6 thoughts on “Dreizehn.

  1. Liebeserklärung. Louis Aragon.

    Bisweilen legt man Romanen einen neuen Einband über die Schultern… wie jemand einer Frau, die er liebt, eine Perlenkette schenkt. Perlen darf man nur einreihig tragen, und auch ein Einband muß schlicht sein, sonst geht die Erotik verloren. Mich haben allerdings nur wenige Bücher zu solchem Aufwand verführt: Kluges Herr Kortüm etwa, Des großen Niebelschütz’ Blauer Kammerherr, Gerd-Peter Eigners Brandig, auch Schnurres Schattenfotograf – indes den letzten Romanen des alten Louis Aragon wäre ich verfallen, hielten nicht sie ihrerseits mich auf Distanz: La Mise à mort (1965), Théâtre/Roman (1974) und, die mittlere Schwe­ster, Blanche ou l’oubli (1967). Von ihr soll hier die Rede sein. Sie ist Vollendung der modernen Roman­kunst… nein!, ganz falsch, viel zu pathetisch!, — „Blanche oder Das Vergessen“ ist ein, um es nüchtern zu sa­gen, Wunder.
    Das Buch ist nämlich nicht möglich. Sein Autor war doch Stalinist? Gewiß! Ich weiß nicht, was mich bei den Kommunisten am meisten verwundert: wenn sie sich darauf versteifen, recht zu haben, selbst wenn sie unrecht gehabt haben, oder aber umgekehrt, wenn sie unbedingt unrecht gehabt haben wol­len. Das erscheint 1972 bei Volk und Welt in Ost-Berlin! Es läßt sich als Abrechnung mit dem Dogma lesen. Poetisch ist das lebensgeschichtliche Nebensache.
    Erklären Sie mir lieber, wie es gelingen konnte, literarästhetische Hochseilakrobatik zu betreiben und sie zu­gleich zu verspotten… einer der brillantesten Mittelstürmer des Strukturalismus… zudem eine Geschichte zu erzählen, ja, mit Gänsehaut und Jauchzen, eine Weise von Liebe und Tod? Meine Ge­schichte ist vielleicht die aller Männer, die eine Frau wirklich lieben… Ach, Sie sprechen über die Realität! Man wird nie wissen, was mit dem Wesen war, mit dem man gelebt, geliebt, geschlafen, manchmal geweint hat, ein ganzes Leben lang… Niemals. Und Formulierungen, für die ich bedenken­los Adornos Gesamtwerk herschenken würde: Man erblickte einen schon blassen Himmel, der aussah, als hätte er zu viele Muscheln gegessen. – Dieser Montag, der 17. Februar, geht mit einer Langsam­keit zu Ende, daß die Uhren den Mut verlieren könnten. Sowie die Liebeserklärungen! Ich hatte mich zum Schatten einer Frau gemacht, die in mein Leben eingedrun­gen war wie ein Luftstrom ins Zimmer. Und dann spricht sie, spricht sie, und ich werde nicht wiedergeben, was sie sagt. Dazu müßte man lasterhaft sein. Man kann Wasser nicht wiedergeben. Bestenfalls Tränen. Aber Wasser? Zudem ist dieser Roman vollgesogen mit unsrem Jahrhundert. Die Métrostationen hatten eine andere Atmo­sphäre bekommen, seit man dort in Gruppen die Treppen hinunterrannte, um der Polizei zu entwi­schen. Das ist das, was wir Semantiker einen Bedeutungswandel nennen.
    Wollen Sie wissen, worum es geht in dem Buch? Kein Wort davon! Wir tragen unser Thema im Titel: Ich war bei dem „Als ich so alt war wie Sie…“ stehengeblieben, genau das könnte ich zu Marie-Noire sagen, sie würde mich ungläubig anschauen, für sie bin ich nie so alt wie sie gewesen, und übrigens stimmt das, ich bin nie mit Schwimmflossen über den Strand gelaufen, ich nehme die Gespräche mei­ner Freunde nicht auf Ton­band auf, ich ließ mich aus den ‘Deux Magots’ rauswerfen, weil ich die Vermessenheit hatte, mitten im Juli 1922 ohne Jackett dort hineinzugehen, und wenn ich auf den gro­ßen Boulevards mit einem Bart entlang­spazierte, so war es ein falscher. Ohne solche Hinweise ist die Weltgeschichte unverständlich. – Stellen Sie sich vor: Man glaubt, es spräche der Autor hier selbst. Da­bei spricht Goeffrey Gaffier, seine Figur.
    Als ich „Blanche“ erstmals in die Hand bekam, war ich siebzehn. Das Buch stand in der Bibliothek, ich hatte, das vergeß ich nie, die Seite 217 aufgeschlagen: …der Roman beginnt, wo die Regel mißachtet wird… Na­türlich ist es viel wahrscheinlicher, daß ich, das vergeß ich erst recht nie, zuerst auf Seite 194 blickte: … als ob man in seinen Briefen weniger lügt als in seinen Romanen… Sowas berauschte mich damals, wenngleich ich den linguistischen Aspekt nicht kapierte und mir Chomsky so kreuzwurscht war wie Saussure. Vergessen Sie nicht, man hatte mich vom Gymnasium gefeuert, ich fing grade meine Lehre an. Zweimal hintereinander las ich das Buch; heute weiß ich, daß ich über­haupt nicht begriff, worum es ging. Und sowieso war mir ein alter Mann fremd, der zurückschaut. Ich ahnte nicht, daß der Roman eine Wissenschaft der Anomalie ist, und daß er auf mich als auf seine Ju­gend blickte und ich in ihn als in meine Zukunft voraus. Aber immer, wenn ich „Roman“ dachte fortan, vernahm ich ein gebrochnes „Hör zu, Blanche“. Das prägt einen, gerade wenn man es nicht merkt. Das Buch war im westdeutschen Handel nicht zu bekommen, ich kopierte es heimlich im Büro. Elf Jahre später fand ich endlich eine gebundene „Blanche“ im Antiquariat. Und las das Buch erneut. Wer weiß, daß ein wichtiger Abschnitt in meiner damals erschienenen „Verwirrung des Gemüts“ so beginnt: Aber wer spricht hier eigentlich? Wer ist das, der permanent „Ich“ sagt? – der wird meinen Schrecken er­messen, als ich nun bei Aragon fand: Wer bin ich? Man könnte sich darüber täuschen. Sie meinen, der 1897 geborene Autor? Sie sind ein bißchen simpel. Wer, Sie? Ich ertappte mich bei einem Plagiat: Ich hatte ganz offenbar aus meinem Unbewußten abgeschrieben, in das sich elf Jahre früher Aragons grei­ser Held Geoffrey Gaffier hineingeschrieben hatte. – Verstehen Sie den Vorgang? Also: jenseits seiner Banalität? Begreifen Sie, daß uns ein Roman Fragen stellen kann, die wir erst gar nicht vernehmen, aber Jahre später hören wir sie als von uns an uns selbst gerichtet? Daß uns ein Roman also schafft, zumindest partiell? Daß wir insofern selbst Figuren aus Romanen sind? – Sehen Sie, jetzt verrate ich Ihnen doch noch, worum es geht in dem Buch. – Muß nicht jedes Wort, jeder Satz als eine Folge von angenäherten, ungenügenden Antworten angesehen werden? Und das ist der Grund, weshalb der Le­ser oder zumindest ich, als Leser betrachtet und in der Folge ‘der Leser’ genannt, weiterliest. Dies ist das bleibende Merkmal der großen, der wahren Romane.
    Da trug ich das Buch zum Buchbinder, es bekam diesen grünfraktalen Einband, den Rücken in Leder, wie sich das gehört. Und so hat es gewartet; es wartete darauf, ein weiteres Mal zur Hand genommen und, nun­mehr für diesen Text, innerhalb von drei Tagen neuerlich durchlebt zu werden. Dazu offenbar wurde ich 41 Jahre alt, um Ihnen zu erzählen, es halte M. Gaiffier – oder tut es M. Aragon selbst? – oder tu’ ich es, den die beiden sich vorstellen?, – am Unerklärbaren fest, so daß Blanche sich Ihnen und uns wieder zeigt: Ich habe die Tür aufgemacht. Zwischen dem Bildschirm und mir hat sich etwas bewegt. Eine Frau.
    Liebe Leserin, lieber Leser! Es gibt für jede und jeden, die oder der nicht französisch lesen kann, ein Pro­blem: Das Buch ist in deutscher Übersetzung vergriffen und wird in absehbarer Zeit auch nicht wieder aufge­legt werden. Das ist eine Gemeinheit, ich weiß. Nur: Weshalb sollen Sie es besser haben, als ich es damals hatte? Suchen Sie, durchstöbern Sie die Antiquariate! – von dieser Illusion gepackt, die die Wirklichkeit der Sprache gleichmacht.

