Das Ungeheuer Muse (17). Orpheus & Eurydike. DIE GENERALPROBE: Donnerstag, der 4.2.2010. Live aus dem Konzerthaus Berlin. Mit Glenn Gould.

Glenn Gould, “A Festschrift für Ernst Who?”, 1974/75

es stand in der frühe ein nebel lag
unter der lilanen sonne vorm tor
warn die päonien erblüht ein gesicht
aus dem blättrigen dunkel von nacht

sagte gib deine schläfe den hals
sagte ich bin deine ader
du wirst mir die daunen
sagte schütteln

ich nehm mir dein leben
ich geb dir die glut
schüre den atem
mir um die Füße

zu wärmen sie nachts bei dem andern

[>>>> zweites Orpheusgedicht]

Vormittags, Arbeitswohnung:
[Probenmitschnitt, Orpheus & Eurydike, 3. Akt.]
Es wird noch aus anderen Gründen als sanglichen spannend werden. Gestern nacht, nach der Probe, gab es ein leises Unbehagen wegen einiger der projezierten Filmbilder. Sterbende Tiere, gar erschossene, sind immer noch etwas, das, trotz unserer entsetzlichen Schlachthöfe, in die Gemüter gehen. Wiegand assoziiert sie ganz deutlich mit den Projektionen zum Krieg, hier dem Ersten Weltkrieg, in den Alma Mahler ihren Geliebten ja hineingeschickt hat, damit “er sich beweise” und aus dem er verwundet, möglicherweise traumatisiert zurückkam. Interessanterweise berühren uns Bilder sterbender Menschen sehr viel weniger als Bilder sterbender Tiere: indem Wiegand – vorsichtig, übrigens – das hier wirkende Tabu anrührt, erfaßt er Krieg sehr viel eher unmittelbar, als übermittelte er tatsächliche Kriegsbilder. Hierüber wird diskutiert werden müssen. Eine andere, nämlich die ästhetische Frage, ist, inwieweit dieser Kontext auf Křeneks Oper bezogen werden kann, sprich: an welchen Stellen Wiegand was projezieren läßt. Dabei sind Formklammern mitzudenken, schon um pures Illustrieren, etwas des brutalen Anfangs von Akt III, zu vermeiden – das, was Adorno “Verdoppelung” nennt. Und d a neben ist noch zu fragen, inwieweit die Projektionen ablenken, d.h. die Konzentration auf die seelische wie musikalische Logik des Stückes stören. Noch ist da gar nichts ausgemacht, noch ist alles im Stadium des Enstehens. Immerhin führen die Projektionen, oder führt ein Teil der Projektionen, vom allzu-Autobiografischen weg.
ANH, 10.27 Uhr.

15.14 Uhr:
[Konzerthaus, Großer Saal.]Ruhig im Haus, man hört die Barainsky mit dem Korrepetitor in einem der Räume, fern, proben, im Großen Saal wird weiter am Licht gearbeitet. Karsten Wiegand hoch oben auf dem Gerüst: letzte Einstellungen, die dafür sorgen sollen, daß keiner der Sänger geblendet ist. “Ich? Ich hab ein Problem?” hör ich oben vom Rang. “D u hast ein Problem.” Nervosität eben doch, ganz klar, im Raum sind zwei Kameras fest in den drei vorderen Sitzreihen installiert, weil die Generalprobe mitgeschnitten werden soll. “Bitte im schwarzen Anzug, alle, morgen”, hatte Zagrosek gestern für die Aufnahme ausgegeben; “Dienstkleidung” ist für eine Generalprobe eher ungewöhnlich, jedenfalls, was die Orchestermusiker anbelangt.
Ich werde jetzt ein wenig durchs Haus streifen; mein Junge ist heute mit bei mir.

*******

Vor dem Großen Saal, Eingang Ränge links, sitzt Alma Mahler verhüllt und wartet auf ihren Krieger. Wiegand spricht sie an, sie reagiert aber nicht, auch nicht, als wir ihr das Gesicht öffnen. Aber dann. “Die ist ja richtig schwer!” Im Saal der Aufbau, im Kleinen Saal Probe.

