Der Bus fuhr auf den sich flußlängs streckenden Berggrat, dann in Serpentinen zum Ufer hinunter.

[Kapitel 4 bis 8 <<<< dort.]

Überm breiten lockenden Wasserstrom vibrierte Manhattan in der aufgewirbelten Wärme. Man konnte einen grünen Norden erkennen. Davor Midtown: erhabenes, gezacktes Profil. Schlank wuchs da das Empire State Building heraus. Dann das horizontale Relief wieder niedrig, fast flach; doch downtown im Süden stieg Manhattan abermals hoch an. Es ernüchterte nur, daß sich die Türme des World Trade Centers von ihren Ansichtskarten nicht unterschieden. Dafür, dachte Talisker, mußte niemand verreisen.
Hupen Gedränge Rushhour. Der Bus passierte den Stau vor der MautStation auf der rechten Fahrspur. Das Maul des LincolnTunnels. Unterm Hudson durch. Kurz fiel Licht in die Erinnerung: Karin Klärchen Tom. Der Tunnel oben durchbrochen, also der Fluß schon passiert. Seine Familie fehlte Talisker nicht. Welch ein unmoralischer Mensch ich bin. Er lächelte zufrieden. Es donnerte, und plötzlich hattest du einen umgebracht. So war das Leben.
Ein Gewirr von Fahrspuren Häuser schossen Bambus hinter aufeinandergekastelten Flachschuppen hoch. Silos. Spontan zog Talisker den Kopf ein: so knapp war das Fahrzeug um die Ecke gejagt. Auch die zwei Schwarzen machten einen erschrockenen Eindruck: stoisch verhielten ihre Hände den Ausdruck.
In einer Parkbucht der zweiten Etage kam der Bus zu stehen. New York City Port Authority Bus Terminal. Wie ein altes Parkhaus Beton viel Stahl. Bißchen Glas. Von Abgas rußschwarze Wände. Blaßrote blaßblaue Schrammen graustreifige Scharten an den Auffahrtwänden. Die Schwarzen stiegen aus. Die paar andren Passagiere stiegen aus. Talisker stieg aus. Wie weggepustet, so schnell verschwunden die Leute. Der Busfahrer tratschte mit einem Kollegen. Beide sahen mehrmals her. Verstohlen. Guckten schnell wieder weg.

Ich nahm Quartier im ALLADIN’S an der 45th Street. 80 $ verlangten die für ein Einzelzimmer der untersten Kategorie: 150 Mark beim jetzigen Tauschkurs. Das kam nicht infrage; ich mietete mich in ein VierBettZimmer des fünften Stockwerks ein. WC und Dusche auf dem Flur. Zwei Betten schon belegt. Ein seltsam süßer Fußschweißgeruch hing im Raum. Diesen verschloß ein vergittertes Fenster, das sich nicht öffnen ließ. Oder ich hatte keine Geduld, mußte mich, Taliskers wegen, beeilen. Ein entsetzlich langsamer Lift seilte mich ab. Ich kratzte im roten Teppichboden, der die Wände verkleidete. Würde ich den Mann noch erkennen? Einen solchen Gedanken hatte ich nicht zugelassen bisher; doch nun, so kurz vor unsrer Begegnung… – Auf die Straße. Den Zimmerschlüssel nahm ich mit.
Dreivier Stufen.
Es war nicht viel los draußen. Gegenüber standen in einer Schlange längs dem kleinen MusicalTheater Leute um Karten an. Baldachin überm Eingang. Gleich links von mir ein Restaurant, das Sushi anbot. Mein Blick auf eine ausgehängte Speisekarte wurde ohne Verzug zurückgeschlagen. Bloß gut, daß ich meine Kreditkarte hatte. Ohne die bist du hier aufgeschmissen.
Mir kam der Verkehr selbst auf den Avenues, die bis zur 14. Straße strikt von Nord nach Süden langen – die Streets verlaufen im rechten Winkel ostwestlich dazu -, geradezu zahm vor. Manhattan schien nicht im geringsten so quirlig, wie man ihm nachsagte, noch laut zu sein: Wer jemals in Neapel war, von afrikanischen, gar indischen Städten zu schweigen, konnte über die Mäßigung nur lachen, die der Reiseführer zum Anlaß für Warnungen nahm. Selbst hier in der Gegend des Busterminals, einem moderierten RotlichtViertel mit drei PeepShows und anderthalb PornoLäden, hielt man an jeder roten Ampel. Die Fußgänger, Gottseidank, taten‘s nicht. Egal, keine Zeit.

