8.57 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Das ist mit irrer Gewißheit ein komisches Bild: daß ich am Laptop sitze und alles, was ich tippe, im mer gleich mit der Lupe am Screen überprüfe; auch manche Tasten muß ich mit der Lupe suchen. Wobei meine Tipperei wiederum so automatisiert ist, daß vieles allein aus der Mechanik meiner Schreibroutine heraus läuft; aber Vertipper sind zu korrigieren, selbstverständlich. Erschwerend ist, daß ich schwarze Lettern auf hellem Screengrund sehr viel schlechter erkenne als weiße Lettern auf schwarzen Tasten. Fantastisch allerdings ist bereits meine Fernsicht: ich sehe schärfer als je mit den Kontaktlinsen zuvor, auch wenn sich der Blick im mer mal wieder verschleiert; vor allem direkt nach dem Aufstehen war das Bild verschliert – was eigentlich gut nachvollziehbar ist, weil die Wunde im Auge ganz sicherlich nicht nur näßt, sondern auch noch Teilchen ausgespült werden, die von der zersetzten organischen Linse noch im Auge verblieben sind. Schmerzen übrigens habe ich keine, auch schon gestern, anders als vorgestern, nicht – nicht also nach der Operation des zweiten Auges, die allerdings länger gedauert hat als die des ersten: sie war etwa doppelt so lang. Diesmal sah ich auch die Spritze auf das Auge zukommen und sah ihre Spitze in das Auge hineintauchen. Mir schien das kleine Wellenringe auszulösen, wie man sie vonm Steinchen kennt, die ins Wasser fallen. Allerdings war auch das komplett schmerzlos. Dann zerfiel das scharfe ins Auge gerichtete Liht wieder in sämtliche Spektralfarben, und die psychedelischen Farbspiele begannen. Insgesamt bekam ich diesmal sehr viel mehr bewußt mit als bei der ersten OP, worüber ich insgesamt ausgesprochen froh bin. Ich bin ja auch beim Zahnarzt gern sozusagen sehenden Auges dabei; was passiert trägt dann stets die Illusion der eigenen Entscheidung, und wenn etwas schmerzt, dann habe ich das so gewollt. Für meine Psyche ist das ungemein wichtig; eine Komplettnarkose ist für mich, insofern, indiskutabel.
Nach der OP hielt ich es anders als am Vortag und rannte nicht gleich herum, um mich dann, weil der Kreislauf ein Rechzt einforderte, ein bißchen erschöpft irgendwo hinzusetzen, sondern das tat ich gleich, nachdem ich die Klinik verlassen hatte, nebenan bei Starbuck’s auf der Kö, stopfte meine Pfeife, rauchte vor mich hin und besah die schönsten Beine, die vorbeiflanierten. Es war sehr warm in diesem Düsseldorf, das mich mit solcher Freundlichkeit empfangen hatte, auch architektonisch und in ihrer ganzen Innenstadt-Anlage.
Gut, die Fernsicht ist bereits ausgezeichnet; allerdings, sowie es sehr hell wird, tut sie weh. Die dunkle Sonnebrille ist unumgänglich. I)n einer halben Stunde breche ich zu meiner hiesigen Augenärztin zur Nachkontrolle auf: nunmehr wird auch der Verband vom zweiten Auge abgenommen. Damit kann dann der Akkomodationsprozeß der neuen Augen erst eigentlich beginnen.
Noch ein paar Mails sind zu beantworten, und ich hoffe, daß ich’s heute schaffe, meine Mahler-V-Kritik über das Konzert vom Son nabend zu schreiben; denn am Abend werde ich bereits in dem nächsten Konzert sein.
Zweiter Latte macchiato. Ich muß meine BVG-Verbindung zum Potsdamer Platz heraussuchen, weil ich einäugig nicht Fahrrad fahren will: ich kann noch nicht räumlich sehen, da wär mir das zu riskant.
15.14 Uhr:
[Zurück in der Arbeitswohnung.]
Seit dreieinhalb Stunden durchstoßen mich irrsinnige Lustgefühle – seit das zweite Auge ohne Verband ist. Welch eine Leuchtkraft die Welt hat! Welche Farben! Es ist, als spazierte ich durch einen enormen 3-D-Film.
Diesmal, als der Verband abgenommen wurde, gab es keine weißlichen Schlieren, sogar die Nähe des Lesens vervollkommnete sich. Nachuntersuchung. Ergebnis: 100%ige Sehkraft und -schärfe. Das habe sie, sagte die Ärztin, noch nicht erlebt, daß jemand am ersten Tag der Operation derart gut sieht. – Sie hab mir eine Seite in verschieden großen Schrifttypen zu lesen. Zur Nr. 1 sagte sie: „Das ist die kleinste Schrift, die wir hier überhaupt haben. Ich selbst kann sie nicht ohne Lupe lesen. Das ist ganz erstaunlich bei Ihnen.” Ich hätte keine Schmerzen, da müsse ich doch die Antischmerz-Tropfen nicht nehmen, fragte ich, oder? Bitte, doch. Sie seien entzündungshemmd. „Vergessen Sie nicht, die Augen sind noch offen, da sind zwei kleine Wunden, die Bakterien mögen. Also bitte, von beiden Medikamenten täglich je drei bis vier Mal, etwa vier Tage lang.”