16.07 Uhr:
Erst ein Anruf Ulf Werners: “Kannst du bitte noch mal mit Barainsky und Kirch sprechen, was du da eigentlich machst? Es gab eine Anfrage von der Agentur.” Also los und die honneurs machen… aber schon, am Abstieg von Gerüst, Zagrosek, ebenfalls ein Kind an der Hand: “Ah, Herbst! Kirch hätte gern noch etwas mehr über das Libretto gewußt… würden Sie das eben übernehmen?” Also in seine Garderobe, er wirkt etwas verschlafen, auch nervös, “jetzt schaff ich das nicht, ich hab grad noch zwanzig Minuten… aber morgen, könnten wir vielleicht morgen früh?” So verabreden wir uns für den Mittag. Keiner hat jetzt mehr den Kopf richtig frei. “Ich kenne meine Partie doch überhaupt erst seit gestern, und am Sonntag muß ich >>>> nach Paris weiter, Lied von der Erde” Mein Sohn streunt herum.
(Auch noch mit Wiegand über das Unbehagen gesprochen, das die Projektionen der sterbenden Tiere verursachen. “Es ist doch eigenartig”, sagte er, “schauen Sie sich doch das Libretto an. Das sind die reinen Höllenbilder. Wie kann man das ausklammern und dann von den Projektionen betroffen sein? Aber wenn ich jetzt Kriegsbilder zeigte, keiner regte sich auf, für alle wäre das ‘furchtbar, aber okay’.” Und er erzählt von den beiden einzigen Iszenierungen von Krieg, die ihn je beeindruckt hätten, die eine von Brooks, die andere von Sellars. “Bei Brooks zündete in jeder Vorstellung ein Schauspieler einen Schmetterling an. Jeden Abend gab es riesen Proteste….”

16.23 Uhr:
Noch sieben Minuten bis zur Generalprobe, langsam füllt sich das Gerüst mit den Musikern. Spannung.

 

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Orpheus Wieder durch Psyches Klugheit bewahrt. Und im letzten Jahr?
Eurydike Kurze Zeit, bevor du mich holtest, und ich nichts mehr wußte von dir und nur noch schwache Furcht vor Hades mich schreckte, da war ich betroffen von den gebrochenen Augen, der matten Stimme, als er im schwarzen Nachen zu mir steuerte. “Ich will dich freigeben” – und er lächelte bitter. “Durch deine Tugend hast du’s über mich gewonnen! Komm, ich will dich Orpheus zuführen!”
Orpheus zückt ein Messer. Weiter!
Eurydike Vor Dankbarkeit und weil ich sonst nichts hatte, lachte ich ob seinen Schmerzen, band meinen Schleier auf. “Was sollen die Fetzen der Nackten da? So bin ich schamlos! Deshalb lache ich. Du hast mich besiegt!” Da kamst du! Nun gehe ich, weil ich keinen Mut mehr habe. Der Boden unter mir, fern noch ruf ich ein Lebewohl dir und in die Wohnung der Schatten entfliehe ich, Schwester Psyche, zu dir.
Chor der Matrosen klettern in die Rahen, johlend: Ahoi! Ahoi! Ahoi! Ahoi! Wind! Wir fliegen! Amor zum Dank, da, sauf aus der Flasche! Gerettet! Gerettet!____________________
Libretto (7) © Gladys Krenek.

 

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16.33 Uhr: Ruhe. Ein Lachen noch. Geigenflirren. Ruhe. Wiegand zu Zagrosek, erste Reihe. 16.37 Uhr: Immer noch leise Diskussion, das Orchester probt wieder etwas lauter. Dann noch ein Gespräch mit dem Orchesterwart. Noch eine Verzögerung, Wiegand läuft dem Orchesterwart nach, aus dem Saal durch die Tür zur Hinterbühne. Wieder Ruhe. Die Harfe geht über ihre unentwegten beiden Töne… Produktionsleiterin zu Zagrosek, der hochkonzentriert in der ersten Reihe sitzt, den Kopf im Nacken. Zagrosek winkt den Bühnenaufseher herbei, der betritt das Podium. Lachen. Applaus. Aber er legt nur die Partitur und den Taktstock dort auf das Pult. Abermals leises Proben.

