Jugendstilverzierungen um das Portal, droben die Gipsfigur eines geflügelten Kleinkinds. In den Zwanzigern hatte das Engelchen einem Magazin namens LIFE als Symbol unbeschadet humoresker Familienwerte gedient. Redaktion und Zeitung waren mittlerweile Legende. Rätselhaft blickte das Puttchen nun auf mich, den getreppten Doorway und die Koffer einer japanischen Reisegruppe hinunter, die seltsam still bei ihren Besitztümern stand, welche jedermanns Passage auf dem Gehsteig versperrten. Vielleicht erwarteten die Leute ihren Bus. Taxis hielten sie jedenfalls keine an. Immer wieder drängelte und drängte sich jemand durch sie durch. Ganz ohne Rempeleien ging das nicht ab. Ein paar aspirante oder bereits gelistete Hotelgäste hüpften die eleganten Treppen hinauf, andere hüpften herab, tauchten zwischen den Japanern unter und durch diese im Verkehrsfluß davon. Ich war mir sicher, daß Talisker, den frechen winkenden Halbgott bemerkend, sich dieser Drohung hätte nicht entziehen können.
Neben der Sprechöffnung des Glaskäfigs lag auf der Konsole eine hektografierte Broschüre, die über das Gebäude und seine Geschichte informierte. LIFE LOST AND FOUND. Das paßte nun besonders. Ich fragte auf gut Glück, ob Mr. Talisker schon eingetroffen sei. 60 $, las ich, koste ein Zimmer. Die junge weiße Frau in der verglasten Rezeption tat so, als verstünde sie mich nicht. Überhaupt hatte sie etwas Widerstrebendes. Ich ließ mich nicht abwimmeln. Die Missy tippte, sah auf. „Talisker, sagen Sie?“ „Talisker, ja“: ich buchstabierte. Sie tippte Letter für Letter ins Keyboard. Endlich fand sie den Namen auf dem ComputerScreen. Der Mann hatte tatsächlich vorgebucht. Doch es tue ihr, falscher Stimmton, überaus leid: Noch sei der Gast nicht eingetroffen. Ob ich eine Nachricht hinterlassen wolle? Sie lächelte häßlich asexuell. „Oh, das wäre freundlich! Haben Sie einen Briefumschlag? Und den Rotstift da..!“ Ich kritzelte oben auf LEGZ DIAMOND’S: 9.30 p.m. und kringelte es ein. Sollte ich unterschreiben? Aber wie? Mein Name hätte ihm sowieso nichts gesagt. Ich kritzelte den ersten hin, der mir einfiel: Meissen. Gottfried Meissen, das hatte was. Die Missy machte einen langen Hals; ich ließ sie einen Blick auf den Pornostar werfen. Sie rümpfte die Seele. Dabei zeigte Mrs. St. Clair nur ihr Gesicht. Ich schob den Handzettel ins Couvert, leckte die Gummierung und adressierte die Einladung mit Mr. Wilfried Talisker. Den Abschiedsblick der Missy kommentiere ich nicht.
Talisker kam, als ich bereits vor MACY’S stand. Er war in Gedanken in die 6th Avenue gebogen, hatte sich kurz im lebhaften Dreieck des Greeley Squares verirrt, aber gelassen ein paar Sushi genommen und dabei seine Visacard ausprobiert. Nun überraschte ihn meine Nachricht. Man war über seine Ankunft also informiert. Man wollte ihn treffen. Aber weshalb in solch einem Etablissement? Nachdem er in dem engen Lift hochgefahren war, beschloß er, von heute an zu rauchen. Die Vorstellung machte ihm Freude.