Es waren vom ALADDIN’S zur Port Authority drei Straßen. Drei Straßen in Manhattan bedeuteten drei Minuten. Fünf Minuten ging man von Avenue zu Avenue, von Block also zu Block. Obwohl in einen engen Glaskiosk gequetscht, war die dicke ServiceFrau des Busbahnhofs überaus freundlich. Dabei sah sie genau so aus wie die Ticketverkäuferin aus Newark. Wo hier der Bus von dort hielt, wußte sie allerdings nicht. Jedenfalls nicht so genau. Irgendwo hinten im Third Floor, sagte sie. Sie meinte die zweite Etage. Das Erdgeschoß wurde erstes Stockwerk genannt.
Wo ging‘s denn hoch?
Sie zeigte mit zwei Fingern: vorn an den Kuppen, aufgewölbt, rosafarbene kringelverzierte Kunstnägel. Ich blickte den imaginären Strahl entlang, in den Talisker auch schon hineinsprang. Er nämlich war das. Gar kein Zweifel. Dabei hatte er keine Spur Ähnlichkeit mit Hugh Grant. Sah eher wie Ben Becker aus. Wirkte um einiges jünger, als ich mir ausgedacht hatte. Voller Elan war der pickelige Leptosom von den oberen Parkdecks herabgetreppt, ließ nun seinen Koffer zu Boden und fuhr die Haltestangen aus. Nicht für einen Moment wirkte er unsicher. Einer, den seine fixe Idee bis in den Traum verfolgte, und er sie in die Realität, hätte fahriger sein müssen. Er verließ den Terminal gegen die 8th Avenue. Schlüpfte an Straßenhändlern und Taxifahrern vorbei, viel flinker als ich. Hielt sich rechts. Zog den rollenden, rumpelnden Koffer die ganze Straße lang hinter sich her.
Links hinten drängte sich das Empire State Building über die wie in Terrassen angelegten Haus- und Hochhausdächer, unter denen der rote, verwaschene Backstein zur Straße hinabfiel. Plakate in Hauswandgröße an die Hänge geschlagen. Der Virtualwelt Hinweisschilder ließen durch Tausende Fenster blicken. Man wußte nicht, ob heraus ob hinein. Leute schlurften mir in vertragenen Reeboks entgegen. Graublass Beton, ragend lieblos roh, Gitter und wieder Plakate. Die Häuser sahen aus, als wäre gepreßter Pappeabfall aufeinandergetürmt. Einmal blieb Talisker stehen, um sich Ansichtskarten anzusehen. Ich ging unauffällig vorbei und wartete an der Ecke West 38th. Er spielte mit dem Gedanken… Nein, das täte er n i c h t! Er steckte die Karten wieder zurück in den Ständer.
Gleich hinter dem Reifenrund von Madison Square Garden bog er links in die 31st. Er schien zu wissen, wohin er wollte. Die kahle Straße voller Müllbeutel. Aufgeplatzt Schutt rausgesucht Eßbares. Penner schliefen am Boden, hockten am Boden. Saßen auf dem treppenartigen Anstieg eines türlosen Blocks. Zwei Cops, enorm wichtig, kontrollierten sie. Gemurre. Doch aufzubegehren, traute sich keiner. Es waren, so kam es mir vor, noch dieselben Polizisten wie vorhin. Hatten die Regel der 48 Stunden in Anspruch genommen: Erst nach Verstreichen dieser Frist war Vorgesetzten Rede und Antwort zu stehen.