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    Diesen Text schrieb ich vor fünfzehn Jahren, für den SFB, den‘s da noch gab; das war 1996. 2003 übernahm ihn Verena Reichert in Gutenbergs Welt, WDR III. Schließlich, ein Jahr später, wurde er in einer der letzten Ausgaben der >>>> NDL abgedruckt. Und nun steht er hier.
    Er hat von seinem Recht nichts verloren, auch wenn eine Kleinigkeit darin… sagen wir nicht: falsch, sondern: in solch einem Glück verirrt ist, nämlich chronologisch. Denn ich war nicht siebzehn, sondern bereits zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt. Es gab in Bassum oder Syke, in deren Nähe ich bei meinem Vater lebte, keine Stadtbiblithek, die ein solches Buch besessen hätte; es wären da keine Leser gewesen, die es gelesen hätten. Sondern, und ich sehe noch die Treppenstufen, die Bremer Stadtbücherei war es, wo ich diesen Roman fand, der mich ich weiß nicht warum verlockte, ihn mitzunehmen. Nach Bremen ging ich 1974. Na, vielleicht war ich neunzehn. Heute würde ich 21 sagen. Wollen wir uns auf die Mitte einigen? Dann wären wir wieder in dem für mich so entscheidenden Jahr 1975.
    Dabei war es anfangs nur ein Flirt, was da funkte zwischen diesem Buch und mir. Doch irgend etwas störte immer, entweder das Buch oder mich, so daß wir unser nun so langjähriges Verhältnis eher distanziert begannen, gewissermaßen mit Klugheit, fast, als hätte eine Frau es inszeniert und hielte es am Atmen. Normalerweise bin ich stürmisch oder war es, in jedem Fall, damals. Mit 1976 fällt meine Schüchternheit ab.
    Die Lehre ist zuende, >>>> das Versprechen steht, nach dem Zivildienst mein Abitur nachzuholen und dann Jura zu studieren, ‚wie >>>> Kafka‘, sagte ich mir, um mich nicht für korrupt zu halten. Diesbezüglich bin ich schon damals empfindlich gewesen. Es wurde auch nichts draus, aus mir und der Dame der Jurisprudenz. Hab ich‘s denn ernstlich vorgehabt?