16.42 Uhr:
“So. Einen schönen guten Abend.” Er hebt die Hände…..

—— mit g a n z großem Ton! Szenenwechsel… “Etwas Böses hockt da auf der Schwelle!” Die Furien, “mit einem Auftrag vom Hades”. WEG MIT DEM LICHT! “Psyche braucht dunkle Nächte…” Thema, breit, sich besänftigend, säuselig fast eine Furie, säuselig dazu die Flöte… und >>>> Barainsky, jetzt, dreht a u f…. GEWITTER. Darunter steht das schwere niedergetretene Gras wieder auf. “Folg mir!” Hinab der Geier auf das Wild. Warum ist ihm denn, als ob er von Glück trunken wäre? “Ei, Unglück schenk ich dir” — Posaunen, schwer. Furientriumph. Und…… – AUS.

17.14 Uhr: Der zweite Akt. Die Pforte. Lasciate ogni speranza, e poi entrate: den Liebenden. Blutrot. Die Harfe. Die umgeworfenen Schatten. Orpheus versucht, die modrigen Nebel durchschreitend, Eurydike unter den Schatten zu erkennen, indem er von Gruppe zu Gruppe kommt. Einige versuchen ihm die Hände zu lecken, während andere die Knieenden an Händen und Füßen zerren, schadenfroh in eine Grube stoßen. Bettler mit Krücken verteilen Kehricht aus einem Sack, um welche sich faule Dicke zum Fressen anstellen, streiten. Irrsinnige versuchen die Wände hinaufzuklettern und gleiten ab. Mörder mit Dolchen springen auf seinen Schatten. Verliebte kriechen auf allen Vieren davon, wenn er naht, hängen wie ein Schwarm zusammen. Manche haben Tiergesichter oder Schwänze und Klauen. Kichern, Murmeln, gellendes Lachen aus dem Innern. “Schlag zu, Hades!” Kastagnetten, dammdammdamm: die Celli. Erhebung, die Geigen, “Levitation”. Psyche eilt dem Orpheus voraus, Erydike entgegen. Geste der Bässe: ins Herz. “Ach vergibt!”Bitte der Matrosen, ach, bring uns gut ans feste Land… Schon die Furien wieder, als ahnten sie das Verhängnis, als trieben sie’s vor sich her über die Wellen dem Schiff zu. Und >>>> Illmer: “Dir traun? Da grauste mir doch!” Mit diesem unfaßbaren Kultur-Ton, die Beine unter der Reling durch am Schiffsleib baumelnd. Allein, wie er “Weib” intoniert..! Kein Betrug, kein Betrug! Und dann, JETZT, diese wahnsinnsvierte Szene… das neurotisch herumgedrehte Frageverbot. WARUM? WARUM? WARUM? WO WARST DU? WO BIST DU GERADE? (Woran denkst du?) – “nur” ins Extrem gepeitscht…. “gepeitscht”? Nein, ruhige, wie wartende Musik. Noch ist es doch abzuwenden… theoretisch… “Und im vierten Jahr??!!!” —- Ahhhh! S e h r beeindruckend, sehr einleuchtend, wie sich nun rechts oben, aber in Schwarzweiß, das Giraffen-Motiv wiederholt! Und nun… ahhh, ja…. Alma Mahlers Kokoschka… Das bekommt jetzt eine innere zwingende Logik. “…ruf ich ein Lebewohl dir…” Unglück! Unglück!

17.49 Uhr:
“Sò bitte, meine Damen und Herren, ich muß eine Korrektur machen. Takt 45, das war so schnell, da komm ich einfach nicht mehr mit. Zweiter Akt, bitte Takt 46.” – “Gut. Kann ich bitte einfach nur die Bratschen und den Sänger haben? Bitte…” – “Gut! Ja! So ist es! – Können wir bitte alle zusammen machen jetzt, zwei Takte mehr, tutti.” “Was hast du, gieriger Orkus, meinen Schatten umgeworfen…” – “Sehr gut. Bitte ein Stelle noch. Es gibt eine Stelle, da haben Harfe und Hörner vielleicht etwas falsch notiert, Erster Akt 564, die Harfe hab ich nicht gehört.” Hornist: “Ich habe mich verzählt, Entschuldigung.” “Das war aber zweimal, das ist zweimal passiert, deshalb müssen wir das nochmal machen. Wir steigen ein Takt 556…” – “Schschsch! Bitte schön, 4/4…” – “Jetzt – ist – alles – falsch… 556 -” – “556? – Ahhhhhhh!” – “Nochmal, wir machen das nochmal.”
PAUSE.

