„Kein Abend ohne Schubbe”, jambelte ich, als ich als allererstes Jens Schubbe in der Philharmonie traf, der als Dramaturg für einige der mutigsten Opernveranstaltungen am >>>> Konzerthaus Berlin mitverantwortlich zeichnete; er hatte ein Ohr für meine Art Humor und entgegnete sachlich: „Gestern abend, >>>> Arditti, da haben Sie etwas verpaßt.” „Es geht einfach nicht alles”, erwiderte ich, „seit >>>> Anfang der Leipziger Buchmesse habe ich meine Familie kaum mal zwei Stunden gesehen… wenn es hochkommt.” „Das Schicksal a l l e r Festivalbesucher.” Na gut, Schicksal ist als Wort ein bißchen hochgemetzt, aber im Prinzip stimmt es. „Ah, S i e sind Herr Herbst!” atmete die junge Dame am Pressetisch, man ist einfach als publizierender Netzbürger wer andres als in der Wirklichkeit, in der man Geruch hat, Stimme hat und außerdem dadurch, je nach EmpfängerMentalität, erschreckt oder berückt, daß man sich gibt, wie man ist (wie aber ist man? – stimmt a u c h wieder) – jedenfalls kriegte ich einen Kuli geschenkt. Das kann man als Korb sehen, aber auch als Aufforderung, meine Adresse aufzuschreiben. Tatsächlich, lassen wir den kleinen Flirt einmal beiseite, hatte ich meinen Stift am Schreibtisch liegengelassen und hätte mir ohne jetzt dieses „Geschenk” keine Aufzeichnungen machen können.
Die ich mir trotzdem nicht machte – bzw. waren es nur wenige, weil >>>> Heinz Holligers Musik, der ich zum ersten Mal begegnete, als ich fünfzehn war (>>>> „Siebengesang”), derart fesselnd ist und dabei von einer großen Schönheit, die sich niemals zerfasert… erstaunlich hier, weil Tonscherben die kurzen Motive ja gerade ständig zersplittern läßt; doch ist dabei gar keine „Entropie”, eher stellt sich im Ohr das Gegenteil her: Zusammenhang, schwingendes Kontinuum, wenn auch ohne ein auf Anhieb, schon gar ausgeführt identifizierbares Thema. Die Musik beginnt mit einer Art Schlag, und sofort ist die ganze Aura dieser „Orchester-Fragmente” genannten Komposition da: schon steigt aus ihr eine seltsam „weltmusikalisch” von Percussion durchsetzte Seligkeit auf, dreiklängig, hatt’ ich den Eindruck, breiter werdend, die Bläser in Wellen, die sich geräuschhaft auflösen, ja zerflirren. Eine Peitsche knallt. Es wird sehr still, Musik wie eine Handlung, die sich immer wieder erheben möchte, aber immer wieder wegsinkt. Abermals der Versuch einer großen Geste: nicht ernüchtert, nur vorsichtig: so wird erwidert. Die Bläser blasen kräftig, aber stumm, man hört alleine die Atemgeräusche. Für diese Art Musik ist der Saal der Philharmonie, der gut besetzt, wenn auch nicht ausverkauft war, wie geschaffen (n o c h besser, überhaupt den akustisch perfekten Saal hat die Kleine Philharmonie, aber für sie war die Besetzung zu groß)… Sahnig die Celli dann, erzählend, wegbrechend… ein Tasten über die Trommel; und Heinz Holliger, unterdessen alt geworden, aber weißGöttin viril, hebt die Hände mit zählenden Fingern… Es gibt in Tonscherben absolut keine Redundanz, aber die Konzentration führt nicht ins Abstrakte, sondern alles ist e i n Klang.
Damit ging es schon mal los.