Zwischen paar schwarzgeballten Wolken brannte die Sonne herunter. Ich hatte Talisker plötzlich verloren. Ziemlich dumm stand ich da. Wartete. Und spähte. Hatte er mich am Terminal bemerkt und kurzerhand abgehängt? Ich war bloß eine Sekunde unaufmerksam gewesen. Die Augen dieser jungen schwarzen Frau hatten mich eingefangen, die aus einer riesigen Gap-Khakis-Affiche von hoch weit oben über mich und die Metropole schauten: Welch seelenvoller Blick! Reiß dich zusammen! Es ist ein P l a k a t! – Als ich aus meiner Konfusion herausfand, war Talisker weggewesen.
Und es ließ mich nicht konzentriert nach ihm schauen. Denn die hochgewachsene, rätselhafte Dame, die mich eben passierte, sah genau aus wie die affichierte Frau. Überdies war ich gestreift worden… nicht nur vom Blick, sondern ihren Händen. Sie blieb, allerdings schräg abgewandt, stehen, das rechte Knie leicht angehoben, so daß sie auf den Oberschenkel ihre Handtasche stützen konnte, über die sie sich beugte. Sie kramte darin. Ich überlegte, ob ich sie ansprechen sollte. Etwas zu überlegen ist in einer solchen Situation nicht gut. Das ohrenreißende Sirenen eines rotglänzenden Feuerwehrwagens, sein hellweißes Dach. Kam näher. Silbern blitzend die Leiter drauf. Jemand dauerhupte. Was war denn plötzlich los?! Ich mich kopflos umgedreht. Wieder zurückgedreht. Und auch die Frau verschwunden. Aber nein doch! Da saß sie ja! War eine Obdachlose auch. Sah mich an, nickte. Das war genau der Blick. Bestürzt sah ich zu dem Plakat hoch, sah wieder runter. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Ich zog einen Packen Eindollarnoten aus der Hosentasche, schritt auf die Frau zu. Der Feuerwehrwagen raste vorbei, Rasen im Ohr, ein nächster Feuerwehrwagen sirente. Man hätte schreien müssen, um verstanden zu werden. Ich reichte stumm zwei Dollar hinunter. Sie nahm sie entgegen. Das linke Auge blaugeschlagen. Sie sagte was, ich verstand nichts. Dann war die Feuerwehr in die 8th Avenue gebogen. „Was haben Sie gesagt?“ „Ob du ficken willst, Bruder.“ Sie knautschte die Geldnoten in ihren aufgeplusterten Kunstfellparka. Furchtbar schlechte Zähne. Ich wandte mich ab.

