begriff, worum es ging. Und sowieso war mir ein alter Mann fremd, der zurückschaut. Ich ahnte nicht, daß der Roman eine Wissenschaft der Anomalie ist, und daß er auf mich als auf seine Jugend blickte und ich in ihn als in meine Zukunft voraus. Aber immer, wenn ich „Roman“ dachte fortan, vernahm ich ein gebrochnes „Hör zu, Blanche“. Das prägt einen, gerade wenn man es nicht merkt. Das Buch war im westdeutschen Handel nicht zu bekommen, ich kopierte es heimlich im Büro. Elf Jahre später fand ich endlich eine gebundene „Blanche“ im Antiquariat. Und las das Buch erneut. Wer weiß, daß ein wichtiger Abschnitt in meiner damals erschienenen „Verwirrung des Gemüts“ so beginnt: Aber wer spricht hier eigentlich? Wer ist das, der permanent „Ich“ sagt? – der wird meinen Schrecken ermessen, als ich nun bei Aragon fand: Wer bin ich? Man könnte sich darüber täuschen. Sie meinen, der 1897 geborene Autor? Sie sind ein bißchen simpel. Wer, Sie? Ich ertappte mich bei einem Plagiat: Ich hatte ganz offenbar aus meinem Unbewußten abgeschrieben, in das sich elf Jahre früher Aragons greiser Held Geoffrey Gaffier hineingeschrieben hatte. – Verstehen Sie den Vorgang? Also: jenseits seiner Banalität? Begreifen Sie, daß uns ein Roman Fragen stellen kann, die wir erst gar nicht vernehmen, aber Jahre später hören wir sie als von uns an uns selbst gerichtet? Daß uns ein Roman also schafft, zumindest partiell? Daß wir insofern selbst Figuren aus Romanen sind? – Sehen Sie, jetzt verrate ich Ihnen doch noch, worum es geht in dem Buch. – Muß nicht jedes Wort, jeder Satz als eine Folge von angenäherten, ungenügenden Antworten angesehen werden? Und das ist der Grund, weshalb der Leser oder zumindest ich, als Leser betrachtet und in der Folge ‘der Leser’ genannt, weiterliest. Dies ist das bleibende Merkmal der großen, der wahren Romane.
Da trug ich das Buch zum Buchbinder, es bekam diesen grünfraktalen Einband, den Rücken in Leder, wie sich das gehört. Und so hat es gewartet; es wartete darauf, ein weiteres Mal zur Hand genommen und, nunmehr für diesen Text, innerhalb von drei Tagen neuerlich durchlebt zu werden. Dazu offenbar wurde ich 41 Jahre alt, um Ihnen zu erzählen, es halte M. Gaiffier – oder tut es M. Aragon selbst? – oder tu’ ich es, den die beiden sich vorstellen?, – am Unerklärbaren fest, so daß Blanche sich Ihnen und uns wieder zeigt: Ich habe die Tür aufgemacht. Zwischen dem Bildschirm und mir hat sich etwas bewegt. Eine Frau.
Liebe Leserin, lieber Leser! Es gibt für jede und jeden, die oder der nicht französisch lesen kann, ein Problem: Das Buch ist in deutscher Übersetzung vergriffen und wird in absehbarer Zeit auch nicht wieder aufgelegt werden. Das ist eine Gemeinheit, ich weiß. Nur: Weshalb sollen Sie es besser haben, als ich es damals hatte? Suchen Sie, durchstöbern Sie die Antiquariate! – von dieser Illusion gepackt, die die Wirklichkeit der Sprache gleichmacht.
Er hat von seinem Recht nichts verloren, auch wenn eine Kleinigkeit darin… sagen wir nicht: falsch, sondern: in solch einem Glück verirrt ist, nämlich chronologisch. Denn ich war nicht siebzehn, sondern bereits zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt. Es gab in Bassum oder Syke, in deren Nähe ich bei meinem Vater lebte, keine Stadtbiblithek, die ein solches Buch besessen hätte; es wären da keine Leser gewesen, die es gelesen hätten. Sondern, und ich sehe noch die Treppenstufen, die Bremer Stadtbücherei war es, wo ich diesen Roman fand, der mich ich weiß nicht warum verlockte, ihn mitzunehmen. Nach Bremen ging ich 1974. Na, vielleicht war ich neunzehn. Heute würde ich 21 sagen. Wollen wir uns auf die Mitte einigen? Dann wären wir wieder in dem für mich so entscheidenden Jahr 1975.
Dabei war es anfangs nur ein Flirt, was da funkte zwischen diesem Buch und mir. Doch irgend etwas störte immer, entweder das Buch oder mich, so daß wir unser nun so langjähriges Verhältnis eher distanziert begannen, gewissermaßen mit Klugheit, fast, als hätte eine Frau es inszeniert und hielte es am Atmen. Normalerweise bin ich stürmisch oder war es, in jedem Fall, damals. Mit 1976 fällt meine Schüchternheit ab.