Erst nach mehreren DurchstreifVersuchen ließ sich die Tür seines Zimmers vermittels der Magnetkarte öffnen. Talisker tat einen Schritt und war drinnen, der nächste Schritt hätte ihn ins Bett befördert. Die Zimmerfrau war da. Sie saß auf den katastrophalen Spuren der vergangenen Nacht und televisionierte. Das monströse Fernsehgerät hielt zwei Fünftel des Raumes besetzt. Zwei weitere Fünftel brauchte ein so fantastischer Safe, daß Talisker noch wochenlang von ihm träumte. In den Rest teilten sich Bett, die Miniatur eines Kleiderschrankes und die drei Haken dran. Dessen Tür ließ sich nicht zur Gänze öffnen, weil das Gestell des Bettes im Weg war. Hätte man es links an die Wand geschoben, wäre für den Koffer kein Platz mehr gewesen. Es war dunkel, denn eine Klimaanlage verschloß wuchtig Fenster und Scheiben. Die Zimmerfrau, emphatisch in die Sitcom atmend, hielt eine Sagrotanflasche rechts. Talisker mußte hüsteln, um sich bemerkbar zu machen. Erschrocken fuhr die Frau herum. Ihre Augen verrieten die Russin. Sie rrrrollte: „Sorry sorry!“ „Soll ich mir ein anderes Zimmer nehmen?“ Sie verstand nicht, sprach nicht, starrte nur weiter. „Entschuldigung, ich habe dieses Zimmer gem i e t e t.“ Das ließ die Kopeke fallen. Sie fiel auf den Boden und rollte davon. Die Russin hinterdrein. Durch die offene Tür, die fiel zu, auf den Flur. Talisker setzte sich aufs Bett, vermied aber Berührung der zwei postsowjetischen Dellen. Er schaltete den Fernseher aus. Eisig wehte die Klimaanlage. Hoffentlich waren wenigstens Handtücher da. Waren sie. Er telefonierte mit der Rezeption, beschwerte sich. Nein, nicht j e t z t das Zimmer machen, will erst mal duschen. Aber lassen Sie mir eine Schachtel Marlboro bringen. Dann suchte er auf dem Stadtplan die 54th Street. Der Club mochte nicht mehr als 30 Gehminuten von hier entfernt sein. So hatte es bis halb zehn keine Eile.
MACY’S galt als das größte Kaufhaus schlechthin. Mittlerweile wollte man, à la Bloomingdale’s, den gehobenen Lebensstil der Upper East Side locken. Überall Baustellen hier in Höhe 34th Geschmetter und Krachen halb Manhattan im Abriß. Moralisch war die Stadt schon gereinigt, nun wurde der Tisch auch architektonisch gewischt. Man sanierte die Halbwelt, repräsentativ die Straßen poliert. Eine Putzkolonne von Mickey Mäusen war in den Times Square gefahren wie der Prophet in die Säue. Das hatte New York christianisierend desinfiziert. Allen Dreck an den Stadtrand kippen: So hatten sie es vor Jahren mit der Upper West Side gemacht. Heute bekriegte den Capulet der Montague nur in der Oper. Das Lincoln Center mit Met New York State Opera Avery Fisher Hall war nicht eigentlich häßlich. Doch hätte es auch in Bremen stehen können. Zunehmend vergingen die Städte in planster Äquivalenz. Tourismusbranchler fanden das toll, Immobilienmakler auch. Und die frittenmampfenden Teenies bei RIESE’S, die noch weder zu jenen noch diesen gehörten, kannten etwas anderes nicht. Die begrüßten sowieso, was geschieht. Wer kalkuliert, will Norm. Geschichten aber gediehen nur, wo es Leidenschaften gibt: Haß Liebe Tod. Wo nach Lust, nicht nach Gewinnen gehandelt wurde und nicht ständig mit Präservativen gevögelt. Niemals war das Leben safe. Und deshalb: Da! Sieh genau hin! Flog da oben nicht wer zwischen den blauen hochgestreckt-engen Scheiben, schoß aus dem Himmel, Looping, um die Ecke gerast… und schon fort??! Eine Täuschung? Bist du dir sicher? – Man stieß mich: Geh weiter! Keine Zeit! Keine Zeit!