Als ich hinaus auf den Potsdamer Platz trat, hinein in die Überwölbung des Sony-Centers trat, wurde mir plötzlich geradezu schwindelig: derart plastisch war die Welt geworden – und ist sie immer noch. Spontan beschloß ich, auf den Prenzlauer Berg zurück zu Fuß zu gehen. Abermals alles wie ein Seh-Rausch, Rauschen von Farben und Konturen.
Abstecher ins Konzerthaus zum Pressechef Birkelbach, um mich persönlich noch einmal zu entschuldigen, daß ich die Mahler-V-Kritik noch nicht schreiben konnte. Selbstverständlich: Bericht zur OP; er seinerseits liest gerade, und ist ziemlich begeistert, >>>> Die Fenster von Sainte Chapelle. Was mir selbstverständlich ausnehmend gefällt.
Nach diesem Besuch einen weiteren, nur ein Stockwerk höher, bei meiner Freundin J., mit der ich auf der Dachterrasse plauderte. Dann zu Fuß weiter und immer gestaunt und gestaunt. Als ich dann in die Arbeitswohnung kam, war mein Junge bereits hier, mit seiner Freundin, die jetzt deutlich junge Frau wird. „Sie hat jetzt Ohrlöcher, Papa.” „Ja, das habe ich gerade gesehen.” Sie: „Und du hast jetzt wirklich künstliche Augen?” „Künstliche Linsen. Jetzt bin ich ein Cyborg.” Und beide lachten.
Ein kleiner Wehmutstropfen freilich bleibt: Der Bereich zwischen 50 und 70 cm Entfernung vom Auge wird voraussichtlich unscharf bleiben; das entspricht dem Abstand zum Laptop. Um mit ihm gut arbeiten zu können, beraucht es dann doch noch eine Lesehilfe. Vielleicht schärft sich das Auge auch hier nach, viellecht nicht. Aber das ist, ange,im Wortsinn,gesichts des sonstigen Seh-Rausches eine schon absurde Kleinigkeit.
Spargel kocht, Kartoffeln kochen, der Schinken ist schon auf den Teller gelegt. Wenn ich gegessen haben werde, setz ich mich an die Mahler-Kritik. Un um sieben geht’s bereits >>>> wieder ins Konzerthaus in die Aufführung des großartigen aber unfaßbar selten vorgetragenen Notturnos von Othmar Schoeck. Dazu Beethovens schon grausam schönes op. 132.
15.53 Uhr:18.54 Uhr:
Gerade noch >>>> die Mahler-Zagrosek-Rezension fertigbekommen und eingestellt. Jetzt aber auf, gleich kommt Brossmann, der mich zu Othmar Schoeck begleitet. Doch vorher noch ein wichtiges PS:
Ich danke Lan an Sìdhe. Da sie symbolische Opfer nicht akzeptiert, habe ich gestern nach der zweiten OP in der ersten Kirche, die auf meinem Spazierweg zurück zum Bahnhof erschien, Mariae eine Kerze entzündet. Denn Frauen, irgendwie, sind doch Frauen. Göttinnen gehören dazu, auch wenn es Geister, weibliche, sind.
Laser-OP Ist das nicht der Pop der Augenoptik?
@Henze. Klar, daß Sie armer Mensch auch hier etwas zu nölen finden. Sie müssen ein rein furchtbares Leben haben. Sind Sie derart einsam? Vom Schicksal sonstwie verfolgt? Ein Gejagter, Gequälter, Gefolterter gar? Von den Frauen ignoriert oder von den Männern, falls Sie schwul, oder sogar von den Tieren, falls Sie Sodomit sind? Oder leiden Sie unter permanenter Migräne? Fehlt Ihnen eine Niere, haben Sie schweres Asthma?
Irgend so etwas muß es sein.
Ja, meine Freundin hatte die OP zur Fussball-WM, die Trikots, das Gras, die Farben, sie war auch wie im Rausch. Die Welt in Technikolor. Schön, dass es so gut verlaufen ist!
Augenmensch Nach der Übersetzung Ihres Romans “In New York” dachte ich mir, Sie seien vor allem ein Augenmensch, denn die Beschreibungen sind der Kern dieses Werks. Da die Operation gut verlief, kann man denken, dass Sie jetzt die Welt noch tiefer betrachten werden, worüber ich mich sehr freue!!!!
Ich wünsche Ihnen eine perfekte Genesung !
(Dass Sie ein Augenmensch sind, ist zum Teil falsch; Sie sind ebenfalls ein Ohrenmensch!!)
Schönes Bild eines Bei-Sich-Seins, das ohne Augenbinde.