18.31 Uhr: Ein Monitor ist ausgefallen, muß neu gerichtet werden. Wiegand läuft hinaus, Zagrosek steht vor der ersten Reihe, wartet, sieht hoch. Lehnt sich wie halbsitzend nach hinten an, wartet weiter. Jetzt hat Tye Thomas seinen Platz eingenommen. Wiegand: “Kann das so bleiben? Bitte… dann kommt Christian rein, dann Herr Zagrosek…” “Was ist da das Problem?” “Wir haben kein Bild hier…” “Ihr habt kein Bild da?” “Wir haben kein Bild hier.” Zagrosek: “Kasten, wir müssen die Generalprobe machen wie die Aufführung, das ist unumgänglich. – Arbeitslicht!” Weiterrichten des Monitors, die Musiker spielen verlegen hier was, da was… die Zeit überbrücken… an sich darf hier nichts mehr schiefgehen… geht aber schief. “Meine Frau ist ganz begeistert von dem Stück”, sagt mir einer der Musiker in der Kantine, einer derjenigen, der dem Projekt höchst skeptisch gegenüberstand. Er wirkt überzeugt. Gutes Gefühl. “Christian! Jetzt noch mal…. du gehst rein, kommst raus…. – Frank?” “Ja?” “Jetzt kann der Saal dunkel werden.. dann kommt der Schauspieler rein, Herr Zagrosek, bitte noch mal hinaus…. Christian! Nach diesem Lichtwechsel kommst du raus!” ALSO!

18.46 Uhr: Dritter Akt.
“So! Bitte!” Feuer. “Mit Feuer brechen wir die Löcher aus!” Der Ländler jetzt wie ein böses spätes Mahler-Scherzo. Der Chor. Brutale Klarheit einfordernd Immler: “Was geht hier vor?!” Der Geier fliegt wieder. Dazu, unter Immlers Baßbariton, das scherzande Stampfen des Orchesters. Da wird es leise, geht in ein surreales Schwirren, und Psyche beginnt. Choralartig der Sang unter ihrem Lamento. Schwere Wolken, hier wäre jetzt etwas projezierter Text sinnvoll. Gänge (Handkamerafahrt)… Vor dem Sturz…
“Ein Mörder macht ein Geständnis dem Winkel, wo das Blut herkommt, alles!” Eurydike, Pinter im Elektra-Ton, nimmt es auf, dreht es in die Klage, schon ist der Abgesang z uspüren: ob sie Haß sei, solche Liebe, dies Verlangen..? Geigen, die Harfe, Psyche: “Bist du so leise beiseitegeschlichen?” Geigen… Und Tanzschritt. Die Sonne wirft ihren unendlichen Schein über die schlafende Nacht ——————————————–

Die Sonne. Die Sonne auf tausenden Ebenen her.

Dunkel.

19.14 Uhr:
“Also wirklich, mein größtes Kompliment. Ich möchte mich vor allem auch bei den Sängern bedanken, die diese große Partie in allerkürzester Zeit gelernt haben. Und wie! Ich bin überzeugt, daß wir morgen eine ausgezeichnete Premiere bekommen werden. Trotzdem, in Takt 676 haben wir noch ein Problem, da müssen wir eben noch bei, sonst haben wir das morgen wieder. – Bitte sehr.”

“Gut, das läuft jetzt. Aber kann ich wohl die Posaunen noch einmal sprechen? Bitte einfach zu mir kommen. Alle anderen: Einen schönen Abend Ihnen und für morgen: toitoitoi.”

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(Nach wie vor das Problem, daß die Dirigenten-Projektion auf der Leinwand mit Verzögerung gezeigt wird… “das ist fast eine dreiviertel Sekunde!”

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