Bis zur 7th Avenue war’s noch ein Stückchen. Hier hätte Talisker nirgends hineingekonnt, nur rechts gab’s Einfahrten für den Lieferverkehr. Die aber zugesperrt waren. Erst jenseits der Kreuzung in den hohen Häusern unten wieder Läden kleine Bürolokale. Richtig Betrieb war auch das nicht. Wie Ferien. Hin und wieder ein PKW. War er das da drüben vielleicht? Jemand hatte seinen Kopf tief in den PlexiglasWindschutz des öffentlichen Telefons gesteckt. Nein, war er nicht. Ich erreichte die Avenue. Sollte ich hinter meinem Fantasma herrennen? Weit konnt es nicht sein, ich traf es schon wieder. Zusammengeknäulte Touristenpulks Penn Plaza Drive. Madison Square Garden: die breiten Treppen eines dem Pop und dem Boxen geweihten Sakralbaus. Auch hinab führten Stufen, also zu der B-Ebene, seitlich Rolltreppen, endlich strömten mal Menschen. Abermals Feuerwehrwagen. Blutrot jagten die von Norden die Avenue downtown hinab, ihr Heulen schreiend aufgedreht, es gab eine Stauung anderer Wagen, nächste Sirenen. New Yorker Hilfs- und Überfallkommandos konkurrierten um immer neue Signalhornsequenzen, individuell von Auto zu Auto, zeitgenössische Pferde.
Jemand sprühte aus einem Wasserschlauch den Schmutz vor seinem Laden vom Gehsteig. Dampf stieg aus den Gullis. Der stammte aus lecken Heizungsrohren, roch brenzlig. Überhitzte Trafos hatten diesen Geruch. Oft faserte das auch aus Hauswänden raus flatterte unter Dachvorsprüngen. Intensiv wischte einer Hörer und Sprechmuschel des öffentlichen Telefons mit seinem Taschentuch ab, steckte erst dann in den Münzschlitz die Münze. Überhaupt war die Gegend mit Telefonen gesprenkelt; alle paar Meter eine weitere Installation. Der Windschutz bisweilen auf parkuhrähnlichen Stangen. Wer nichts zu essen hatte, sollte doch kommunizieren: Matritz des kapitalistischen Handels. We make the Taj Mahal look like a nut shell. Mochte sein, daß der Gigantomanismus den Mythos ersetzte, den der Protestantismus verweigerte. Plötzlich verstand ich den Jazz: Er füllte dieses Vakuum. Die Rhythmen strömten in mich ein, als wären die Straßen musikgeflutet. Trugen die meisten Leute nicht Walkmen? New Yorker nehmen ihren Verkehr durch Kopfhörer wahr, hier glitt jeder Spaziergang durch Filme. Und Schwarze hatten einen wippend synkopischen Gang. Wir Weißen hasteten, sofern wir nicht schlurften. Uns ging’s ums Überwinden von Strecke.
Die öden alten, sehr breiten Automobile: eingerostet verbeult. Abgerissene Leute wie in Berlin, verknorkelte braune Papiertüten in den Armen, aus denen sie irgendwelchen Nahrungsmüll in sich einstopften. Runtergekommen, uralte Jeans. Links und rechts EdelDesigner. Wer aber trug das Zeug? Kleine Schneidereien Pelzgeschäfte Läden für Knöpfe Lederwaren Garment Distrikt. 6th Avenue und BaseballMützen. Weite knautschige Hosen Mäntel aus den Vierzigern. Die Gesichter marmorgrau. Noch vom Winter, der hierorts ziemlich mitleidlos ist.
Allmählich bezog sich der Himmel; so eng standen die Hochhäuser nicht, daß man ihn aus dem Gesichtsfeld verlor. Eine diesig luftfeuchte Schicht schob sich zwischen ihn und Manhattan, drückte dann in Manhattan hinein. Gelegentlich fielen schon Tropfen. Doch blieb es noch heiß. Ich hatte den Broadway erreicht, eine Lebensader der Stadt, die von ganz unten downtown, und dort mit einem West Broadway genannten Parallel- und Nebenfluß versehen, bis weit nördlich hinein in die Bronx reicht. Hier hieß die Straße anders, hieß Corean Broadway, nach ihren Bewohnern. Die Gebäudezeilen nicht mehr so hoch, bizarre Wasserbehälter auf Dächern insektenartige Wächter: ihre eigenwillig schwarzen Beinchen teils weberknechtig geknickt, teils stakig langgestreckt; manche auf Podesten. Das Straßenschild weiß über blau koreanische Lettern.
Touristen drängten sich vom Times Square her. Sie hatten Zeit. New Yorker waren am schnellen Schritt zu erkennen; die hatten, statt zu gucken, zu tun. Nach einer Woche schaute sowieso keiner mehr hoch. Werbezettelchen CLAIRVOYANT Chiropraktiker Fußspezialisten. Nicht selten Herren im Anzug, an den Füßen aber trugen sie Turnschuh. Juden in Schwarz, weiß nur das Hemd, über der Kipa den Hut. Die Männer unterhielten sich nicht. Sie standen da und sannen. Einer hatte sich die Schläfenlocken hinters Ohr gestrichen. Wie viele Wahrsager es gab! Jugendliche Latinos, auch sie einen Gang aus lauter Synkopen Gewippe Musik in den Hüften. Und zum vierten oder schon fünften Mal ein Verrückter. Schritt forsch aus, hielt sein laut rezitiertes Selbstgespräch, blieb stehen, nickte, sprach sich selbst etwas zu und warf den Kopf in den Nacken. Schritt weiter, zehn Meter, zwanzig Meter, blieb abermals stehen. Nickte erneut. Schüttelte eines Jemandes Hand, der nicht da war. Lachte. Warf den Kopf in den Nacken. So den gesamten Block entlang. Bis er rechts abbog. Man drückte mir einen Zettel in die Hand. Werbung für ein StripLokal. LEGZ DIAMOND’S. Blickte die Frau von dem Plakat mich daraus an? Hatte sie mir den Zettel zuspielen lassen? Momentlang erkannte ich sie, doch schmolz die Kontur unvermittelt ins Gesicht einer brünetten Jasmin St. Clair, die den Besuch ganz sicher ebenso verdiente.


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ANH, In New York, Titelseite <<<<
Alban Nikolai Herbst, In New York, Manhattan Roman.]