    Meine ersten Auftritte, Rezitationen von Nietzsche, Kafka, Baudelaire, dann ein bißchen Eigenes, jenes im Theater im Schnoor, dieses gegenüber in einer Kunstkneipe – die ganze Ochsentour begann, gegen Tür in den Beisls zu lesen, zehn, manchmal fünfzehn Abende im Monat, ich legte eine Kartei von Veranstaltern an, und ich schaffte es, waren die Auftritte auswärts, daß man mir freigab. Morgens um fünf oder halb sechs fuhr ich mit dem – klasse Wort dafür, weil es eine Kastenente war – Dienstwagen von Bremen Nord nach Bremen Süd in das Verwahrheim, in welches Drogenkranke, akute Schwerstalkoholiker, manche mit Korsakow-Syndrom, sowie sozial schwache Alte, die anderswo noch mehr verelendet wären, zusammengestopft waren. Meinen Führerschein, darauf bin ich stolz gewesen, hatte ich mir selbst finanziert; er war eine Voraussetzung dafür gewesen, daß ich diesen Zivildienstplatz bekam. Mein erstes Auto hatte mir für 600 Mark meine Mutter bezahlt, einen Renault Majeur, der schon damals nicht mehr gebaut wurde, aber in Teakholz eingelassene Armaturen hatte,

    aus dem auch das Lenkrad geformt war. Jemand fuhr mir vorne in die lange Schnauze, die Kupplung brach, ich hatte keine Schuld, aber das Auto keinen Kaufwert. Da kam die scheppernde Ente recht.
    Jetzt lernte ich ein Elend kennen, das man auch in Deutschland so nennen darf, ohne sich luxuriös schuldig zu machen. Und das Elend und ich gingen in Clinch, >>>> „regelwidrig“ insofern, als körperliche Gewalt als regulatives Mittel an sich nicht vorgesehen war. Die Alkoholiker sahen das anders, und ich bin nicht der Mensch, nach Hoheiten zu rufen. Die Angelegenheit war schnell geklärt; fortan genoß ich große Autorität. Von diesen Geschichten erzähle ich gelegentlich einmal anderswo; hier geht es ja um Literatur.
    Selbstverständlich schrieb ich zum Zivildienst weiter, manchmal auch während des Zivildienstes. Vor allem aber las ich. Und Blanche ließ mich nicht los. Ich verstehe heute nicht, weshalb ich damals für meine Rezitationen nicht auch Aragon hinzuzog. Tatsächlich tat ich‘s nicht. Mag sein, daß ich mich an ihm abarbeitete, zumal meine Themen andere wurden, solche der Realität, die ich täglich erlebte und auf die mir stilistisch jetzt Aragon einen Blick gab. Man mußte von der „Le Monde réel“ nicht schreiben, daß es nach Holz mit Blechlöffel klang, man konnte sehr wohl elegant sein. Wenn nicht der innere Expressionismus mal wieder überkochte. Dem gab ich nach wie vor nach. Noch die Prosaseiten der kleinen>>>> Marlboro-Sammlung, die ein Ergebnis dieser Jahre ist, sehen aus wie von Schrapnells zerschossen, derart wespenschwärmig stehn da die Punkte zwischen den Sätzen, oft ihrerseits zerhackten. Das konnte so keinesfalls weitergehen. Aber auch der >>>> Thomas mannsche Weg war nicht mehr gangbar, so wenig wie >>>> Kafkas. Das alles wußte ich. Hier nun stand Aragon da und zeigte mir die Richtung. >>>> Erinnern Sie sich? ‚Kafka zur Seite‘? Der Weichenwärter? „Allez par ici“? –
    Die zwei weiteren großen Aragons, die des Spätwerks, folgten Blanche auf dem Fuß: das virtuose „Théâtre/Roman“ und das wie Blanche elegische „La mise è mort“, das ich ebenfalls neu binden und mit Lederrücken versehen ließ. Auch daraus, aus den – La mise à mort auf Deutsch: – „Spiegelbilder“n, eine kleine Passage:

    Er sagte, wenn man die Küsse zusammenzählte, die man nicht
    gegeben hat, nicht empfangen hat, nicht jene, die man empfangen und gegeben,
    nein, die, zu denen es nicht kam, die totgeborenen, die vermiedenen, die
    aufgeschobenen… In seinen Augen war seine Frau schön, ich fand das nicht.
    Ach so, ich habe meinen Satz von den Küssen ja gar nicht beendet. Das ist wie
    mit den Küssen selber. Er sagte, wenn man sie alle zusammenzählte,
    würde einen das Unglück zermalmen.
    Aller literarischen Eleganz zuvor, die ich bewundert hatte und von der ich lernte, hatte etwas Antiquarisches angehangen, so, wie man von einem Mann sagt, er sei von Alter Schule, sehr hochachtungsvoll und geschmeichelt, aber irgendwie auch, als stünde er schon jenseits des Grabes oder sei zumindest doch Zeitzeuge noch der Anciennität, – davon war hier gar nichts in Aragons Modernem, der, wo >>>> Huxleys Witz, scharf vor Empörung, den Zynismus streift, liebevoll bleibt:Wäre Krieg, würde sich bestimmt jemand entschließen, sie zu heiraten. Aber anfangs lag ihr gar nichts daran. Ich meine, geheiratet zu werden, zumal wegen des Krieges. Notgedrungen. Wäre ja auch ungewöhnlich. Bedenken Sie, 1944 war sie drei Jahre alt.

    Mehr noch als der parlierende Ton, den ich von dort übernahm, faszinierte mich indes, wie leichtfüßig sich in ihm komplizierteste Romangeschehen erzählen ließen, Romankunst, die derjenigen Thomas Manns und Vladimir Nabokovs in gar nichts, wirklich gar nichts nachsteht. Von >>>> „Ada“ abgesehen, ist Aragon sogar der modernste dieser drei. Vor allem umfaßt sein literarisches Werk die Eckdaten der zeitgenössischen Literatur, und wie er begann, an der Seite Bretons (aber seien wir ehrlich: ihm zu Füßen), nämlich als Surrealist, so endet er dann wieder, aber auf einer höheren Stufe, die sämtliche Ebenen des Realismus durchschritten und dafür sogar Stalin (abermals: zu Füßen) gedient, sich dann aber von ihm gelöst hat, um in einer sprachlichen Freiheit anzukommen, die ihresgleichen sucht und dem Roman wirkliche Zukunft erschrieb, wobei er ganz im nebenbei, als stürzt’ man mal eben einen Café, die Postmoderne vorwegnimmt. Dann tritt er aus der Bar und geht weiter.

    [P.S.:
    Die Geschichte der Literatur ist auch ein Staffellauf und ähnelt dem Weg des olympischen Feuers: der Läufer vorher gibt es an einen nach ihm weiter. Als Aragon nicht mehr konnte, war ich dran. Und auch auf mich wartet schon wer.]

    1. Lebenslang Wie schön Sie das gesellschaftliche Desiderat eines ‘lebenslangen Lernenmüssens’ als absurd vorführen. Die ‘Prägung’ ist eine irreversible Form des Lernens & alles, was nach ihr kommt, sind mehr oder weniger Feinkalibrierungen ein & derselben.
      Eine dankenswert feine Reihe, werter Herr Herbst!

  2. Eine wunderbare Lockung, die mich geradezu nötigt, das Buch zu lesen. Danke dafür!

    (Und: Sie m ü s s e n diese Serie als ein “Stück” publizieren. Einmal. Bald.)

  3. Wunderbare Prägungen ! Ja, tatsächlich… Wie wunderbar alle Ihre Texte zu lesen !Ihr Text über Aragons Blanche ist an sich schon eine grossartige Geschichte.

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