Das HinreiseJournal des Mittwochs, dem 30. November 2011. Berlin und Frankfurtmain. Mit einer Überlegung zur Collage und dem Geheimnis eines Klangs, das hier nur j e t z t gelüpft wird: „doch um die Frucht zu schützen“. Sowie eine kleine Feier der großen Stadt.

4.57 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Latte macchiato. Morgenpfeife.>>>> Ich werde mich jetzt gleich an die Urheberrechtsangaben machen, d.h. die Zeitlängen der Zitate und Musiken und ihre jeweiligen Quellen müssen, für GEMA und VG Wort, bekanntgegeben werden <<<<Damit habe ich mich gestern fast noch den gesamten Tag beschäftigt; zudem war, nachdem die mp3 des >>>> Hörstücks an IW geschickt, von ihr empfangen und abgehört worden war, auf daß sie ihr letztes Okay geben konnte, das nunmehr letztgültige Tonfile noch einmal ganz abzuhören und, wozu es ein kleines, Hash genanntes Programm gibt, eine Prüfsumme zu errechnen, die mit der beim Empfang der Sendung vom WDR zu errechnenden Prüfsumme übereinstimmen muß, um das erhaltene Tonfile für identisch mit dem verschickten ansehen zu können. Da rufen Sie aus: Was für ein Satz! In der Tat. Und das schon am s o frühen Morgen. Indessen zeigt er prima an, wie kompliziert die Dinge sind, die hinter den glatten Flächen lauern; wer wollte, der könnte tatsächlich versuchen, dem WDR ein UBoot mitzuschicken, das sich, ins Trojanische Pferd der Töne versteckt, dort in das Intranet einschleust und all die Rundfunksoldaten in ihrem wohlverdienten Schlafen in Kampfespausen meuchelt. Also Hash ist etwas, das ich einseh, denn die Welt ist nicht gut; zwar auch nicht böse, aber eines mal und das andere wieder, je nachdem, ob man Hunger hat und ob welchen. Zudem sind mit den Urheberrechten Fragen verbunden, über die IW und ich gestern noch sprachen am Telefon, zum Beispiel: – was ist mit meinen Klangcollagen, die durchaus eine Grundlage meiner Hörstücke sind? Wie sind die rechtlich zu behandeln? Die junge Klassische Moderne würde behaupten: als Kunstwerke ihrerseits, deren Ingredenzien halt Steine nicht und nicht die Liebe, weder Holz noch Farbe sind und also „Natur“ nicht, sondern bereits Hergestelltes, andere Klänge, anderer Kunst. Wir hatten diese Diskussion hier schon öfter. Besonders das Finale des Hörstücks legt Monteverdi, Peri, Puccini und auch drei Sekunden einer Komposition Kraussers auf- und ineinander, sie reagieren miteinander und auf die Sprache; IW bestätigte, man höre sofort, daß das von mir stamme, diese Klangcollagen seien längst kenntlich, identifizierbar, zumal im Zusammenspiel mit dem verwendeten O-Ton. Zu diesem verrate ich Ihnen noch ein kleines Geheimnis:
Während der O-Ton-Aufnahmen zu meinem >>>> Romantikstück, für die ich vor fast genau einem Jahr Berliner Nächte durchschweift und mitgeschnitten hatte, gab es einen langen Spaziergang allein zur Arbeitswohnung zurück; fast allezeit lief der Recorder. Schließlich in den ersten Hinterhof getreten (quietschend schloß sich die große Tür der fast nur von Fahrrädern genutzten Einfahrt und hallte im überdachten Durchgang), wurde es still. Die kleine Günanlage drinnen, schweigend die Bäumchen, rauschend bisweilen Gebüsch; bis auf eines, erinner ich mich, waren alle Fenster dunkel vor Schlaf, und oben standen die Wolken geschlossen zwischen mir und den Sternen. Es war, als wäre ich in die Abgeschiedenheit-selbst getreten. So stand, wie die Wolken, auch ich da. Und plötzlich drang ein Laut wie von Katzen, die sich im Heimlich gefunden, um es zu zerreißen, so schreiend fern, so jaulend herab, daß ich noch blieb und lauschte, die Mikros in den Ohren, und wartete. Und wieder. Und noch einmal. So fast fünf Minuten lang. Ich hörte nur die Frau, nicht den Mann, sie aber, ja, inständig, immer noch anhaltend; das war gar nicht sie, die da schrie, das war allein ihre Möse, die bat, die bettelte, gierig weinte: „weiter!“, und aufgelöst war alles Ich. Es zerflatterte in der Stille, als es wohl endlich saugte, erschöpft zwar >>>>       
doch um die Frucht zu schützen, auf die es hinauswill,