Ich stolperte und stand noch immer vor MACY’S.
Dann war Dunkelheit über Manhattan gefallen. Die Straßen wurden nun n o c h ruhiger. Nach neun/halb zehn starben die Geschäftsschluchten aus. Die studentischen Kneipenviertel im East Village nicht. Doch auch vor denen hatte die prüde Quality of Life Campaign Bürgermeister Giulianis nicht Halt gemacht. Der Puritanismus erzog zur Verdrängung: auf der sitzt als Deckel immer ein Mord. Das City Counsil stritt sich um den verderblichen Einfluß öffentlicher Pissoirs; alljährlich wurden Anträge vorgelegt, das letzte abzureißen, das es, im Central Park, noch gab. Für so groß galt urinale Zersetzungs- und Entgrenzungskraft. Selbstverständlich war Alkoholgenuß reglementiert; im Freien strengste Prohibition. Nur in Bars und lizenzierten Restaurants bekam man ein Bier. Nirgends Enthemmung, und dort, wo Broadway und 7th Avenue zeitlang ineinanderflossen, war sie, allerdings hinreißend, Show: Lichtspiel auf den Hängen der Wolkenkratzer, die man für titanische Projektionswände nahm. Den angrenzenden Bezirken waren die Pulse abgesaugt: sie pochten bloß hier, wo aus jedem Dunkel Lichter barsten: zerpaffende, sich zersplitternde Lockungen, die sich bei hellem Bewußtsein verkriechen mußten. Sie wurden im Theaterdunkel der Kinos geläutert, wenn sich die Moralität nach vorne zentrierte. Das Wesen New Yorks war die Leinwand, Fassade der Film, der drauf läuft. Eine unsagbar herrliche Blendung. Konsum war mythisch geworden, alle Werbung Sakralkunst. Schon weil es keine strikten Ladenschlußgesetze gab und die Geschäfte, die die Nachtzentren flankierten, rund um die Uhr geöffnet hatten. Aber h i n t e r der Leinwand war nichts als Wand. Ich mußte den paar Straßen nur meinen Rücken kehren, und aller Glamour verbröselte. Wo noch Feuchtigkeit blieb, gärte Schattengetier: augenlose Lurche versteckte Prostitution Gummiknüppel schlechtes matschiges Essen. Agonie und Aggressionen aus Angst.
Ich schritt gegen den Strom der Touristenzüge durch Gefunkel und Blaschen Aufjaulen Kreischen. Rufe und Hupen Sirenen auf uns niedersehende Riesengesichter: Nasen männergroß und ganze Dachfirste überrauschende Kleidersäume. Ein TarzanPlagiat schwang sich lächerlich bunt über den Eingang eines Lichtspielhauses in der Größe dieses Lichtspielhauses selbst. HotDogWägelchen. Auf Wägelchen rauchende halbverbrannte BarbecueSpieße. Vorm MARRIOTTGlitzerMARGQUIS spielte jemand Saxophon, paar Meter weiter trommelten Schwarze die Leute zusammen. Ein Mann hatte sich einen lebenden Python um die Schulter gelegt, paßte die Schlange Touristen an; so ließen die sich fotografieren. Einem Delta ähnlich, in dem der Times Square über die Ufer trat, schob er ganze Pulks von Japanern, aus Broadway, 7th Avenue und 42nd Street zusammengeschwemmt, in den Duffy Square: Das Plätzchen ein kleiner Meeresbusen zu den Wellenfüßen der modernen Gebäude und Palazzi einer frühen Moderne, welche die letzte architekonische Erinnerung an goldobskure Vergangenheit trug. Tags standen auf der verkehrsumspülten Insel stundenlange Menschenschlangen vor der kleinen Baracke der TKTS um verbilligte Karten an. Man verschwand da unter den Megahotels und flirrenden Leuchtreklamen und einem seinerseits geduckten