Die Lehre ist zuende, >>>> das Versprechen steht, nach dem Zivildienst mein Abitur nachzuholen und dann Jura zu studieren, ‚wie >>>> Kafka‘, sagte ich mir, um mich nicht für korrupt zu halten. Diesbezüglich bin ich schon damals empfindlich gewesen. Es wurde auch nichts draus, aus mir und der Dame der Jurisprudenz. Hab ich‘s denn ernstlich vorgehabt?
Jetzt lernte ich ein Elend kennen, das man auch in Deutschland so nennen darf, ohne sich luxuriös schuldig zu machen. Und das Elend und ich gingen in Clinch, >>>> „regelwidrig“ insofern, als körperliche Gewalt als regulatives Mittel an sich nicht vorgesehen war. Die Alkoholiker sahen das anders, und ich bin nicht der Mensch, nach Hoheiten zu rufen. Die Angelegenheit war schnell geklärt; fortan genoß ich große Autorität. Von diesen Geschichten erzähle ich gelegentlich einmal anderswo; hier geht es ja um Literatur.
Selbstverständlich schrieb ich zum Zivildienst weiter, manchmal auch während des Zivildienstes. Vor allem aber las ich. Und Blanche ließ mich nicht los. Ich verstehe heute nicht, weshalb ich damals für meine Rezitationen nicht auch Aragon hinzuzog. Tatsächlich tat ich‘s nicht. Mag sein, daß ich mich an ihm abarbeitete, zumal meine Themen andere wurden, solche der Realität, die ich täglich erlebte und auf die mir stilistisch jetzt Aragon einen Blick gab. Man mußte von der „Le Monde réel“ nicht schreiben, daß es nach Holz mit Blechlöffel klang, man konnte sehr wohl elegant sein. Wenn nicht der innere Expressionismus mal wieder überkochte. Dem gab ich nach wie vor nach. Noch die Prosaseiten der kleinen>>>> Marlboro-Sammlung, die ein Ergebnis dieser Jahre ist, sehen aus wie von Schrapnells zerschossen, derart wespenschwärmig stehn da die Punkte zwischen den Sätzen, oft ihrerseits zerhackten. Das konnte so keinesfalls weitergehen. Aber auch der >>>> Thomas mannsche Weg war nicht mehr gangbar, so wenig wie >>>> Kafkas. Das alles wußte ich. Hier nun stand Aragon da und zeigte mir die Richtung. >>>> Erinnern Sie sich? ‚Kafka zur Seite‘? Der Weichenwärter? „Allez par ici“? –
Die zwei weiteren großen Aragons, die des Spätwerks, folgten Blanche auf dem Fuß: das virtuose „Théâtre/Roman“ und das wie Blanche elegische „La mise è mort“, das ich ebenfalls neu binden und mit Lederrücken versehen ließ. Auch daraus, aus den – La mise à mort auf Deutsch: – „Spiegelbilder“n, eine kleine Passage:
gegeben hat, nicht empfangen hat, nicht jene, die man empfangen und gegeben,
nein, die, zu denen es nicht kam, die totgeborenen, die vermiedenen, die
aufgeschobenen… In seinen Augen war seine Frau schön, ich fand das nicht.
Ach so, ich habe meinen Satz von den Küssen ja gar nicht beendet. Das ist wie
mit den Küssen selber. Er sagte, wenn man sie alle zusammenzählte,
würde einen das Unglück zermalmen.
Die Geschichte der Literatur ist auch ein Staffellauf und ähnelt dem Weg des olympischen Feuers: der Läufer vorher gibt es an einen nach ihm weiter. Als Aragon nicht mehr konnte, war ich dran. Und auch auf mich wartet schon wer.]
Lebenslang Wie schön Sie das gesellschaftliche Desiderat eines ‘lebenslangen Lernenmüssens’ als absurd vorführen. Die ‘Prägung’ ist eine irreversible Form des Lernens & alles, was nach ihr kommt, sind mehr oder weniger Feinkalibrierungen ein & derselben.
Eine dankenswert feine Reihe, werter Herr Herbst!
Eine wunderbare Lockung, die mich geradezu nötigt, das Buch zu lesen. Danke dafür!
(Und: Sie m ü s s e n diese Serie als ein “Stück” publizieren. Einmal. Bald.)
un parlando
che
tentacolando
tenta
cola
di
“chi so’ io
io chi so’?”
di rienzo
meinend
[das gesperrt geschriebene indes aber auch intendendo!]
Wunderbare Prägungen ! Ja, tatsächlich… Wie wunderbar alle Ihre Texte zu lesen !Ihr Text über Aragons Blanche ist an sich schon eine grossartige Geschichte.