das in die Steine prasselnde Meer,

        ringsum –Nun ist, kann man sagen, dieser einen Nachbarin Glück – oder der Besucherin eines Nachbarn – Kunst geworden; eine Art Hymne durchhallt dieses Hörstück, nicht jedem kenntlich, darum geht es auch gar nicht; doch aus den fernen Lustschreien wird in ihm zum ersten Mal das Thema der Manon entwickelt, es steigt aus ihnen auf, als gehörten sie beide zusammen, die durchgevögelte Frau und Puccinis Manon. Was in sich ja auch stimmt, und vielleicht hatte sich der nächtliche Beischlaf tatsächlich in eine LiebesObsession geschmiegt, auf der er weiter- und weiterglitt, lang über sich hinaus. Ich hatte immer gewußt, daß ich diese Originaltöne verwenden würde, nur bis neulich nicht, wo. Dann ging es mir auf, als ich nach einer „Atmo“ suchte, mit der ich die Probenszenen unterlegen konnte. Jetzt wissen Sie bescheid. Und: Nein, der Hall ist n i c h t künstlich. Keiner meiner Klänge wird elektronisch bearbeitet, ich erlaube mir nicht einmal einen Phaser, nichts wird verfremdet, sondern die Kunst entsteht – und soll entstehen – alleine aus den Schnitten, die mein Gehör verlangt. Deshalb funktioniert auch der wahrscheinlich gewagteste von ihnen, ohne daß man ihn für technisch halten würde: wenn aus dem Hochdruck des Rheingold-Vorspiels völlig organisch die Manon-Arie strahlt, in die der Wagner dann übergeht, gänzlich – (Ich habe eine Klangkunst im Kopf, die rein aus urheberrechtlichen Gründen nicht realisierbar, bzw. realisierbar ist allein für eine Zukunft, die in siebzig Jahren, frühestens, beginnt) –

Um acht Uhr muß ich hier los, zum ARD Hauptstadtstudio; dort spielen wir die Tondatei ins System; die Techniker übertragen es per Breitband (BAFF) nach Köln, und ich radle zurück, um erst einmal meine Fahrkarte nach Frankfurtmain zu kaufen, bevor ich mich um kurz nach zehn Uhr auf den Weg machen werde. Vorstandssitzung im >>>> Literaturforum des Mousonturms. Während der Zugfahrt wird weiter Böhmer gelesen; das muß ich sowieso tun, wegen der Vortrags in elf Tagen, der nun zu schreiben ist. Lesen kann ich auch in Bewegung. Vielleicht tippe ich während der Fahrt auch ein wenig und schreibe, wovon ich Ihnen gestern ankündigte, daß ich davon berichten wolle: >>>> „Baise-moi“, was, geben Sie‘s zu, zu dem erzählten O-Ton paßt wie, bis zur Handwurzel fast, vier meiner männlichen Finger in einen weiblichen Mund, der sich ergibt: hilflos dann, bittend, der Leib. Wehe da dem, der versagt. „Ich möchte“, sagst Du, „daß man die Form von mir abreißt.“ Von einer Erlösung leben zur nächsten.