Holzkutter, der unter orangenfarben aufgespanntem Segel zwischen den Großbaustellen und Illuminationen durch die Farbgischt stampfte. Einkaufstüten lockender blitzender Elektrokrempel Fotoapparate Computer. Ein fetter massedichter Autoverkehr; Busse, die sich zentimeterweise voranrückten, die sich schmal machen mußten und das auch schafften. Etwas nördlicher blühten die Raubkopien: Videos Drehbücher Musikcassetten. Gelbe Fluten aus Taxen durchschwammen die touristischen Heringsschwärme wie Zitronenströme unter Schütten aus Kunstlicht. Hier hatten sich noch vor paar Jahren die Stripschuppen gereiht, und in den Hosentaschen klangen, so hieß es, Schlagringe, derweil sich an den Briefchen Schnappmesser rieben. Doch mittlerweile leuchtete das alte Böse Gewissen der Stadt wie eine Inszenierung nach Andrew Lloyd Webber. Von hoch auf blauem Grund hinab PRUDENTIALs weißer Werbefelsen. Nichts schlug gegen ihn an als der künstliche Sternenhagel, durch den sich die kleine Arche Noah kämpfte: plakateweit aufgewühlt See. Riesenaffichen Votive: shoppend beichten. Moralität fand beim Kaufen zu sich. Hier ließ die Legende sich greifen, verglühte und rann durch die Finger wie Hörensagen. Optisch hatte sie freilich Substanz und spottete ihrer Domestizierung. Im Kunstlicht tanzten Abenteuer Verzückung, als hätte nicht der Markt das Begehren im Griff, als gäbe es noch einen Wildwuchs der Seelen und kreative Aggressionen seien nicht zur Produktionsbedingung coupiert: überschwengliche Hypomanie, die jeden Verkäufer zum Freund werden ließ. Prediger standen herum und predigten. Abmontiert aber der Marlboro man, keine Rauchkringel aus Heizungsdampf entwehten den Wülsten von Lippen, statt dessen funkelte
hochzeitsweiß mit, andere mafiaschwarz, manche topless. Die Chassis glänzten poliert. Kleine Südinder, in Konfirmationsanzüge gesteckt, saßen hinterm elfenbeinenen Volant. Die Schwarzen trommelten immer erregter, und unter der Glasüberdachung quollen aus dem Eingangschlauch des Hotels Leute in Abendgarderobe, die Frauen geputzt wie Kinostars. Sie präsentierten der Gesellschaft ihre tennisweißen Töchter. Es roch nach gebrannten Mandeln. Nach Kokosstückchen Paranüssen. Die Autowasser sprudelten oder schoben sich von Norden südwärts parallel mit dem andren Fluten des Hudsons gen Atlantik, bis aus dem Viertel hinaus spülten sie Touristenköpfe mit, und Busse, und Lufballons, und Leute auf Stelzen. Dann die Frau mit Bullerbacken Borstenschnurrbart; sogar die Kiefern noch gebläht, ganz empört, als wäre Empörung das Wasser, in dem die Kiemen atmeten. Überhaupt die Gesichter! Verstört oft, voller Blessuren, Spuren der Ehehölle Elternhölle. Als hätte man diese Menschen unentwegt verprügelt. Das mochte wohl so sein. Über der feinen Gesellschaft lief die unentwegte NYSE-Reihe aus Achtelkursen Siebtelkursen am oben vorgeschobenen Sims. Das PARAMOUNTBuilding, worin die Chase Bank residierte, schmückte die goldene Uhr im goldenen Eingang und ganz oben, auf dem sich spitzenden Dach, der berühmte goldene Apfel vorm spätabendlichen Violettblau eines Himmels, über den flimmernde Lichtarme huschten.
[>>>> weiter, Kapitel 19 & 20.
ANH, In New York, Titelseite <<<<
Alban Nikolai Herbst, In New York, Manhattan Roman.]