Das waren knapp fünfzehn Minuten, mehr nicht, überhaupt war das Konzert zu kurz. Aber nach dem Kessler, der es abschloß, wurde mir klar, weshalb man eine Pause da hineintat. Der Unterschied wäre, Holliger und Zimmermann hier, Kessler dann da, eine zu unsensible Dramaturgie ja Blasphemie gewesen. Zumal Zimmermann mit dem R e l i k t eines Sinfonieorchesters operiert; seine letzte Orchesterkomposition vor dem Freitod (was soll an so etwas „frei” sein?) hat Lücken in die Besetzung geschlagen, man schaut die Ruine bürgerlichen Konzertlebens an, doch die Musik, percussiv wie von einem Generalbaß unterlaufen, gibt Naturlaute vor, repetierend, übrigens, was hier durchaus für „meditativ” stehen mag, trotz der Jazz-Elemente und dem Akkordeon quasi als Orgel (kaum spürbar); auf eine vertrackte Weise erinnert Stille und Umkehr an Debussys Faun: Luft, die über Getreidespitzen flirrt. Als wäre die Welt in diesem warmen, schwerwarmen Mittag stillgesetzt. Von der Seenfläche steigt’s dunstend, doch ganz k l a r hinauf. Fernrufe zur Flöte, Grummeln in den drei Kontrabässen. Eigenartig märchenhaft, von den Depressionen, die Zimmermann zur Zeit der Komposition gequält haben müssen, gar keine Spur. Wahrscheinlich ist diese diejenige, die dem Thema des gesamten Festivals am nächsten kommt: Utopie, aber n i c h t als Verlorene, was das Programmbuch in Klammern hinzusetzt. Nein, sondern: als erfüllte. Selten habe ich solch ein Einverständnis gehört und selten wurde Adornos Satz, es sei kein wahres Leben im falschen möglich, derart sinnlich widerlegt. In der Musik i s t es möglich. Vielleicht ist das überhaupt des Wesen aller guten Musik, es, ohne daß sie lügen müßte (es verkitschen müßte), zu beweisen: indem sie’s fühlbar macht. Indem ich Stille und Umkehr soeben wiederhöre, möchte ich eigentlich weinen. Nein, das ist n i c h t sentimental, und auch kein Kitsch. Man wird nur, Wundern gegenüber, sehr bescheiden. Und dankbar. Es hat seinen Grund, daß ich Zimmermann >>>> dort einen Theologen nannte. Nichts hätte man direkt hiernach mehr aufführen dürfen; wir b r a u c h t e n die Pause. Auch wenn kaum eine halbe Stunde vergangen war.
Dann >>>> Thomas Kesslers Utopia. Ein kleines Kaliber, das mag sein, auch wenn die Ruine wieder restauriert und um Moderne in Form vieler Laptops, die bei den Musikern standen, zum Fortschritt zurückschritt, der ohne Zitate nicht denkbar zu sein scheint. Über die Laptops konnten die wichtigsten Stimmen sich im Raumklang modulieren, die Komposition, was bei Kessler nicht wundert, inszeniert die Mehrfachkanäle: oft war nicht mehr auszumachen (und sollte es auch nicht), woher ein Klang denn nun wirklich kam. Nicht nur aber Elektronik war im Saal verteilt, sondern auch Orchestergruppen spielten auf den Rängen dem Konzertpodium zu; Utopie hier, wenn denn schon, war Dezentrierung. Die Formulierung klingt theoretischer, als es der sinnliche Eindruck vermittelt, der einen in dieser Musik durchaus baden ließ, bisweilen auch mit untergetauchtem Kopf. Es war da viel Lärm, viel Geschehen. Was den deutlichen Nachteil hat, daß man in der enormen Zahl der angespielten Motive auch als „Eingeweihter” schnell mal die Übersicht verliert und eigentlich zu einer ganz Kesslers Utopie entgegengesetzten Meinung findet: daß die erstrebte Autonomie jeder Einzelstimme („jedes einzelne traditionelle Orchesterinstrument” ist, schreibt Kessler im Programmbuch, „mit einem individuellen live-elektronischen Setup […] verbunden und bildet damit eine autonome Einheit mit eigenem Lautsprecher”) dem Verständnis eines auch nur gefühlten sinnvollen Ganzen entgegensteht; einmal abgesehen davon, daß die Realisierung der Idee auch der Monitore bedarf, bzw. dem höchst entfremdeten Moment, Musiker mit Kopfhörern spielen zu lassen, die ihnen wenigstens einen Eindruck von dem vermitteln, was sie da gerade zu tun im Begriff sind. Als Hörer wiederum hält man sich in dieser Art von Gesamtklang geradezu dankbar an einer aufsteigenden Gregorianik fest, einfach, weil man sie wiedererkennt, auch wenn sie sich sehr schnell elektronisch noch weiterverfremdet; ebenso an Fragmenten, die aus der Spätromantik herausklingen. Undsoweiter. Unterm Strich erlebten wir deshalb ein zwar durchweg spannendes, nie langweiliges Experiment von permanent geschichtetem Klang, kompositorisch gute Musik, ich will das gar nicht bestreiten. Aber die Entindividuation, die hier in gutster Absicht als Individuation, ja als eine Emanzipation angestrebt ist, kommt über ihre klangliche Behauptung letztlich nicht hinaus. Wie laut auch immer sie sich einfordern und welche Mittel, ob „Ringmodulator”, ob präpariertes Klavier, sie technisch einsetzen kann: auch dreihundert Lautsprecher hülfen hierbei nicht weiter. Das Publikum, übrigens, hat das anders gesehen. Denn der Applaus ließ alle Stille und Umkehr vergessen.
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