9.14 Uhr:
Ich bin bereits seit einer Viertelstunde zurück, die Datei ins System einzuspielen, ging ratzfatz; und um neun wird sie gleich übertragen werden. Vollzugsmeldung, sofort nach meiner Rückkehr, an die Redakteurin telefoniert, Rapport des Adjutanten, kann man sagen – was übrigens ein feiner Novellentitel wäre. À propos dieses quasiSoldatischen will ich etwas nachtragen, das mir während der Fahrradfahrt durch und durch den Kopf ging: Anders als Krausser, der Potsdam die schönste Stadt Deutschlands nennt und sie eben deshalb für so lebenswert hält, meine ich, daß Schönheit überhaupt keine Kriterium für die Lebenswertigkeit einer Stadt ist; vielmehr muß das Fülle sein. Ich denke auch, daß sich Kraussers Emphase letztlich durch die unmittelbare Berlinnähe erklärt; ähnlich wie Spandau läßt sich auch Potsdam, wiewohl juristisch von ihm getrennt, als einen weiteren Kiez dieses Berlins zumindest fühlen, als einen Außenkiez meinethalben, der halt, wie jeder andere Kiez, sein eigenes Centro historico hat (menschlich höchst sinnvoll für eine Stadt, deren eigentliche Mitte „Bannmeile“ genannt ist).
Was eine lebenswerte Stadt mehr aber als Schönheit braucht, ist eine ausgeprägte Subkultur bei gleichzeitigem Zugang zu jeder Form der Hochkultur. Wenn d a s gegeben ist, kann man bleiben; wo es fehlt, muß man flüchten. Nichts gegen Sauberkeit, aber eine Stadt braucht auch den Dreck, braucht aufgerissene Straßen und Leerstand, braucht Nistplätze, vor allem, für Spatzen, ohne die sich die Halle der Seelen leert, braucht Fledermäuse und >>>> Füchse, mittendrin. Sie braucht Stricher und Nutten, braucht Popper und gelackte Banker, braucht die „einfachen“ Angestellt:innen und Arbeiter, braucht Verbrecher; braucht Bedrohungen des Nachts und stille Flüsse, Kanäle, Teiche, brauchte ICEs, die sie sichtbar, und möglichst erhöht, durchfahren; braucht auch die Blechlawinen mitten darin und M a s s e n, damit die vielen Parks, die sie auch hat, in die Entfaltung ihres Blattwerks kommen; braucht Hundedreck – immer wird unterschätzt, wie wichtig er für den Kreislauf ist der Metropolen; braucht Penner und, wenn sie s e h r gesegnet ist, Hausboote; sie braucht Ecken, in die kein Mensch sich, der beruhigt weiterleben will, traut, braucht auch Vampire und Werwölfe, wenigstens Wölfe, von denen nur geraunt wird; braucht Eichkatzerln, Hunderte, braucht ungewollte Schwangerschaften, Handgreiflichkeiten und Polizisten; braucht die Bäcker, die schwarz ihre Brötchen backen, es duftet sehr früh morgens nach ihnen, als bereitete sich das gesamte Paradies auf das Weihnachten vor, braucht Lausejungs in Scharen (und Lausejunginnen), braucht meinetwegen sogar die Fußballspiele in Stadion, die nicht vor die Stadt verlegt worden sind; braucht den Protz, braucht achtzehn Meter lange Limousinen und rote Teppiche vor den Behörden –

ich denke, ich werde ein Gedicht daraus machen, ein langes, fast so langes wie von Böhmer; nicht Hymne vielleicht, aber F e i e r der Stadt. Jetzt aber pack ich mein Zeug zusammen. Ist diesmal nicht viel.

(Und über den Tod dachte ich nach, unser Sterben, und daß es wohlfeil sei, davon zu sprechen, man dürfe es nicht verdrängen, sondern müsse es in unser Leben integrieren. Doch dazu wirklich später mehr, sowie von einem Brief, der an eine Lehrerin meines Jungen geschrieben werden sollte.)

11.35 Uhr:
[Berlin-Gesundbrunnen.]
Nun sitze ich bereits im ICE, in sieben Minuten geht‘s los erstmal bis Leipzig, dort wird umgestiegen, dann Richtung Westen. Um 16.33 Uhr, sollte es keine Verspätung geben, werde ich in Frankfurtmain ankommen und sofort zum Mousonturm weiterfahren, wo ich auch Leukert, den Freund, wiedertreffen werde; es gibt ein bißchen was zu besprechen.
Gefrühstückt wird jetzt gleich, hab mir eine Art Ciabatta mit unterdessen sehr trockenem, schon hartgewordenem Schinken belegt, Prosciutto, nicht das deutsche Zeug, bei dem immer nur der Rauch schmeckt.. Rauchen tu ich anders. – Dazu die Böhmer-Lektüre ff. Und meinen auf Fahrten obligaten Liter Milch. (Schnell noch die zu beantwortende Mail aus dem Postordner ins OpernOffice kopiert, damit ich vom Netzanschluß unabhängig bin, der während der Zugfahrten nie ganz zuverlässig und außerdem diesmal unnötig ist, weil ich ja vor allem lesen will).

3 thoughts on “Das HinreiseJournal des Mittwochs, dem 30. November 2011. Berlin und Frankfurtmain. Mit einer Überlegung zur Collage und dem Geheimnis eines Klangs, das hier nur j e t z t gelüpft wird: „doch um die Frucht zu schützen“. Sowie eine kleine Feier der großen Stadt.

  1. Korrektur “Mit einer Überlegung zur Collage und dem Geheimnis eines Klangs, das hier nur j e t z t gelüftet wird……….”
    bitte nicht “gelüpft”- oder etwa doch?
    Grüße

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